Dossier

Holocaust und Erinnern in der Sowjetunion und Russland

Anne Frank, die Bahnwaggons, in denen Juden deportiert wurden, oder Auschwitz: Es sind vor allem Erinnerungsikonen der Verfolgung und Vernichtung in Westeuropa und im deutsch besetzten Polen, die bis heute die populäre Wahrnehmung des Holocaust prägen.

Dagegen sind die hundertausendfachen Morde an Jüdinnen und Juden auf den von Deutschland und seinen Verbündeten besetzten Gebieten der Sowjetunion weit weniger bekannt. Sie wurden meist auf freiem Feld begangen und haben in der weltweiten Wahrnehmung des Holocaust bislang noch keinen festen Platz gefunden – außerhalb der historischen Forschung wird der Holocaust nach wie vor vor allem den mit Ghettos und Lagern assoziiert, in denen die Juden Westeuropas und Polens umgebracht wurden. Auch im allgemeinen Geschichtsbewusstsein Deutschlands und Russlands ist der Mord an den Juden auf dem Gebiet der Sowjetunion und den von ihr annektierten Gebieten bis heute kaum präsent.

Warum ist das so? Was charakterisierte die Massenmorde an den ostpolnischen und sowjetischen Juden überhaupt und wer fiel ihnen zum Opfer? Wer waren die Täter? Wie wurde in der Sowjetunion der Mord an den Juden aus dem Baltikum, der Ukraine, aus Belarus, Moldawien und Russland thematisiert? Und welche Rolle spielt die Erinnerung an den Holocaust im heutigen Russland?

Diesen und anderen Fragen widmet sich das zweisprachige dekoder-Dossier, das Beiträge russischer und deutscher Wissenschaftler:innen und Journalist:innen versammelt: Texte zum Holocaust auf den von Deutschland besetzten Gebieten der Sowjetunion sowie Texte zur Holocausterinnerung in Deutschland und Russland.

Das Dossier wurde unterstützt durch die Gemeinsame Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen und gefördert aus den Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Es entsteht in Kooperation mit dem Zentrum für die Geschichte des Holocaust und der Völkermorde an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau.

 

Inhalte

Gnose Belarus

Maly Trostenez

Sie war der größte Tatort nationalsozialistischen Mordens in den von Deutschen besetzten Gebieten der Sowjetunion: die NS-Vernichtungsstätte Maly Trostenez in Belarus. Zehntausende Jüdinnen und Juden wurden dort ermordet. Ihren Ausgangspunkt nahm die organisierte Massengewalt vor 80 Jahren im Minsker Ghetto.

Gnose

Erinnerung an den Holocaust im heutigen Russland

Zahlreiche sowjetische Juden fielen dem Holocaust zum Opfer. Soldaten der Roten Armee zählten zu den ersten, die das Grauen der Konzentrationslager dokumentierten. Dennoch spielte der Holocaust nach 1945 keine Rolle in der sowjetischen Kriegserinnerung. Im heutigen Russland ist der Umgang mit dem Holocaust vom sowjetischen Erbe, aber auch von aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen geprägt. Eine Gnose von Ilja Altman.

Gnose

Der Holocaust in der Sowjetunion und den von ihr annektierten Gebieten

Der 27. Januar ist der Internationale Holocaustgedenktag. Etwa sechs Millionen Juden wurden während des Holocaust umgebracht, davon etwa drei Millionen in Polen, viele von ihnen in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern. Die systematische Ermordung der europäischen Juden begann jedoch schon mit dem Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges im Juni 1941. Eine Gnose von Dieter Pohl.

