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Kolbassa (Wurst)

Nach der Oktoberrevolution 1917 kommt es zum Zusammenstoß zweier Welten: einer alten, vorrevolutionären und einer neuen, die in die kommunistische Zukunft reicht. Auch die Küche wurde dabei zu einem Schauplatz dieses Kampfes. Krieg den Küchen! Fleischwölfe, Kocher, Pfannen, Wasserhähne aller Länder, vereinigt euch in eine riesige Kantine! Tausend Küchen hat man bereits unterworfen. Es muss eine Industrialisierung der Küche durchgeführt werden! So träumt Andrej Babitschew, der Protagonist des Romans Neid von Juri Olescha, der sich als sowjetischer Funktionär mit der Entwicklung der Lebensmittelindustrie beschäftigt. Dieser Mann, der stellvertretend für die neue Welt steht, ist geizig und eifersüchtig. Er würde alle Spiegeleier und Buletten am liebsten selbst braten und alle Brote selbst backen. Er würde das Essen gebären. Und als allererstes bringt er sie zur Welt: Die Kolbassa, die Wurst, die 35 Kopeken kostet, und die sich jeder leisten kann. 
Dass in dem 1927 erschienenen Roman ausgerechnet eine Wurst als ein Symbol der neuen Welt fungiert, ist kein Zufall. Für einige sowjetische Generationen war sie mehr als nur ein Produkt: Sie war vor allem eine Errungenschaft, die den Weg in die glückliche kommunistische Zukunft ebnen sollte. Fest im postsowjetischen Bewusstsein verankert, sorgt die Kolbassa heute noch für Sehnsucht nach der untergegangenen Sowjetunion, wo die Wurst viel besser gewesen sei. Selbst wenn es nicht immer einfach war, sie zu bekommen.  

Als Lebensmittelprodukt wohl seit dem Mittelalter bekannt, konnte die Kolbassa sich jedoch vor der Revolution nicht behaupten: Während sie für den Adel und die Intellektuellen als zu primitiv galt, war sie für einfache ArbeiterInnen und Bauern schlicht zu teuer. Der Durchbruch der Wurst zum Massenprodukt, dessen Entstehung im Roman Neid nicht ohne Ironie beschrieben wird, geschieht erst in den 1920er Jahren. Zu diesem Zeitpunkt beginnt die Ära der Wurst in der UdSSR.1

Die Ära der Wurst 

In der neuen Welt sollten nicht nur politische Strukturen, sondern auch der Alltag revolutioniert werden. Die Verpflegung der ArbeiterInnen wurde aus der privaten Küche in gemeinsame Kantinen verlegt, die in den Fabriken eingerichtet worden waren. Mit dem Ziel, die Kochzeiten zu verkürzen und Frauen von der Küchenlast zu befreien, sollten neu errichtete Fleischkombinate halbfertige Produkte wie kotlety (dt. Buletten) und fertige Lebensmittel wie sossiski (dt. Würstchen), sardelki (dt. Lyoner) und kolbassy (dt. Würste) produzieren.2 All diese Produkte sollten leicht zugänglich und kalorienreich sein, um den Hunger der ArbeiterInnen schnell stillen zu können. Mit der Zeit wurden sie zum Symbol des sowjetischen Alltags.3 

Deutsch
Original
„Achtung! 
Wichtig für die Arbeitermassen. 
Im Mosselprom 
    gibt es die beste 
        Wurstproduktion“4.
«Внимание!
         Важно для рабочих масс.
В Моссельпроме
         лучшее
                 производство колбас».

Mit diesem Gedicht warb Wladimir Majakowski (1893–1930) Mitte der 1920er Jahre für die Wurstwaren des Mosselprom. Doch noch in den 1930er Jahren wurde Wurst hauptsächlich in größeren Städten gehandelt, der Rest des Landes blieb hingegen ohne die Fleischdelikatesse. Erst im Zuge der Industrialisierung der 1930er Jahre wurde Wurst tatsächlich zum Volksprodukt. 
Der Aufstieg von Kolbassa ist eng verbunden mit dem Namen Anastas Mikojan (1895–1978), dem Volkskommissar für die Nahrungsmittelindustrie. Nach seiner Reise in die USA 1936 begann er damit, in Moskau Kochwürste produzieren zu lassen. Diese passten perfekt zur neuen sowjetischen Esskultur, die durch die Industrialisierung revolutioniert worden war. 

