Die Entscheidung Finnlands vom 18. Mai 2022, im Verbund mit dem neutralen Schweden die Mitgliedschaft in der NATO zu beantragen, gehört zu den fundamentalen politischen Zäsuren der Geschichte des Landes.
Mit der Entscheidung, sich dem westlichen Verteidigungsbündnis anzuschließen, bricht Finnland bewusst mit einer außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Tradition, die das Land – von einigen Ausnahmen abgesehen – von seinen staatlichen Anfängen im 19. Jahrhundert an begleitet hat. In diesem Beschluss fängt sich in gleichsam verdichteter Form eine Entfremdung nicht nur der politischen Eliten des Landes, sondern nahezu der gesamten finnischen Gesellschaft. Diese wäre noch bis vor weniger als einem Vierteljahr in sämtlichen öffentlichen Meinungsbarometern noch nicht einmal im Entferntesten auf die Idee gekommen, die angestammten Prämissen ihres Verhältnisses zu Russland überhaupt in Frage zu stellen. Dies mag angesichts des eskalierten Krieges in der Ukraine marginal scheinen. Es macht aber zugleich deutlich, wie fundamental Putins Aggression die internationale Politik und die europäische Sicherheitsarchitektur auch und gerade jenseits der unmittelbar (post-)sowjetischen Sphäre verändert hat.
Worin nun bestanden die erwähnten Prämissen des finnisch-russischen Verhältnisses, wie sie bis vor wenigen Monaten nahezu uneingeschränkte Gültigkeit besaßen? Welchem historischen Wandel und welchen Einflüssen unterlag die russische Finnlandpolitik? Und welchen strategischen Erwägungen, welchem Kalkül folgten die Träger finnischer Politik im Hinblick auf das Verhältnis zum imperialen Nachbarn im Osten seit dem 19. Jahrhundert?
Die Staatswerdung Finnlands war im Laufe des 19. Jahrhunderts konstitutiv an das Russische Kaiserreich geknüpft. Nach dem Russisch-Schwedischen Krieg 1808–1809 war die vormalig schwedische Provinz Finnland als Großfürstentum unter Beibehaltung ihrer alten schwedischen verfassungsrechtlichen Stellung autonomer Teil des russischen Imperiums geworden. Der Zar Alexander I. wurde dabei in Personalunion Großfürst von Finnland und leistete ab dem Landtag von Borgå/Porvoo1 1809 den Eid auf die angestammten finnischen Freiheitsrechte und Privilegien. Zu Letzteren gehörten die aus schwedischer Zeit existierende Ständeversammlung, die Religionsfreiheit der überwiegend lutherischen Bevölkerung des Großfürstentums und – gerade im binnen-imperialen Vergleich – weitreichende verfassungsrechtliche Privilegien. Dieses höchst diffizile Verhältnis zwischen Helsingfors/Helsinki, das zur Hauptstadt des Großfürstentums aufwuchs, und Sankt Petersburg entwickelte sich über das kommende Jahrhundert verfassungspolitisch und politisch-administrativ beständig weiter. Letztlich ermöglichte es dem Großfürstentum Finnland die umfängliche autonome Staatswerdung innerhalb des russischen Imperiums.
Experimentierfeld imperialer Reformpolitik
Aus russischer Perspektive wurde Finnland zu einem Experimentierfeld imperialer Reformpolitik. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildete die Reformphase der 1860er Jahre unter Alexander II., der nicht nur die Landstände erstmals seit einem halben Jahrhundert wieder einberief, sondern darüber hinaus zur Gleichstellung der finnischen Sprache – neben der bisherigen Verwaltungssprache Schwedisch – beitrug. Dies begründete im Kern die moderne politische Kultur des Landes. Selbst die Phase nationalistisch-imperialistischer Eskalation unter Alexander III. und vor allem Nikolaus II. überstand das imperiale Binnenverhältnis zwischen dem Großfürstentum und Sankt Petersburg vergleichsweise intakt.
Russifizierungsbestrebungen und das Bemühen, das Großfürstentum systematischer an das vermeintliche Mutterland zu binden, scheiterten noch vor dem Ersten Weltkrieg am hinhaltenden Widerstand der finnischen Eliten. Im Zentrum der finnischen Politik und öffentlichen Agitation stand dabei stets die Behauptung althergebrachter Verfassungsrechte und damit die Majestät des Rechts. Begleitet wurde dies von einer Welle internationaler Solidarität, wie sich eindrucksvoll an der „Pro Finlandia“-Petition von mehr als tausend führender europäischer Kulturschaffender – im Grunde der versammelten geistigen Elite des Kontinents – ablesen lässt, die sich 1899 Zar Nikolaus II. gegenüber für die finnische Sache aussprach.