Dieses Dossier wird gefördert von

 

 

 

 

 

 

 

 

Es entsteht mit Unterstützung der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen

 

 

 

 

 

 

 

Gnosen
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Der Holocaust in der Sowjetunion und den von ihr annektierten Gebieten

Etwa sechs Millionen Juden fielen dem Holocaust zum Opfer, die überwiegende Mehrheit in Osteuropa. Rund drei Millionen von ihnen hatten zuvor in Polen gelebt und auch die deutschen Vernichtungslager, bis heute weltweites Symbol des nationalsozialistischen Völkermords, befanden sich auf polnischem Boden. Doch nicht nur das polnische Judentum wurde fast vollständig ausgelöscht: Auch auf dem Gebiet der Sowjetunion ermordeten deutsche Einheiten unter Mithilfe einheimischer Hilfskräfte Millionen Menschen. Nur wenige kamen in die Vernichtungslager in Polen, die Juden aus der Ukraine und dem Baltikum, aus Belarus, Russland und Moldawien wurden meist Opfer von Massenerschießungen. Obwohl etwa einem Drittel der sowjetischen Juden die Evakuierung gelungen war, gab es gerade in jenen Gebieten, die erst 1939/1940 von der Sowjetunion annektiert worden waren, kaum eine Chance auf Untertauchen und Überleben.

 

Minsk 1941 (Farbfoto) / Foto © Bundesarchiv, N 1576 Bild-006/Herrmann, Ernst, CC-BY-SA 3.0

Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs lebten in der Sowjetunion etwa 2,8 Millionen Juden. Ihre Gemeindestrukturen und politischen Organisationen waren durch die sowjetische Herrschaft der vergangenen 20 Jahre zerschlagen worden. Ein vielseitiges jüdisches Leben wie im Zarenreich oder in den ersten Jahren der Sowjetunion existierte nicht mehr und Judentum wurde nun als Nationalität definiert. Mit den sowjetischen Annexionen Ostpolens (1939) sowie Bessarabiens und des Baltikums (1940) wuchs die jüdische Bevölkerung um etwa 1,6 Millionen Menschen, hinzu kamen etwa 200.000 Flüchtlinge aus den deutsch besetzten Gebieten.1 Somit hatten die Gruppen, die man gemeinhin als „sowjetische“ Juden bezeichnet, recht unterschiedliche soziale, politische und kulturelle Charakteristika.

Die deutsche Invasion in der Sowjetunion 1941/42 erstreckte sich schließlich über Gebiete, in denen etwa 4,1 Millionen Juden lebten. Allerdings entging ein erheblicher Teil von ihnen der Besatzung. Denn während Ostpolen und Litauen innerhalb weniger Tage von der Wehrmacht überrannt wurden, blieb in den weiter östlich gelegenen Gebieten Zeit, um Teile der Bevölkerung zu evakuieren. Dies betraf vor allem Fachpersonal samt Familien, darunter auch zahlreiche Juden. Zudem wurde ein Teil der jüdischen Männer zur Roten Armee eingezogen. Allerdings hatten es die sowjetischen Stellen während der Zeit des Hitler-Stalin-Pakts bis Juni 1941 unterlassen, die jüdische Bevölkerungsgruppe über die Verfolgungen unter deutscher Herrschaft zu unterrichten. Fast alle der etwa 2,5 bis 2,6 Millionen Juden, die in den westlichen Gebieten der Sowjetunion zurückgeblieben waren, fanden während der deutschen Besatzung den Tod.2