Je nach Sorte galt Wurst als ein Statussymbol. Collage aus dem Bilderbuch Würste und geräucherte Fleischprodukte (1938)

Die verschiedenen sowjetischen Wurstsorten unterschieden sich im Geschmack, Preis und in ihrer Zugänglichkeit für die Bevölkerung. Im Bilderbuch Würste und geräucherte Fleischprodukte, 1938 herausgegeben vom Volkskommissariat für Nahrungsmittelindustrie, findet man über 60 Wurstrezepturen, die sich in die folgenden Zubereitungsarten unterteilen lassen: farschirowannaja (dt. gefüllte), warjonaja (dt. gekochte), koptschоnaja (dt. geräucherte), liwernaja (dt. Leberwurst), krowjanaja (dt. Blutwurst) und noch viele weitere.5 Laut dem vielfach neu aufgelegten und millionenfach verkauften Kniga o wkusnoi i sdorowoi pischtsche (dt. Buch über schmackhafte und gesunde Nahrung) wurden in der UdSSR später über 100 Sorten größerer und kleinerer Würste produziert.

Je nach Sorte galt Wurst als ein Statussymbol. Moskowskaja – eine geräucherte Wurst – war wegen ihres Geschmacks sehr begehrt, für die ArbeiterInnen der sowjetischen Betriebe jedoch kaum zu bekommen und primär auf den Tischen der Nomenklatura zu finden. Die Kochwurst Doktorskaja konnte man hingegen mit etwas Glück häufiger erwerben, und sie war vor allem bei den ArbeiterInnen beliebt. Ihr Geschmack und ihre Zugänglichkeit auf dem Markt hat sie sogar zu einem der beliebtesten Lebensmittel in der Geschichte der Sowjetunion gemacht. Der Name Doktorskaja bedeutet in etwa „vom Doktor empfohlen“. Ursprünglich wurde diese Kochwurst Bürgerkriegsveteranen in Rehabilitationseinrichtungen ärztlich verschrieben. Da sie reich an Eiweiß und fettarm war, wurde die Doktorskaja-Wurst auch bei einigen Magenkrankheiten empfohlen.6

Defizit, Schlangen und „Wurstzüge“

Zu Zeiten der Sowjetunion war die Wurst ein Statussymbol, ein Indikator der Gastfreundschaft. Über die Wurstauswahl in den Läden wurde auch das Lebensniveau einer Stadt beurteilt – gerade in Zeiten, in denen Wurst Mangelware war. Auch wenn im Bilderbuch Würste und geräucherte Fleischprodukte viele Wurstsorten abgebildet waren, wurden in der Realität nur die Wenigsten von ihnen tatsächlich hergestellt. Lediglich zwei bis drei Sorten waren nach langem Schlangestehen für die sowjetische Bevölkerung erhältlich, jedoch nicht in jeder Stadt und nicht in jedem Laden. 
Die beiden Hauptstädte, Moskau und Leningrad, wurden immer besser beliefert als die übrigen Städte und Dörfer.7 Dies führte dazu, dass viele Leute aus den unmittelbaren Vororten oder den umliegenden Städten mit der Bahn nach Moskau fuhren, um Lebensmittel einzukaufen, darunter auch Kolbassa. Die überfüllten Elektritschkas mit Fahrgästen, die in ihren Taschen Wurst, Brot, Milch, Eier und Fleisch transportieren, waren ein Phänomen der sowjetischen Alltagskultur. Man nannte diese Züge auch kolbassnyje pojesda (dt. Wurstzüge).8 

In den Zeiten des landesweiten Defizits, das als Folge der Planwirtschaft entstanden war, wurde aus der Kochwurst ein Fleischersatz. In Suppen wie Borschtsch oder Soljanka fügte man am Ende häufig Wurst statt Fleisch hinzu. Auch für den berühmten Salat Olivier wurde Wurst mit den anderen gekochten Zutaten wie Eiern, Kartoffeln, Möhren, Dosenerbsen und Essiggurken vermischt und mit Mayonnaise angerichtet. Da seine Zutaten leichter zu bekommen waren als Fleisch, konnte man den Salat etwa am 31. Dezember auf dem Tisch jeden Haushaltes finden. Olivier und seine Hauptzutat, die Kochwurst, sind so zum Symbol des Neujahrsfestes geworden.9 Auch eine angebratene Wurstscheibe mit Spiegelei obendrauf schmeckte vorzüglich. Während die Kochwurst im Alltag des sowjetischen Menschen einen prominenten Platz einnahm, wurde geräucherte Wurst überwiegend bei Feierlichkeiten serviert. 

