Unabhängige Journalisten und Medien hatten es in Russland unter Putin nie leicht, seit dem Beginn der russischen Vollinvasion existiert in dem Land allerdings gar keine Pressefreiheit mehr: Die meisten unabhängigen Medien sind als „Agent“ oder „unerwünscht“ stigmatisiert. Zahlreiche Ermittlungsverfahren, Prozesse und Haftbefehle gegen Journalisten sind anhängig, sogar im Exil sind sie politischer Verfolgung ausgesetzt.
Trotz aller Gefahren arbeiten dennoch einige unabhängige Journalisten und Medien weiterhin im Land selbst. Der Monolog einer anonymen Journalistin, die aus Russland für Meduza schreibt, ist auch Teil der Ausstellung NO, die Meduza bis 6. Juli 2025 in Berlin zeigt.
Meine Freunde und Bekannten kennen mich unter einem Namen, meine Kollegen und Informanten unter einem ganz anderen. Keinem von ihnen kann ich die ganze Wahrheit über mich erzählen. Die ersteren sollen nicht wissen, welcher Betätigung ich nachgehe. Letztere sollen keine Einzelheiten aus meinem persönlichen Leben erfahren – wo ich geboren bin, wo ich studiert und gearbeitet habe. Kurzum: Das Leben einer Journalistin, die für unabhängige Medien arbeitet und dabei in Russland bleibt, ähnelt eher einem Agentenfilm.
Gewöhnlich läuft alles routinemäßig, aber manchmal gibt es Komplikationen. Auf dem Geburtstag einer engen Freundin streckt mir ein Unbekannter die Hand entgegen: „Hallo, ich bin Ljoscha.“ Ich muss erst einige Sekunden nachdenken, wie ich mich vorstellen soll, mit meinem echten Namen oder mit meinem Pseudonym. Dabei versuche ich zu bewerten, ob dieser neue Bekannte potenziell ein Protagonist einer Geschichte werden könnte – davon hängt ab, welchen Namen ich ihm nenne.
Wie eine pathologische Lügnerin
Manchmal komme ich mir wie eine pathologische Lügnerin vor. Da erzählt mir jemand persönliche Dinge, und ich kann ihm nicht mit Gleichem antworten, ja nicht einmal andeuten, dass ich etwas nicht vollständig erzähle. Das zieht einen runter, ich schäme mich ständig. Als ich mir ein Pseudonym ausdenken musste, kam ich mir völlig bescheuert vor. Ich musste mir aus dem Nichts einen Namen ausdenken. Und dann habe ich verschiedene Phasen durchgemacht, um das zu verarbeiten: von Enttäuschung und Trauer bis zu unglaublicher Wut und Müdigkeit.
Ich habe die seltene Möglichkeit, wichtige Dinge zu tun, ohne der Zensur zu begegnen. Und anders als meine Kollegen, die das Land verlassen mussten, lebe ich weiter bequem in meiner gewohnten Umgebung. Gleichzeitig fühle ich mich fast wie eine Hochstaplerin. Was ich betreibe, ist Exiljournalismus, unabhängiger Journalismus. Ich selbst bin aber nicht im Exil.
Ich habe viele Bekannte, die immer noch in Russland für Medien arbeiten, die der Zensur unterliegen. Diese Journalisten kämpfen weiterhin um jedes Komma, und aus ihren Texten werden weiterhin Passagen herausgestrichen, die die Redaktion nervös machen. Mir passiert das nicht: Aus meinen Texten werden nur die langweiligen Sachen herausgestrichen, es gibt keine Zensur.
Natürlich gibt es für die Redaktion objektive Gründe, sich wegen meiner Sicherheit Sorgen zu machen. Journalisten werden in Russland wirklich verfolgt, zu Geldstrafen und Freiheitsentzug verurteilt. Um das zu vermeiden, befolge ich Sicherheitsprotokolle. Die Nummer meines Anwalts habe ich für alle Fälle auswendig gelernt.
Die Protokolle zu befolgen, ist mitunter schwierig. Mit der Redakteurin etwa bin ich über Signal im Kontakt. In Russland funktioniert das aber nicht ohne VPN, was nicht sehr bequem ist. Andere Messengerdienste nutzen wir nicht – aus Sicherheitsgründen. Auf meinem Telefon habe ich drei verschiedene VPN. Wenn es bei einem hängt, schalte ich auf einen anderen um. Ständig muss ich mit diesen Diensten jonglieren, und es kommt sogar vor, dass ich ganz ohne Verbindung bin. Dann hat meine Redakteurin unglaublichen Stress und denkt, dass sie mich irgendwo herausholen muss. Sie macht sich um meine Sicherheit sehr viel stärker Sorgen als meine Mutter oder ich selbst.
Keine Angst
Unabhängige Journalisten können in Russland jederzeit auffliegen, aber lange Zeit habe ich überhaupt keine Angst gehabt. Ich habe mich sogar gefragt, ob das nicht psychisch krank ist, dass ich keine Angst habe. Dann stellte sich allmählich doch die Angst ein, und zwar umso stärker, je öfter Freunde und Verwandte fragten, ob ich keine Angst habe, und ob ich ausreichend Sicherheitsmaßnahmen treffe. Irgendwann bat ich sogar, dass sie mich das nicht mehr fragen. Ich schaue einfach automatisch aus dem Augenwinkel, ob mich jemand verfolgt, ob es um mich herum verdächtige Leute gibt. Und wenn ich mich davon überzeugt habe, dass das nicht der Fall ist, lebe ich mein Leben und mache meine Arbeit.
Zu Beginn des Krieges dachte ich, dass die Leute den Krieg unterstützen, weil sie nicht wissen, was wirklich vor sich geht. Damals druckte ich mit meiner Freundin zusammen Antikriegsplakate mit Parolen wie „Wir brauchen Liebe, und nicht Krieg!“ und klebte sie in den Straßen des Moskauer Stadtzentrums.
Es kam vor, dass wir gerade mal einige Dutzend Meter weitergegangen waren und jemand bei den Plakaten anhielt und sie abriss. Das war keiner von den kommunalen Behörden, sondern jemand ganz gewöhnliches, gut angezogen, wahrscheinlich gebildet und wohlhabend. Das hat mich stark demoralisiert. Das Problem besteht also weniger darin, dass Journalisten nicht die Wahrheit über den Krieg berichten können, sondern vielmehr darin, dass die Menschen, denen wir diese Wahrheit berichten, sie nicht hören wollen.