Die Eskalation des Holocaust

Mit dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann auch der systematische Mord an den Juden Europas. Zwar hatten Sicherheitspolizei und einzelne Einheiten der Wehrmacht bereits nach dem Krieg gegen Polen Massenerschießungen an Polen und Juden vorgenommen und zehntausende Juden waren dort in Lagern und Ghettos umgekommen. Doch für den Krieg gegen die Sowjetunion waren noch weit größere Verbrechen geplant. Bevölkerung und Kriegsgefangene sollten dort nicht nur völlig entrechtet werden – bestimmte Personengruppen sollten direkt ermordet werden. Dieser deutsche Vernichtungskrieg richtete sich nicht nur gegen alle Juden, sondern auch gegen die sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen mindestens 2,5 Millionen verhungerten oder erschossen wurden, Roma, Patienten psychiatrischer Anstalten, kommunistische Funktionäre und die Bevölkerung in den Partisanengebieten, wo Hunderttausende ihr Leben bei angeblichen „Vergeltungsaktionen“ verloren. Das genaue Ausmaß dieser Mordbefehle lässt sich heute nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Sicher ist jedoch, dass im Zuge des Kampfes gegen den vorgeblichen „jüdischen Bolschewismus“ Angehörige der sowjetischen Eliten in Kommunistischer Partei und Staatsapparat, insbesondere alle Juden unter ihnen, direkt nach dem Einmarsch getötet werden sollten, ebenso wie gefangene Politoffiziere und jüdische Soldaten der Roten Armee. Darüber hinaus war geplant, große Teile der Bevölkerung von der Nahrungsmittelversorgung abzuschneiden und verhungern zu lassen. Schließlich ergingen auch besondere Befehle gegen die jüdische Bevölkerung, insbesondere jüdische Männer im wehrfähigen Alter sollten ermordet werden.3

Jüdische Rotarmisten in deutscher Gefangenschaft, 1942 (Farbfoto) / Foto © PIXPAST.com

Bereits wenige Tage nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion begannen deutsche Einheiten mit ihren Mordaktionen, so am 23. Juni 1941 im westukrainischen Sokal, dann am 24. Juni in der Stadt Garsden (Gargždai) im westlichen Litauen. Während der ersten Wochen des Krieges deklarierten die Besatzer diese Mordaktionen als Vergeltung für angebliche Vergehen von Juden, doch bald wurden kaum mehr solche Begründungen vorgeschoben. Die deutsche Polizei suchte nun systematisch nach den führenden Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinden, etwa nach Akademikern und Verwaltungsbeamten. Diese wurden unter Vorwänden zur Meldung aufgerufen und anschließend erschossen. Darauf folgten junge jüdische Männer, die ebenfalls zu einem erheblichen Teil ermordet wurden.

Mit dem schnellen Vormarsch der Wehrmacht im Juli/August 1941 drangen die Mordkommandos immer weiter nach Osten vor. Vereinzelt begannen sie nun, auch jüdische Frauen und Kinder zu erschießen, so zuerst in Mitau (Jelgava) in Lettland. Die neu installierte Zivilverwaltung in Litauen forderte sogar, Frauen und Kinder systematisch zu ermorden, da die Männer und damit oft die Ernährer der Familien bereits getötet worden waren. Den Übergang zu einer neuen Dimension der Massenmorde markiert das Massaker in Kamjanez-Podilskyj in der Ukraine, wo Ende August 1941 innerhalb von zwei Tagen 23.800 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet wurden.

Totaler Massenmord

Spätestens an diesem Punkt wurde deutlich, dass alle Juden in den besetzten Gebieten ermordet werden sollten. Auch in Litauen löschten deutsche und litauische Kommandos im August/September 1941 ganze jüdische Gemeinden aus, lediglich in Wilna, Kaunas und Schaulen (Siauliai) sind Ghettos eingerichtet worden. Aber besonders weiter östlich, hinter der Front, begannen die deutschen SS- und Polizeikommandos unmittelbar nach der Eroberung von Städten damit, alle dort verbliebenen Juden binnen kurzer Zeit zu ermorden. Ihren Höhepunkt erreichten diese Verbrechen dann aber nach der Eroberung Kiews. In enger Absprache mit den Wehrmachtstellen organisierte die Einsatzgruppe C einen Aufruf an alle in Kiew verbliebenen Juden, sich am 29. September an einer Kreuzung im Westen der Stadt zu versammeln. Eine Augenzeugin schrieb in ihr Tagebuch: „Es gehen Frauen, Männer, junge Mädchen, Kinder, Greise, ganze Familien. Viele führen ihr Hab und Gut auf Schubkarren mit sich, aber die meisten tragen Sachen auf den Schultern. Sie gehen schweigend, leise. Es ist unheimlich.“4 An diesem und dem folgenden Tag ermordete das Sonderkommando 4a zusammen mit einem Polizeibataillon und ukrainischen Helfern 33.771 Menschen im Babyn Jar-Park. Weitere solche Massaker folgten im Oktober in Dnjepropetrowsk und im Dezember in Charkiw.
 

