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Die Vertikale der Gewalten

Pawel Tschikow, Gründer und Leiter der Menschenrechtsorganisation AGORA, analysiert, wie der Geheimdienst alle Organe der Rechtsordnung unter seine Kontrolle gebracht hat.

Quelle slon

Vorige Woche hielt Wladimir Putin die Jahresversammlung des FSB ab und gab den Mitarbeitern der Staatssicherheit folgende Worte mit auf den Weg: „In diesem Jahr werden Arbeitsbelastung und Verantwortung wachsen. Und Ihre Aufgabe wird es sein, die Effektivität in allen Tätigkeitsbereichen zu steigern.“ Dass heute niemand anders als der FSB in allen Tätigkeitsbereichen oberster Willensvollzieher des Kreml ist, steht außer Zweifel. Die früheren Unterschiede und Zuständigkeitsgrenzen zwischen den Behörden sind ausgelöscht.

Der Wettbewerb um die Macht ist beendet

Es gibt keine Checks and Balances und keinen Wettbewerb mehr – nicht nur zwischen den verschiedenen Staatsgewalten, sondern auch unter den Silowiki. Im Jahr 2006 hatte eine Periode der Auseinandersetzungen begonnen: zwischen Verteidigungsminister Sergej Iwanow und Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow, zwischen dem Leiter des FSB Nikolai Patruschew und dem Leiter der Drogenkontrollbehörde (FSKN) Viktor Tscherkessow, zwischen Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow und Generalstabschef Juri Balujewski, zwischen Generalstaatsanwalt Juri Tschaika und dem Chef des Ermittlungskomitees (SKR) Alexander Bastrykin – seit dem letzten Jahr ist sie beendet.

Durch Gerüchte über ihre Abschaffung wurde der Drogenkontrollbehörde und dem Föderalen Migrationsdienst deutlich signalisiert, dass ihre Existenz an einem seidenen Faden hängt. Der Leiter des Föderalen Strafvollzugsdienstes Gennadi Kornijenko wartet seit über einem Jahr auf einen Bescheid zu seinem Rücktrittsgesuch. Die Rede von einer Entlassung des Innenministers Wladimir Kokolzew hält sich hartnäckig. Justizminister Alexander Konowalow erhält im Herbst mit Sergej Gerassimow einen ersten Stellvertreter zur Seite gestellt, der aus der Präsidialverwaltung kommt und faktisch die Leitungsbefugnisse übernimmt. Die Leiter des Ermittlungskomitees, des Innenministeriums und der Generalstaatsanwaltschaft treten, außer bei Gremiensitzungen ihrer Behörden, seit über einem Jahr nicht mehr öffentlich auf.

Der FSB regelt den Rechtsvollzug

Die Befugnis für den Rechtsvollzug liegt unterdessen ausschließlich beim FSB. Die Frage der Schuld einer bestimmten Person entscheidet sich im Augenblick ihrer Festnahme. Die Verwertung der bei operativen Ermittlungen gewonnenen Informationen hat nicht nur den längst sinnlos gewordenen Strafprozess ersetzt, sondern sogar die gerichtliche Vorermittlung.

Mittlerweile wird das Internet nicht mehr von der Aufsichtsbehörde Roskomnadsor reguliert – jedenfalls nicht faktisch. Vielmehr ist es der FSB, dem der Präsident aufträgt, „die russische Internetsphäre auch weiterhin von illegalen, kriminellen Materialien zu säubern und dafür die modernen Technologien aktiver zu nutzen“ (Zitat aus einer Rede auf eben jener Jahresversammlung). Für die Kontrolle von NGOs ist nicht, wie im entsprechenden Gesetz vorgesehen, das Justizministerium zuständig – der FSB soll „auch weiterhin auf die Existenz von ausländischen Finanzierungsquellen bei Nichtregierungsorganisationen achten, ihre in der Satzung festgelegten Ziele mit der praktischen Arbeit vergleichen und jeglichen Verstoß unterbinden“ (gleiche Quelle).

