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Kampf der Cyberpartisanen

Widerstand in Belarus ist gefährlich, vor allem wenn er sich direkt gegen die Strukturen des Lukaschenko-Regimes richtet. Eine der bekanntesten Gruppen, die es sich zum Ziel gemacht hat, das Machtgefüge der Diktatur zu schwächen, sind die Cyberpartisanen. Die Hackergruppe ist erstmals Anfang September 2020 in Erscheinung getreten. Seitdem hat sie immer wieder mit spektakulären Aktionen von sich Reden gemacht, zuletzt unter anderem mit einem Angriff auf Aeroflot, in dessen Folge Chaos an russischen Flughäfen ausbrach.  

Was ist das für eine Gruppe? Wie agiert sie? Für Novaya Gazeta Europe konnte die belarussische Journalistin Iryna Chalip mit Aktivisten dieses sehr verschwiegenen Hackerkollektivs sprechen.  

Source Novaya Gazeta Europe

Wenn die belarussischen Cyberpartisanen einen Geburtstag feiern würden, dann wohl den 5. September 2020. Damals ging es in Belarus heiß her: Die Menschen gingen auf die Straßen, bildeten Solidaritätsketten, sangen in den Höfen Protestlieder, und Feuerwehr und Stadtbedienstete hatten ihre liebe Not mit all den weiß-rot-weißen Flaggen, die von den Häusern wehten. Und dann kam der Code. 

„Belarusse, von dir hängt alles ab!“ 

Am Abend des 5. September tauchte auf der Website der belarussischen Handels- und Gewerbekammer anstelle der üblichen Meldungen über Consulting und Marketing plötzlich ein Appell auf: 

„Wir sind die Cyberpartisanen von Belarus. Wie einst unsere mutigen Vorfahren ziehen wir in den Partisanenkampf gegen Hilfspolizei, Gestapo, Okkupanten und sonstige Kollaborateure. Unsere Freunde und Verwandten werden getötet, gefoltert und vergewaltigt. Keinem wird es gelingen, sich unbeschadet wegzuducken. Die Strafbrigaden hinterlassen nichts als verbrannte Erde! Belarusse, du denkst, von dir hängt nichts ab? Von dir hängt alles ab! Du kannst mehr, als du glaubst!“ 

Dann folgte eine ewig lange Reihe von Ziffern und Buchstaben. Es war ein Code. Wer den entschlüsselte, konnte Kontakt zum Urheber des Hackerangriffs aufnehmen, einem Mitbegründer der Cyberpartisanen. Den Code entschlüsselten rund hundert Personen. Ein Jahr später stieß Juliana Schemetowez hinzu, als offizielle Repräsentantin die Einzige, deren Name öffentlich bekannt ist. 

Illustration © Novaya Gazeta Europe

Kernteam und Volontäre 

„Die Organisationsstruktur sieht so aus, dass es ca. 90 Volontäre gibt und ein Kernteam aus 30 Personen, die ständig in der Organisation aktiv sind“, erklärt Juliana. „Innerhalb des festen Teams gibt es mehrere Mannschaften, die Tests durchführen, Codes entwickeln, Postings schreiben oder Fragen zur sicheren Nutzung des Internets beantworten. Eine Mannschaft analysiert ausschließlich Daten. Schließlich gibt es eine Hackergruppe, die die Attacken durchführt, und noch eine Handvoll Leute, die die Strategien dafür erarbeiten.“ 

Im Grunde ähnelt die Struktur der in ganz normalen IT-Firmen: Es gibt Seniors und Juniors, Analysten und Tester. Die Strategie der Cyberattacken ist ein hochspezialisiertes Gebiet, an dem nur einige wenige beteiligt sind, während die Gesamtstrategie der Gruppe von allen mitbestimmt wird. Besprechungen finden allerdings nicht im Zoom-Call statt. Die Teilnehmer hören und sehen einander nicht, sie tauschen nur Nachrichten aus.  