Wurst als Kultobjekt

Dass Wurst zu einem Kultobjekt werden konnte, lag an der Bedeutung, die sie im sowjetischen Alltag gehabt hatte. Da sie satt machte und schmeckte, war sie zum einen ein von den meisten Sowjetbürgern begehrtes Konsumgut. Zum anderen war sie ein beliebter Ersatz für Frischfleisch, das nur selten erhältlich war. Ihre symbolische Sonderstellung behielt die Kolbassa auch nach dem Zerfall der Sowjetunion. 

Einerseits wurde die Wurst immer mehr mit dem Kapitalismus in Verbindung gebracht. Viele HeldInnen des Buchs Secondhand-Zeit von Swetlana Alexijewitsch äußern, dass man seine Seele für Wurst verkauft habe. Im Buch taucht die Wurst als Symbol des Kapitalismus und des Wohlstands nach westlichem Muster auf: „Der Mensch, der aus 100 Wurstsorten im Laden auswählt, ist freier als derjenige, der aus zehn Sorten auswählt.“10

Andererseits fungierte die Wurst aber auch als nostalgisches Symbol des Sozialismus und des untergegangenen sowjetischen Imperiums: „Früher roch es in der Wurstabteilung – nach echter Wurst. Immer noch kneife ich meine Augen zusammen und erinnere mich an diesen Geruch. Eine echte Kochwurst. Aber jetzt ist es nicht so. Die Wurst riecht nicht mehr.“11 Das nostalgische Gefühl, das sich beim Gedanken an die vermeintlich gute alte Sowjetzeit einstellt, manifestierte sich sowohl im Privaten wie auch in der Populärkultur unter anderem im Bild der sowjetischen Wurst. 

So erschien 2012 ein Werbespot, in dem ein Professor in das Büro eines Volkskommissars stürzt und über die Steigerung der industriellen Produktion spricht, die man leicht erreichen könne, wenn man der Wurst Phosphate, Geschmacksverstärker und andere Zusatzstoffe hinzufügen würde. Der von diesem Vorschlag angewiderte Volkskomissar drückt auf einen roten Knopf unter dem Tisch und der Professor wird von zwei NKWD-Mitarbeitern weggeschleppt. Beworben wird dabei eine Wurst aus der „sowjetischen Reihe“, die „aus Naturprodukten nach der Rezeptur des Jahres 1938“ hergestellt wird. 

Auch wenn das brutale Abführen eines Akademikers und das Rezeptur-Jahr, das für den Höhepunkt der Stalinschen Repressionen steht, auf die schrecklichen Seiten der sowjetischen Geschichte hinweisen, soll der Werbespot vor allem eine Vorstellung hervorrufen: dass in der Sowjetunion zumindest die Wurst reiner und besser gewesen sei – auch wenn wirklich gute Wurst womöglich nur auf dem Tisch des Volkskommissars serviert wurde. 

 

1.vgl. Gluščenko, Irina (2015): Obščepit: Mikojan i sovetskaja kuchnja, Moskau, S. 105 
2.vgl. Molčanova, Ol'ga et al. (Hrsg., 1952): Kniga o vknusnoj i zdorovoj pišče, Moskau, S. 12–16 
3.vgl. Gluščenko: Obščepit, S. 105 
4.Majakovskij, Vladimir (1957): Polnoe sobranie sočinenij: V 13 t.: Т. 5: Stichotvorenija 1923 goda, Moskau, S. 310 
5.vgl. Konnikov, Abram (Hrsg., 1938): Kolbasy i mjasokopčenosti, Leningrad, S. 23 
6.vgl. Molčanova: Kniga o vknusnoj i zdorovoj pišče, S. 184 
7.vgl. Vas’kin, Aleksandr (2018): Povsednevnaja žizn’ sovetskoj stolicy pri Chruščeve i Brežneve, Moskau, S. 232 
8.vgl. Lebina, Natal’ja (1991): Passažiry kolbasnogo poezda: Ėtjudy k kartine rossijskogo byta rossijskogo goroda 1917–1991, Moskau 
9.vgl. Vas’kin, Povsednevnaja žizn’ sovetskoj stolicy, S. 461–462 
10.Aleksievič, Svetlana (2018): Vremja sekond chėnd, Moskau, S. 13 
11.Gluščenko: Obščepit, S. 106 
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