Für Ordnung auf dem Devisenmarkt sorgte früher die Finanzaufsicht der Zentralbank. Jetzt obliegt es der Staatssicherheit, „Versuche dunkler Machenschaften an den russischen Aktien- und Devisenmärkten, die zu Kurssprüngen führen und das Finanzsystem des Landes überhitzen, aktiver aufzudecken und zu vereiteln“.

Das Ermittlungskomitee, das dem Innenministerium über lange Zeit immer mehr Prozessvollmachten und eine immer umfassendere Zuständigkeit für Strafrechtsfälle abgerungen hat, befasst sich heute im Grunde nur noch mit der Bearbeitung von Unterlagen für die operative Ermittlungsarbeit des FSB. Die einzige nach wie vor aktive operative Einheit des Innenministeriums ist das Zentrum zur Bekämpfung des Extremismus, das letztlich ebenfalls der Polizeiabteilung des FSB zugeordnet ist.

Die Inhaftierung des Leiters der Vollstreckungsbehörde wegen des Diebstahls von 300 Millionen Rubel ist ein Verdienst des FSB. Die Festnahme der Personen, die den Mord an Boris Nemzow ausgeführt haben – ein Verdienst des FSB. Die Durchsuchungen bei Nationalisten in Moskau – ebenfalls. Die krasse Zunahme an Verfahren wegen Spionage, Anstiftung zum Extremismus und Verletzung der territorialen Integrität – FSB, FSB, FSB.

Aufstieg der Geheimdienste unter Putin

Auf den ersten Blick nichts Neues – gleich nach Putins Regierungsantritt wurden massenweise Leute mit Geheimdienstvergangenheit rekrutiert. Über seine gesamte erste Amtszeit hinweg gelangten Mitarbeiter der Staatssicherheit in Schlüsselpositionen von Staatsapparat und Wirtschaft. Eben dies war das Ziel der ersten Phase: Die Höhen einnehmen und die Stellung ausbauen. In der zweiten, langen Etappe ging es dann darum, zu beobachten und Informationen zu sammeln. Die Präsidentschaft von Dimitri Medwedew eignete sich besonders gut zum Beobachten und Aufspüren potenzieller Bedrohungen. Man ließ ihm freie Hand und nahm letztlich diejenigen ins Visier, die an die Liberalisierung glaubten und sich hervortaten – in der Politik, in der Wirtschaft und unter den Beamten. Inzwischen läuft die dritte Phase: die praktische Verwertung der gewonnenen Informationen. Die von der neuen Staatsduma in den Jahren 2012 und 2013 vorbereiteten Gesetze liefern die nötige Grundlage für diese umfassende Operation.

So gesehen gibt es für die Verschwörungstheorien, denen zufolge irgendjemand hinter all diesen Vorgängen stecken müsse, eine recht einfache Erklärung. Der FSB hat vom Präsidenten grünes Licht für die Nutzung vorhandener operativer (sprich: kompromittierender) Informationen erhalten.

Jetzt gibt es nur noch ein einziges Entscheidungszentrum – unter den Silowiki hat sich eine Hierarchie herausgebildet, angeführt vom Geheimdienst, der wiederum sämtliche verfügbaren Ressourcen mobilisiert hat. Die Kontrolle der Grenzübertritte läuft über die Grenztruppen. Die Kontrolle der Finanzströme über die Finanzaufsichtsbehörde Rosfinmonitoring. Die Kontrolle der NGOs über das Justizministerium. Die Kontrolle des Internet über die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor. Und gerade erst haben sich das Innenministerium und die Drogenkontrollbehörde verpflichtet, Rechtsvorschriften, die ihre operative Arbeit regulieren, mit dem FSB abzustimmen.