Der Cyberangriff auf Aeroflot, der zum Ausfall Hunderter Flüge führte, war ursprünglich nicht Teil des Plans, obwohl die Fluggesellschaft den strategischen Kriterien der Cyberpartisanen durchaus entspricht. Diese Aktion fand in Zusammenarbeit mit der ukrainischen Organisation Silent Crow zusammen, sodass das Wann und Wie des Angriffs eine gemeinsame Entscheidung war. Die ukrainischen Hacker waren die Ersten, die sich Zugang verschafften; sie holten die Belarussen ins Boot.                  

Mit dem Angriff auf Aeroflot bekamen die belarussischen und ukrainischen Hacker Zugriff auf ganze Terabytes von Daten. Jetzt kommt allmählich ans Licht, was sie da erbeutet haben: Abhörmaterial von Mitarbeitern, E-Mail-Verkehr, die Info, dass der Generaldirektor seine Passwörter seit 2022 nicht mehr geändert hat und bei Aeroflot noch immer Windows XP verwendet wird.   

Der heiße Sommer 2021 

Die effektivste Operation der Cyberpartisanen war Shara (dt. Hitze) im Sommer 2021. Schritt für Schritt nahmen sie alle Polizeidienststellen ins Visier: Zuerst hackten sie das Staatliche Automobilinspektorat (GAI) und besorgten sich die Daten sämtlicher Autobesitzer in Belarus. Dann entwendeten sie die Passdaten sämtlicher belarussischer Staatsbürger. 

„Bei diesem Angriff half uns ein Mann vor Ort. Das heißt nicht, dass er irgendwelche Datenbanken herunterladen oder uns den Zugang zu ihnen verschaffen konnte. Aber er öffnete uns sozusagen eine Tür. Einmal im Netz, mussten sich die Cyberpartisanen allein zurechtfinden. Unser Mittelsmann war nicht Mitglied der Gruppe. Aber es gibt auch in Belarus Cyberpartisanen – Leute, die für sich beschlossen haben, im Land zu bleiben und von dort aus aktiv zu sein. Natürlich ist das sehr riskant, und klar, wer in Belarus ist, sollte an den sensibelsten Operationen lieber nicht teilnehmen.“ 

Nach den Passdaten hackten die Cyberpartisanen die Datenbank der Anrufe beim Notruf 102. So wurden Denunzianten ausfindig gemacht, die 102 wählten, um Positionen von Protestierenden und Flaggen preiszugeben. Anhand dieser Daten wurde eine sogenannte „Schwarze Karte“ von Belarus mit den Namen und Adressen der Denunzianten erstellt, die seitdem immer weiter ergänzt wird.         

Zuerst wurden nur die Adressen von Denunzianten eingetragen. Dann kamen Namen und Adressen von Mitarbeitern der Sicherheitsdienste hinzu, von Mitgliedern der Wahlkommissionen, Gefängnisaufsehern, Söldnern, die auf russischer Seite kämpfen, und sogar von in Belarus gestrandeten Wagner-Söldnern

Sodann hackten die Cyberpartisanen die Datenbank des Amts für Interne Revision des belarussischen Innenministeriums. „Tausende pikante Geschichten über Schiebungen, Fälschungen, Schlampereien, ungebührliches Verhalten im Dienst, Alkoholexzesse und sonstige Details. Anscheinend liebt es Bürger Bulle, seinen Kollegen auf die Finger zu schauen“, kommentierten die Partisanen auf ihrem Telegram-Kanal. Der Sommer 2021 wurde wirklich heiß.  

Als am 17. August die Operation Shara voll im Gange war und die Cyberpartisanen der Öffentlichkeit täglich aufs Neue persönliche Daten und Abhörprotokolle von Sicherheitsdienstlern präsentierten, erklärte Lukaschenko bei einer Regierungsversammlung: „Wenn ihr nicht fähig seid, auf die Daten in euren Computern aufzupassen, müsst ihr wieder zurück zum Papier. Schreibt von Hand und legt es in eure Lade!“ 