Jüdische Organisationen errichteten nach Zusammenbruch der Sowjetunion dieses Denkmal am Rande der Schluchten von Babyn Jar. / Foto © Martin Fejer/EST&OST/imago-images

Zuletzt erreichten die deutschen Besatzer auch die Kerngebiete der Sowjetunion, also das Territorium der RSFSR. Auch dort richteten sie kaum Ghettos ein, sondern erschossen binnen weniger Tage alle Juden, die sie ergreifen konnten, insgesamt bis zu 200.000 Menschen. Der Mehrzahl der jüdischen Einwohner auf dem Gebiet des heutigen Russlands war jedoch vorher die Flucht ins Innere der Sowjetunion gelungen.5

Im September/Oktober 1941 wandten die deutschen Funktionäre ihre Aufmerksamkeit wieder den westlichen Gebieten der Sowjetunion zu. Dort lebten die meisten Juden noch, weil die Mordkommandos oft schnell mit den Fronttruppen weitergezogen waren. Insbesondere in jenen ehemals ostpolnischen Gebieten, die 1939 von Stalin annektiert und der Belarussischen und der Ukrainischen SSR angegliedert worden waren, setzte nun eine zweite Welle von Massakern ein. Anders als noch im Sommer, als vor allem Männer erschossen wurden, ermordeten die Täter nun vor allem Kinder, alte Menschen und auch Frauen, weil man diese nicht als Arbeitskräfte einsetzen wollte. Auch die Deportation von Juden aus dem Deutschen Reich diente als Vorwand, um die einheimischen Juden zu ermorden, so beim Rigaer Blutsonntag Ende November/Anfang Dezember 1941.

Die Mehrzahl der Massenmorde fiel ins Jahr 1942. Vor allem im ehemaligen Ostpolen wurde zwischen Mai und November ein Ghetto nach dem anderen durch Massenerschießungen vernichtet. Dazu dienten auch die beiden Vernichtungsorte Bronnaja Gora und Maly Trostenez im heutigen Belarus. Nach der zweiten deutschen Offensive, die 1942 bis nach Stalingrad führte, gerieten auch die Juden im Nordkaukasus in eine tödliche Falle. Oft handelte es sich um Menschen, die aus anderen Gebieten geflüchtet oder evakuiert worden waren und nun im September/Oktober 1942 den Deutschen in die Hände fielen und sofort erschossen wurden. Lediglich in Ostgalizien, in Minsk, Riga und Litauen bestanden einige Ghettos bis ins Jahr 1943, dann wurden auch deren Insassen ermordet oder in Zwangsarbeitslager – vor allem in Estland - deportiert. Die letzten jüdischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen deportierte die SS dann 1944 nach Westen, wo sie im Strudel der Evakuierungen und „Todesmärsche“ wenig Chancen auf Überleben hatten.

Verzeichnis der Orte, in denen in der besetzten Sowjetunion mehr als 500 Juden erschossen wurden / Karte © Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und Stiftung Topographie des Terrors6

Die Täter und ihre Helfer

Es waren nicht allein die berüchtigten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, die massenhaft mordeten. Zunehmend wurden auch reguläre Polizeibataillone der Ordnungspolizei eingesetzt. Als dritte Kraft aus dem SS- und Polizeiapparat traten zwei Brigaden der Waffen-SS zu den Tätern. Insbesondere die SS-Kavalleriebrigade, die im Raum zwischen Belarus und der Ukraine eingesetzt war, ermordete im Zuge vermeintlicher Partisanenbekämpfung Zehntausende jüdischer Menschen. Und auch die Wehrmacht unterstützte die Verbrechen nicht nur tatkräftig durch ihre Militärverwaltung und Logistik, einzelne Einheiten erschossen selbst Juden. Für die Ermordung von etwa 50.000 jüdischen Kriegsgefangenen war die Wehrmacht sogar überwiegend verantwortlich.7