Nachdem Putin Präsident geworden war, hatte die Machtkonzentration begonnen. Den größten Einfluss erhielten diejenigen, die die Vorermittlungen in entscheidenden Strafprozessen leiteten – gegen Gussinski, Chodorkowski und so weiter. Über die gescheiterten Präsidentschaftsambitionen von Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow ist viel geschrieben worden. Und um das politische Gewicht der Generalstaatsanwaltschaft zu verringern, wurden ihr nach und nach die Ermittlungsaufgaben entzogen. Und allein die Ermittlungsbefugnis ohne weitere Vollmachten genügte dem Leiter der Ermittlungsbehörde Bastrykin um innerhalb weniger Jahre zum vielleicht größten politischen Schwergewicht zu werden. In den Jahren 2012–2013 bestimmten mehr und mehr Durchsuchungen, Verhaftungen und Ermittlungen in politischen Verfahren die Tagesordnung in Russland. Der Sprecher der Ermittlungsbehörde, Wladimir Markin, wurde zum wichtigsten Sprachrohr der Innenpolitik. Aber Vorermittlungen und Gerichtsverhandlungen über Ingewahrsamnahmen rufen zwangsläufig auch auf Seiten der Verteidigung Aktivitäten hervor. Beschwerden wegen Folter, Anträge auf Fachgutachten, Kommentare von Journalisten, Hungerstreiks von Angeklagten, Ohnmachtsanfälle, Notarzteinsätze im Gerichtssaal, Berufungen und Anrufungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – all das erzeugt ständigen Rummel und Gegenwind in den Medien. Zudem ließ sich durch solche Aktionen in der Regel die Situation der Angeklagten verbessern.

Ermittlung statt Rechtsprechung: Der FSB kann heute gegen jede beliebige Person in der Russischen Föderation ein Strafverfahren mit garantierter Festnahme und Verurteilung einleiten

Und so folgt nun die nächste Metamorphose. Die Entscheidung der Schuldfrage wird in ein noch früheres Verfahrensstadium verlagert. Ein Stadium, in dem der Zugang zu Dokumenten verboten ist und Informationen ein Staatsgeheimnis darstellen. In dem der Verteidiger keinerlei Rechte hat. Es geht um operative Ermittlungsarbeit – wer hat wem was gesagt und weitergetragen, Dienstberichte über Dienstberichte. Der gerichtliche Vorermittler sammelt dann nur noch die ihm vorliegenden Ermittlungsunterlagen und legt eine Strafprozessakte an. Die Erfindung ist nicht neu.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auf Beschwerden von Verurteilten hin Dutzende einschlägiger Strafverfahren wegen Drogenmissbrauchs untersucht. Er stellte fest, dass sich in ihnen die Schuldfrage wegen angeblichen Drogenhandels im Moment der Festnahme entscheidet. Als Begründung dienen Informationen aus der operativen Ermittlungsarbeit, Berichte der Fahnder, Daten von Informanten, abgehörte Telefongespräche. Die Einleitung einer operativen Ermittlung, die Einhaltung der Gesetze bei der Informationsbeschaffung und die Entscheidung über die Verwertung der gewonnenen Informationen werden von niemandem wirksam kontrolliert, so der Straßburger Gerichtshof. Weder die Staatsanwaltschaft noch das Gericht tun dies, obwohl sie offiziell dazu verpflichtet sind.

Der Betroffene hat in den folgenden Phasen – in der gerichtlichen Vorermittlung oder im Gerichtsverfahren – keinerlei Möglichkeit, anfängliche Befunde zu entkräften und ihre Unrichtigkeit zu beweisen. Einfach gesagt, kann der FSB heute so ungehindert wie nie gegen jede beliebige Person in der Russischen Föderation ein Strafverfahren mit garantierter Festnahme und Verurteilung einleiten. Die Behörde hat in den vergangenen Jahren eine ungeheure Menge an Informationen gesammelt und bereits grünes Licht für ihre Verwertung erhalten. In eben diesem Sinn ist die Rede von Wladimir Putin auf der letzten Jahresversammlung des FSB zu verstehen.

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Silowiki

Der Begriff Silowiki leitet sich von dem russischen Wort sila ab, was mit Kraft oder Gewalt übersetzt werden kann. Silowiki sind demnach Amtspersonen in Macht- oder Gewaltbehörden (russ. „silowye wedomstwa“), die mit der Wahrung und Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols in Russland betraut sind. Im Volksmund werden Silowiki auch als Personen in Uniform / mit Schulterklappen bezeichnet. Der Begriff hat sich gegen Ende der 1990er Jahre – also zur Regierungszeit Jelzins – im Zusammenhang mit dem Zustrom an „Schulterklappenträgern“ in die russische Elite in der Umgangs- und Mediensprache etabliert.