Auch Phasen der relativen imperialen Schwäche verstand man zu nutzen. So führte die Revolution von 1905, die Finnland nur am Rande erfasste, im Folgejahr zur Einrichtung eines Einkammernparlaments, der Eduskunta, und der Einführung des Frauenwahlrechts. Finnlands Wahlrecht und das politische System insgesamt gehörten damit zu einem der modernsten in Europa, in dem noch vor dem Ersten Weltkrieg die Sozialdemokratische Partei (SDP) zu einem entscheidenden Machtfaktor heranwachsen konnte.
Die Unabhängigkeit Finnlands
Angesichts der eingeübten Modalitäten zum Russischen Kaiserreich hinterließ das Revolutionsjahr 1917 das Gros der finnischen Eliten in einem gleichsam perplexen Zustand. Erst nach Monaten des Lavierens und der politischen Neu-Orientierung entschied man sich für die Unabhängigkeit von Russland und suchte nach einer legitimierten Autorität auf russischer Seite, die das gewesene Großfürstentum in die staatliche Eigenständigkeit entlassen konnte. Eine solche fanden die politischen Eliten Helsinkis schließlich Anfang Dezember 1917 in Lenin, dessen anti-imperialistische Politik sich nahezu reibungslos mit den finnischen Interessen vertrug.
Die revolutionären Wirren und der sich entgrenzende Bürgerkrieg im Russischen Reich ließen freilich auch Finnland nicht unberührt. Vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Unwuchten des Weltkriegs eskalierte die ideologische Frontstellung zwischen bürgerlich-konservativen und eher sozialistisch-revolutionär orientierten Kräften um die Jahreswende 1917/18. In dem Finnland von Januar bis Mai 1918 überziehenden Bürgerkrieg standen sich schließlich zunehmend unversöhnlich anti-revolutionäre, zumeist bürgerlich-konservative „Weiße“ und die den industriellen Süden des Landes dominierenden „Roten“ gegenüber.
Auch und gerade im europäischen Vergleich gehört dieser Bürgerkrieg zu den am brutalsten geführten innenpolitischen Auseinandersetzungen der Zeit und entspricht in keiner Weise dem klischeehaften Bild des kleinen friedlichen Landes im europäischen Nordosten, das man sich heute gelegentlich von Finnland macht. Innerhalb eines Vierteljahres kamen mehr als 36.000 Menschen ums Leben. Ergebnis des Bürgerkriegs war die Etablierung einer „weiß“ dominierten Präsidialrepublik Finnland, die sich außen- und sicherheitspolitisch in den restlichen Norden zu integrieren versuchte und ansonsten nach Westen und auf den Völkerbund orientierte.
Finnischer Staat ohne Garantien
Währenddessen wuchs mit der Stalinschen Sowjetunion das eigentliche Sicherheitsrisiko für den jungen und in seiner Unabhängigkeit noch ungefestigten finnischen Staat heran. Was Finnland in den 1920er und 1930er Jahren versäumte, war die Lösung der für seine staatliche Existenz kritischen Garantiefrage, wie sie der spätere Staatspräsident des Landes, Juho K. Paasikivi (1870-1956), immer wieder anmahnte. Es war eben jener Paasikivi, der als zentraler Russlandpolitiker des Landes früh erkannte, dass die staatliche Existenz Finnlands nur mit und nicht gegen Russland, beziehungsweise die UdSSR, zu sichern wäre. Dies wurde zum Ende der 1930er Jahre insofern akut, als Stalin sich im Hinblick auf die Kontrolle der vormaligen imperialen Peripherie des Russischen Reiches erneut zu rühren begann und auch von Finnland Grenzkorrekturen und eine engere Bindung an Moskau einforderte.
Als Botschafter in Moskau trat Paasikivi noch im Herbst 1939 vehement dafür ein, Stalins sicherheitspolitischem Bedürfnis so weit wie möglich entgegenzukommen und – neben möglichen Gebietsabtretungen – schlimmstenfalls auch die punktuelle Stationierung sowjetischer Truppen auf finnischem Staatsgebiet zuzulassen. Die Alternative, so machten Paasikivi und mit diesem auch der finnische Oberbefehlshaber C. G. E. Mannerheim (1867-1951) deutlich, wäre ein Krieg gegen die Sowjetunion, den Finnland weder gewinnen noch überleben könne. Die Mehrheit in der finnischen Regierung optierte im Herbst 1939 indes gegen eine Annahme der Stalinschen Forderungen, auch in der Hoffnung, dass sich die Sowjetführung von einer harten, auf das Völkerrecht rekurrierenden Haltung beeindrucken ließe.