Lange ist übersehen worden, dass nicht nur die deutschen Angreifer, sondern auch ihre rumänischen Verbündeten einen Vernichtungskrieg in der Sowjetunion führten. Schon unmittelbar nach ihrem Angriff Anfang Juli 1941 begannen rumänische Einheiten damit, Juden in Bessarabien und der nördlichen Bukowina zu ermorden, Regionen, die Stalin 1940 Rumänien abgenommen hatte. Bei ihren Verbrechen standen die rumänischen Täter den Deutschen in nichts nach. Nach der Besetzung der Großstadt Odessa im Oktober 1941 verübten sie sogar eines der größten Massaker des Holocaust, mindestens 25.000 Juden wurden in der Hafenstadt ermordet, wahrscheinlich noch erheblich mehr. Danach vertrieben die rumänischen Besatzer die überlebenden Juden Richtung Norden innerhalb ihres eigenen Besatzungsgebietes, wo sie zwischen Dezember 1941 und März 1942 deutschen, rumänischen und ukrainischen Einheiten zum Opfer fielen. Vermutlich fallen zehn Prozent aller Morde an Juden in der besetzten Sowjetunion in die Verantwortlichkeit rumänischer Stellen.8

In den besetzten sowjetischen Gebieten, sowohl weiter westlich als auch in der Russischen Föderation, waren einheimische Helfer am Holocaust beteiligt. Daneben bemühten sich die Besatzer darum, in Zusammenarbeit mit antikommunistischen Untergrundgruppen Pogrome auszulösen. Dies gelang vor allem in der Westukraine, etwa in Lemberg, Tarnopol oder Zloczow sowie in Litauen. Nicht selten initiierten einheimische antisemitische Aktivisten diese Gewaltaktionen auf eigene Faust, die oft parallel zu den deutschen Massenerschießungen verliefen.9

Kein Entkommen

Für die Juden unter Besatzung war die Lage nahezu aussichtslos. Die stalinistische Staatsführung machte die deutschen Verbrechen an Juden zwar anfangs international bekannt, unternahm jedoch kaum etwas zur Rettung von Menschenleben. Vielmehr zeigte sie ab 1942 zusehends selbst antisemitische Züge.10 Wer 1941 nicht hatte fliehen können, war nun ungehemmter Gewalt ausgeliefert. Insbesondere in der Westukraine und im Baltikum sahen sich die Juden zudem mit einer antisemitisch eingestellten Bevölkerungsmehrheit konfrontiert. Nicht selten kamen Denunziationen von Nachbarn; einheimische Polizisten machten den Verfolgten das Leben schwer und verübten auf eigene Faust Gewaltakte. Antikommunistische Untergrundgruppen wie die Ukrainische Aufstandsarmee waren sogar mehrheitlich antisemitisch eingestellt und ermordeten oftmals versteckte Juden.11 Nur in größeren Städten war die Möglichkeit gegeben, in Verstecken oder mit falschen Papieren unterzutauchen. Die ersten kleinen jüdischen Widerstandsgruppen bildeten sich um die Jahreswende 1941/42, teilweise mit dem Ziel, Rache für die Verbrechen zu üben, in erster Linie aber, um Menschenleben zu retten. So beteiligten sie sich an Ghettorevolten und Fluchtversuchen. Eine Flucht war jedoch fast nur in Regionen mit Waldgebieten erfolgreich, da man hier zeitweise untertauchen und selbst einige „Familienlager“ bilden konnte. Außerdem operierten dort Partisanengruppen. Obwohl diese den Juden meist ambivalent gegenüberstanden, gelang doch einigen, meist jungen Männern die Aufnahme. Insgesamt überlebte jedoch nur ein Bruchteil der untergetauchten Juden den Krieg.

