Polja Padenija (dt. „Absturzfelder“) ist eine Geschichte über die Bewohner des Mesen-Flussbeckens. Seit den 1960er Jahren dienen die dortigen Wälder als Deponie für unterschiedliche Raketenstufen. Die stürzen nach jedem Start vom Kosmodrom in Plessezk unweit der umliegenden Dörfer in die Wälder.
Die Waldgebiete, die das Militär für das Kosmodrom nutzt, galten als dünnbesiedelt. Doch für die Einheimischen waren diese Wälder Teil ihres Jagdreviers, des Fischfangs und einfach ein persönlicher, vertrauter Ort.
Das ist eine Geschichte darüber, wie sich die Dorfbewohner in den 1990er Jahren an die neuen Gegebenheiten angepasst und ein Gewerbe aufgebaut haben: Grundlage dafür war das Metall des Raketen-Schrotts.
Das Fotoprojekt auf Colta nutzt Bilder aus Privatarchiven aus der Oblast Archangelsk und der Republik Komi.
Bis zum Zerfall der Sowjetunion beschränkte sich die Bekanntschaft der örtlichen Bewohner mit der Weltraumtechnik darauf, dass Jäger zufällig auf herabgefallene Raketenstufen stießen. Das Militär räumte das Metall nicht aus dem Wald ab, aber die Anwesenheit des Staates hinderte die örtlichen Bewohner daran, einfach selbst darüber zu verfügen. / Fotos © Makar Tereschin
Ein wirkliches Interesse am Weltraumschrott zeigte sich erst nach dem Zerfall der Sowjetunion.
Seit den 1960er Jahren, als das Kosmodrom Plessezk in Betrieb genommen wurde, türmten sich in jeder der Absturzzonen mehrere Dutzend und manchmal Hunderte von Raketenteilen.
Die Raketenteile, die jahrzehntelang als Schrott in den umliegenden Wäldern und Sümpfen gelandet waren, entpuppten sich als gute Einnahmequelle.
Viele Dörfer, die in der Nähe der Absturzgebiete liegen, sind weit entfernt von den nächsten regionalen Zentren. Teilweise sind diese Dörfer nur per Flugzeug oder eigenem Boot zu erreichen.
Seit Mitte der 1990er Jahre verfielen in der Gegend viele Kolchosen. Die Dorfbewohner, die arbeitslos wurden, blieben sich selbst überlassen.
Die Dorfbewohner aus der Nähe der Absturzgebiete organisierten sich in Gruppen, um das Altmetall zu sammeln. So verdienten sie Geld, was auf andere Art und Weise viel schwerer gewesen wäre.
Der Großteil der Jugend zog in die Städte, wo es mehr Chancen gab, Geld zu verdienen. Die Dörfer entvölkerten sich zusehends.
Gleichzeitig kam es in den Städten zu einem Handelsboom. In Archangelsk und Syktywkar öffneten Altmetallannahmestellen, die das Interesse am Raketenschrott merklich steigen ließen.
Wer nicht wegziehen wollte, dem ermöglichte das Schrottsammeln einen Zuverdienst zum ständig zu spät ausgezahlten Lohn. Die Eifrigsten verdienten damit so viel Geld, dass sie damit die Familie ernähren konnten.
Ein paar Arbeitsplätze blieben in den Kolchosen an der Küste des Weißen Meeres bestehen, wo heute noch Fischereiboote aus Sowjetzeiten im Einsatz sind.
Diejenigen Dorfbewohner, die weit weg vom Meer und Zufahrtswegen leben, sind in Krisenzeiten zur Selbstversorgung übergegangen. Die Fischerei und die Jagd sind hierbei grundlegend für die Lebensmittelversorgung.
Mit dem Schrottsammeln haben als erstes die erfahrenen Jäger angefangen, die die umliegenden Wälder gut kennen. Sie haben Teile der Raketenstufen herausgetrennt und daraus Schlitten gebaut.
Im Winter wurde der gefundene Raketenschrott in einzelne Stücke gesägt. Es gab kein geeignetes Werkzeug dafür, deshalb musste jeder sein eigenes erfinden – das gängigste war die Säge Freundschaft.
Die zugeschnittenen Metallteile brachten sie im Frühjahr aus dem Wald, als der Schnee fester war.
Der Sommer dagegen war der landwirtschaftlichen Arbeit gewidmet, der Jagd, dem Fischfang und der Suche nach Raketenschrott.
Wenn man in den 1990er Jahren in einigen Gegenden über den Sumpf blickte, konnte man in Sichtweite dutzende Raketen ausmachen.
Jede gefundene Raketenstufe enthält einige Tonnen Aluminium, Titan, Kupfer und einen bedeutenden Anteil an Silber und Gold.
Die Raketenteile wurden nicht immer komplett verschrottet. Einige Teile fanden ihre Verwendung im Alltagsleben. Brennstoffleitungen wurden für die Samogon-Apparatur verwendet, innere Konstruktionselemente wurden zu Dachrinnen auf den Häusern der Dörfer. Und ein Bootsbauer hat aus Metallteilen – die noch übrig waren von Schiffen, die er zunächst daraus gebaut hatte – den Zaun seines Hauses und seines eigenen Grabs geschmiedet.
Irgendwann hat dieses Gewerbe einen solchen Umsatz gebracht, dass man in fast jedem beliebigen Dorf unweit des Absturzgebietes Schrotthaufen sah, die man aus dem Wald getragen hatte.
Die örtlichen Bootsbauer haben gelernt, aus dem oberen Teil der Raketenstufen längliche Flachboote herzustellen, gut geeignet für den flachen Fluss. Die aus solchem Metall gefertigten Boote bekamen den Namen „Rakete“.
Da die „Raketen” so bequem und langlebig sind, werden sie von vielen Bewohnern der umliegenden Dörfer genutzt. Die Herstellung eines solches Bootes bringt viel Geld. Ein Exemplar kostet 120.000 Rubel (derzeit ca. 1600 Euro – dek): 80.000 zahlt der Kunde fürs Metall, und 40.000 gehen an den Handwerker.
In den 2000ern begannen die Bewohner dagegen zu protestieren, dass die umliegenden Wälder als Schrotthalden genutzt werden. Hauptgrund war Hepytl, giftiger Treibstoff einer Reihe von Raketenträgern. Damit verbunden ist nicht nur die Verunreinigung des Bodens, sondern auch ein erhöhtes Krebsrisiko.
Heute hat das Militär das Absturzgebiet verlegt und die Raketen stürzen deutlich weiter nördlich ab. Es gibt nur noch wenige komplette Raketenstufen im Wald, sie zu finden ist viel schwieriger und der Transport wesentlich arbeitsintensiver.
Das Gewerbe ist praktisch auf Null gesunken. Nur die vielen „Raketen” in den Flüssen der Gegend erinnern noch daran.
Text und Fotos: Makar Tereschin/Colta.ru
Übersetzung: dekoder-Team
Veröffentlicht am 01.11.2018