Der „Winterkrieg”
Das Gegenteil war der Fall: Ab November 1939 sah sich Finnland einem nur schwach kaschierten sowjetischen Angriffskrieg ausgesetzt und musste diesen – entgegen eigener Erwartungen – bis in den März 1940 auf sich allein gestellt ausfechten. Dass dies im Großen und Ganzen gelang und der junge Staat nicht umgehend zum Opfer des (neo-)imperialistischen Aggressors wurde, begründete den geschichtsmächtigen, für die finnische Nation konstitutiven Mythos vom „Winterkrieg“. Sowjetischen Geländegewinnen, die ihrerseits weit hinter den ursprünglichen Erwartungen der sowjetischen Armeeführung zurückblieben, setzten die Finnen einen bemerkenswerten Behauptungswillen entgegen, der sich nicht nur aus dem Durchhaltevermögen der finnischen Armee, sondern auch aus einer umfassend mobilisierten Gesellschaft speiste. Hier zeigten sich im Übrigen die Anfänge jener umfassenden, ja totalisierten Landesverteidigung, die die finnische Verteidigungspraxis auch heute wieder modellhaft erscheinen lassen. Dreieinhalb Monate hielt Finnland um den Jahreswechsel 1939/40 der Sowjetunion stand. Gerade in dem Augenblick aber, an dem sich die Westallierten aus eigenen strategischen Erwägungen zu einer militärischen Intervention auf finnischer Seite bereitfanden, entschieden sich Mannerheim und die politische Führung in Helsinki für einen schmerzhaften Waffenstillstand mit der UdSSR. Als (erster) Moskauer Frieden vom März 1940 erfüllte dieser einen Großteil der sowjetischen Forderungen aus der Vorkriegszeit.
Erneut war es der erwähnte Paasikivi, der die konkrete Ausformung des künftigen Friedens mit der UdSSR auszuhandeln hatte. Damit einher gingen substantielle, für viele Finnen seinerzeit existentielle Friedensbedingungen von Moskauer Seite: die Abtretung weiter Teile West-Kareliens – nicht zuletzt der zweitgrößten Stadt des Landes Wiborg/Viipuri, mit der die Evakuierung von 422.000 Einwohnern, gut 12 Prozent der Landesbevölkerung, verbunden war; ferner die Abtretung militärstrategisch sensibler Küstengebiete und, nicht weniger belastend, die Stationierung sowjetischer Truppen auf finnischem Boden, in Hangö/Hanko, gut 100 Kilometer südöstlich der Hauptstadt.
Bedürfnis nach Revanche
Der Friede vom März 1940 war in vielfacher Hinsicht schwer erträglich und förderte in der finnischen Gesellschaft und ebenso unter den Eliten des Landes zunehmend das Bedürfnis nach Grenzrevision und russophob unterfütterter Revanche. Im anschließenden Kriegsjahr 1941 suchte Helsinki bewusst die Nähe und schließlich die militärische Koalition mit dem nationalsozialistischen Deutschland, um als Flankenmacht in Hitlers „Unternehmen Barbarossa“ an der Vernichtung der UdSSR und der Austreibung eines als asiatisch dämonisierten Russlands bis hinter den Ural mitzuwirken. Als Hitlers Operation indessen früh scheiterte, entschied sich Finnland – mit Mannerheim als Schlüsselgestalt – spätestens seit dem Frühjahr 1943 für den einseitigen Austritt aus dem Krieg. In der Art, in der man im September 1944 schließlich erneut einen Frieden mit der UdSSR aushandelte, spiegelt sich wiederum die ältere, aus Finnlands Rolle im Zarenreich entlehnte Tradition der finnischen Politik – nämlich die Erkenntnis, dass angesichts einer mehr als 1300 Kilometer langen Landgrenze zur Sowjetunion, beziehungsweise zum heutigen Russland, die eigene staatliche Existenz und Souveränität nicht losgelöst von den geographischen Voraussetzungen des Landes betrachtet werden konnte (und kann).
Politik der Selbst-Neutralisierung
Auf dieser Grundlage entwickelte die finnische Staatsführung um die Präsidenten Paasikivi und Urho Kekkonen (1900–1986) in den Nachkriegsjahrzehnten eine Politik der Selbst-Neutralisierung, die seit den 1960er Jahren polemisch als „Finnlandisierung“ bezeichnet wurde. Als ideologisches Kampfvehikel entstammt der Begriff der „Finnlandisierung“ dem Arsenal westdeutscher Kalter-Kriegs-Rhetorik und geht auf Richard Löwenthal und Franz Josef Strauß zurück. Mit dem Hinweis auf das vermeintlich sowjetisch gleichgeschaltete und seiner Souveränität beraubte Finnland versuchten dezidiert antikommunistische Transatlantiker wie Strauß die im linken Parteienspektrum erwogene Neutralisierung der Bundesrepublik – oder eines wiedervereinigten Deutschlands – zu skandalisieren.