Zu den Silowiki werden gewöhnlich die Mitarbeiter des Verteidigungs-, Innen- und Justizministeriums, des Ministeriums für Zivilschutz sowie untergeordneter Behörden wie der Truppen des Innenministeriums gezählt. Am prominentesten sind sicherlich die Inlands- und Auslandsgeheimdienste, weniger bekannt die Staatsanwaltschaft, die Nationalgarde sowie die Drogen- und Gefängnisaufsichtsbehörden. Vertreter der nicht unumstrittenen Militarisierungsthese gehen davon aus, dass die Zahl und Bedeutung der Silowiki unter Putin stetig zunahm. Nach Berechnungen von Olga Kryschtanowskaja und Stephen White1 bestand die politische Elite unter Jelzin 1993 zu 11,2 Prozent, unter Putin 2002 zu 25,1 Prozent, 2008 zu 42,3 Prozent und unter Medwedew 2010 zu 20,7 Prozent aus Silowiki.

Als Gegensatz zu den (Wirtschafts-) Liberalen wird den Silowiki ein Weltbild zugesprochen, welches nach einer starken Hand und autoritärer Führung verlangt und Demokratie westlicher Prägung ablehnt. Im Verlauf des Ukraine-Konflikts hat der realpolitische Einfluss der Uniformträger wieder merklich zugenommen. Die Silowiki sollten jedoch nicht als homogene Gruppe gesehen werden. So stehen beispielsweise die Staatsanwaltschaft und das Ermittlungskomitee nach der Aufspaltung in zwei Behörden in schärfster Konkurrenz zueinander, eine Folge der teile und herrsche-Taktik, die viele Beobachter für einen wichtigen Teil des Herrschaftssystems Wladimir Putins halten.2 Definitorisch ist zudem nicht geklärt, wie lange eine Person in einer entsprechenden Behörde tätig gewesen sein muss, um zu den Silowiki gerechnet zu werden. So hat etwa der langjährige Financier der regierungskritischen Zeitung Novaya Gazeta, Alexander Lebedew, ebenso eine KGB-Vergangenheit wie der ehemalige Duma-Oppositionelle Gennadi Gudkow, der eine wichtige Rolle bei den Bolotnaja-Protesten spielte.


1.Unveröffentlichtes paper von 2014. Siehe auch: Kryshtanovskaya, Olga / White, Stephen (2011): The Formation of Russia’s Network Directorate, in: Russia as a Network State: What Works in Russia when state institutions do not?, S. 19–38
2.Gel’man, Vladimir (2005): Political Opposition in Russia: A Dying Species?, in: Post-Soviet Affairs, Vol. 21/3, S. 226-246 und Vedomosti: Političeskaja sistema v dviženii
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Präsidialadministration

Die Präsidialadministration (PA) ist ein Staatsorgan, das die Tätigkeit des Präsidenten sicherstellt und die Implementierung seiner Anweisungen kontrolliert. Sie ist mit beträchtlichen Ressourcen ausgestattet und macht ihren Steuerungs- und Kontrollanspruch in der politischen Praxis geltend.

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Sergej Iwanow

Sergej Iwanow ist ein russischer Politiker und zählt zu den engsten Vertrauten Wladimir Putins. Von 2001 bis 2007 war Iwanow Verteidigungsminister und galt vor den Präsidentschaftswahlen 2008 neben Dimitri Medwedew als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat. Zwischen 2011 und 2016 leitete er die mächtige Präsidialadministration und gehörte damit zu den wichtigsten politischen Akteuren in Russland.

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Juri Tschaika

Der Jurist Juri Tschaika ist Generalbevollmächtigter des russischen Präsidenten im Föderationskreis Nordkaukasus. 1999 wurde nach einer Karriere in der Generalstaatsanwaltschaft auf Betreiben Putins zum Justizminister ernannt. Von 2006 bis Januar 2020 war er als Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation eine zentrale Figur im politischen System Russlands. 

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Alexander Bastrykin

Alexander Bastrykin zählt zu den zentralen Figuren in Putins Machtapparat und ist als Leiter des mächtigen Ermittlungskomitees eine der einflussreichsten Personen in Russland.

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