Nach dem Holocaust

Nach dem Ende des Krieges wurde der Holocaust in der Sowjetunion nur kurz thematisiert und verschwand dann als Thema aus der Öffentlichkeit. So wurde etwa die Arbeit am Schwarzbuch über die Vernichtung der Juden eingestellt und die Opfer des Holocaust wurden als „friedliche Sowjetbürger“ zu den Millionen zivilen Opfern des Großen Vaterländischen Krieges gezählt. Erst während der Perestroika fand das Thema in die Öffentlichkeit. In den Nachfolgerepubliken der Sowjetunion, auf deren Territorium der Holocaust stattgefunden hat, wird bis heute unterschiedlich mit diesem Teil der Geschichte umgegangen. Insbesondere im Baltikum und in der Ukraine kollidiert die Erinnerung an den Judenmord in manchen Orten mit der Heroisierung antikommunistischer Kräfte, von denen einige aber selbst an den Verbrechen beteiligt waren. In Russland wird der Holocaust zwar inzwischen auf politischer Ebene stark in die nationale Geschichtserzählung integriert, auf lokaler Ebene treffen zivilgesellschaftliche Erinnerungsinitiativen jedoch mitunter auf Widerstände.

Zum Weiterlesen

 

Altman, Ilja (2008): Opfer des Hasses: Der Holocaust in der UdSSR 1941–1945, Gleichen/Zürich
Arad, Yitzhak (2009): The Holocaust in the Soviet Union, Lincoln 
Bundesarchiv, Institut für Zeitgeschichte, Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universtät Freiburg: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Band 7: Sowjetunion mit annektierten Gebieten I: Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien, bearb. von Bert Hoppe, Hildrun Glass, München, 2012 und Band 8: Sowjetunion mit annektierten Gebieten II: Generalkommissariat Weißruthenien und Reichskommissariat Ukraine, bearb. von Bert Hoppe, Imke Hansen, Martin Holler, München, 2016

1.Altshuler, Mordechai (1998): Soviet Jewry on the Edge of the Holocaust: A Social and Demographic Profile, Jerusalem 
2.Pohl, Dieter (2012): Just How Many? On the Death Toll of Jewish Victims of Nazi Crimes, in: Kokh, A./Polian, P. (Hrsg.): Denial of the Denial, or the Battle of Auschwitz: The Demography and Geopolitics of the Holocaust, Boston, S. 129-148 
3.Browning, Christopher (2003): Die Entfesselung der „Endlösung“. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942, München, S. 360-428 
4.Bundesarchiv, Institut für Zeitgeschichte, Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universtät Freiburg (2012): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945: Sowjetunion mit annektierten Gebieten I: Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien, Band 7, München, S. 296 
5.Rebrova, Irina (2020): Re-Constructing Grassroots Holocaust Memory: The Case of the North Caucasus, Berlin, S. 341 
6.Karte aus der Ausstellung „Massenerschießungen: Der Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 1941-1944“, wissenschaftliche Erarbeitung der Karte: Dr. Andrej Umansky, Dr. Alexander Kruglov. Erschießungsorte mit weniger als 500 Opfern sind auf der Karte nicht verzeichnet.
7.Pohl, Dieter (2008): Die Herrschaft der Wehrmacht: Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944, München, S. 243-282 
8.Ioanid, Radu (2000): The Holocaust in Romania: The Destruction of Jews and Gypsies Under the Antonescu Regime, 1940-1944, Chicago 
9.Dean, Martin (2000): Collaboration in the Holocaust: Crimes of the Local Police in Belorussia and Ukraine, 1941-44, London 
10.Kostyrcenko, G. V. (2003): Tajnaja politika Stalina: Vlast' i antisemitizm, Moskva 
11.McBride, Jared (2016): Peasants into Perpetrators: The OUN-UPA and the Ethnic Cleansing of Volhynia, 1943–1944, in: Slavic Review 75 (2016), S. 630-654 
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