Kekkonen hingegen wendete diese Stigmatisierungsversuche seinerzeit ins Positive und argumentierte, dass die Selbst-Neutralisierung und das gute Verhältnis Finnlands zur UdSSR nicht auf die ohnehin vernachlässigenswerte Beschränkung der eigenen Souveränität zu reduzieren sei. Die selbstgewählte und aus den Erfahrungen des Weltkriegs erwachsene „Finnlandisierung“ käme vielmehr erst vor dem Hintergrund des damit verbundenen Beitrags zur Sicherung des Friedens in Europa und zu einer fortgesetzten Entspannungspolitik zu ihrer vollen internationalen Geltung. Insofern sei das finnische Beispiel im aufgeheizten Klima des Blockkonflikts eher als modellhaft denn als Inkarnation von staatlicher Selbstaufgabe und bolschewistischer Unterwanderung zu verstehen.
Was diese Politik dem Land in jedem Fall bewahrte, war in erster Linie seine Fortexistenz als nicht-sowjetisierter Staat. Je feiner dieser Modus zwischen Helsinki und Moskau austariert wurde, je mehr das Vertrauen der Sowjetführung in die Beständigkeit des guten Verhältnisses zu Finnland wuchs, desto nachhaltiger erweiterte sich auch der finnische Handlungsspielraum. Dies galt zweifelsohne im Inneren, wo das Land – bei aller strukturellen Abhängigkeit vom sowjetischen Markt und trotz Tendenzen zur vorauseilenden Selbstzensur – den Wohlfahrtstaat schwedischer Prägung zu übernehmen verstand und sich seine nationale und gesellschaftspolitische Eigenständigkeit bewahrte. Mehr noch ließ sich dies auch in den Außenbeziehungen und im Hinblick auf die Rolle des Landes im internationalen System beobachten. Auf Grundlage der gewachsenen Integration Finnlands in den nordischen Raum wurde insbesondere Kekkonen zum Stichwortgeber und – als sprichwörtlicher Sauna-Diplomat – zu einer der zentralen Figuren der Entspannungspolitik im Kalten Krieg.
Entfremdung Finnlands von Russland
Das in die Knochen der finnischen Entscheidungsträger übergegangene russlandpolitische Verhalten wirkte bis an den Rand unserer Gegenwart intensiv nach. Auch in der Zeit ultimativer russischer Schwäche, als mit dem Zusammenbruch der UdSSR die gesamte sowjetische Einflusssphäre in Ostmittel- und Südosteuropa abhanden kam, gab Helsinki die Prämissen seiner außen- und sicherheitspolitischen Doktrin nie völlig auf. Schien die Mitgliedschaft in der EG/EU mit dem 1. Januar 1995 eine gleichsam naturgemäße Evolution der Hinwendung Finnlands nach Europa zu sein, so schälte sich im Hinblick auf die NATO im Laufe der letzten drei Jahrzehnte ein fein austarierter Kompromiss heraus. Während Finnland sich auf militärisch-praktischer Ebene sanft dem westlichen Verteidigungsbündnis anzunähern begann, hielt man von einer etwaigen militärpolitischen Integration in die NATO stets Abstand. Dies geschah nicht nur aus kollektiv eingeübter Rücksichtnahme auf Moskau, wie im Verhalten Paasikivis und Kekkonens im Kalten Krieg angelegt, sondern auch aus der Erwägung, mit der eigenen gesellschaftspolitisch umfassenden Landesverteidigung auf etwaige militärische Bedrohungsszenarien mehr als ordentlich vorbereitet zu sein.
Noch zu Jahresanfang musste ein solches Vorgehen als gesamtstrategisches Patentrezept und nicht zuletzt als innenpolitisch dauerhaft verankerter Kompromiss erscheinen. Putins Aggression gegen die Ukraine im Februar 2022 hat diese Gewissheiten indes innerhalb von Wochenfrist abgeräumt. Im Grunde beschreibt der von Olaf Scholz geprägte Begriff der „Zeitenwende“ die Entwicklungen in Finnland daher weit besser als jene Bemühungen der Bundesregierung, auf Putins Invasion der Ukraine, die entgrenzte russische Kriegführung oder auch den in jeder Hinsicht miserablen Zustand der Bundeswehr zu reagieren. Mit der nachdrücklichen Entfremdung Finnlands blickt Moskau nun in naher Zukunft auf eine wesentlich erweiterte, im Grunde verdoppelte Landgrenze zu Mitgliedsstaaten der NATO – und damit auf das Gegenteil dessen, was Putin in den Verhandlungen vor der Invasion ein ums andere Mal programmatisch ins Feld führte: das sicherheitspolitische Bedürfnis Russlands, der NATO die vormalig sowjetische Einflusszone in Ostmittel- und Südosteuropa möglichst entwinden zu wollen.