„Wir brauchen Köpfe“ 

Die Aktion förderte sowohl Lustiges als auch Grauseliges zutage. Zum Grauseligen gehören die Mitschnitte der Gespräche von Lukaschenkos Pressesprecherin Natalja Eismont mit Dimitri Balaba, dem Kommandeur des Minsker OMON, vom 2. November 2020. Die Aufnahmen lagen auf den Servern des Amts für Ermittlung und Fahndung, die die Cyberpartisanen gehackt hatten. Aus drei Gesprächen vom selben Abend ging hervor, dass die Silowiki im Herbst 2020 eine waschechte Jagd auf Menschen veranstalteten – auf alle, die weiß-rot-weiße Bänder im Hof aufgehängt und Porträts von Inhaftierten aufgestellt hatten. Lukaschenkos Pressesprecherin nahm höchstpersönlich an diesen Strafbrigaden teil: Sie gingen in die Höfe, schnitten Bänder ab und zerstörten Gedenkstätten. Wenn die Anwohner sich ihnen in den Weg stellten, kam der OMON und verprügelte oder verhaftete sie. 

[In den Mitschnitten ist zu hören, wie] Natalja Eismont zu Balaba sagt, ihre Gruppe steuere den „allerkrassesten Hof“ an. Der OMON-Kommandeur verspricht, in der Nähe zu bleiben und ihr den Rücken freizuhalten. Dann fragt er, welcher Hof denn ihrer Meinung nach der „krasseste“ sei. Eismont zählt auf: Megapolis, Kaskad, Nowaja Borowaja und nennt auch den „Platz des Wandels, wo wir letztes Mal waren“. Zehn Tage später wird in jenem Hof beim Platz des Wandels Roman Bondarenko zu Tode geprügelt werden.          

Eineinhalb Stunden später telefonierten sie wieder. Eismont beklagte, jetzt seien sie extra gekommen, aber der Hof leer: „Alles sauber hier“. Balaba schlug ihr eine „Treibjagd“ vor und überlegte laut, wo er an jenem Tag Bänder gesehen hatte. Daraufhin fuhr Lukaschenkos Pressesprecherin den OMON-Kommandeur an: „Komm schon, Dima, Bänder sind Nebensache. Wir brauchen Köpfe!“ Balaba wünschte noch einmal erfolgreiche Jagd.   

Für seine Jagdlust und den Sadismus bekam Balaba übrigens die Rache der Cyberpartisanen zu spüren – fies, aber gefinkelt: Sie publizierten Mitschnitte von intimen Telefongesprächen seiner Frau. Aber nicht mit ihm, sondern mit anderen Männern, darunter einem von Balabas Mitarbeitern. Auch wenn sich darüber streiten lässt, ob die Veröffentlichung solcher Mitschnitte moralisch vertretbar ist – ein Schlag unter Balabas Gürtellinie war das allemal.  

Spritze für Lukaschenko  

Shara war ein so aufsehenerregender Hackerangriff, dass sich Medien weltweit für die Drahtzieher zu interessieren begannen. Also brauchten sie einen Sprecher – eine Person, die öffentlich auftreten konnte, ohne ihr Gesicht oder ihren Namen zu verbergen. Und die vor allem erklären konnte, dass die Cyberpartisanen keine Hacker sind, sondern „Hacktivisten“. So kam Juliana Schemetowitsch ins Spiel. 

„Meine Haltung als Staatsbürgerin“, erinnert sie sich, „formierte sich spätestens am Tag der Präsidentschaftswahlen am 19. Dezember 2010. Ich ging noch zur Schule, und keiner meiner Freunde traute sich zu den Protesten. Ich ging allein hin. Drehte eine Runde. Ich hatte richtig Angst. In den folgenden Jahren engagierte ich mich für die belarussische Kultur, Geschichte und Sprache. 2016 machte ich in den USA meinen Master in Politikwissenschaft.“ Dass sie in Amerika lebe, sei ein „Riesenvorteil“, sagt sie: Das bewahre sie davor, in einen Kofferraum gepackt und ins Ausland verfrachtet zu werden. Geld bekomme sie keines, genau wie die meisten anderen Cyberpartisanen. 

Fast alle haben andere Einkommensquellen, bis auf ein paar wenige, die rund um die Uhr mit der Vorbereitung von Attacken beschäftigt sind. Trotzdem brauchen die Cyberpartisanen Geld: Sie verfügen über sehr viele Daten und Server, für die sie bezahlen müssen. Auch Datenschutz und Infrastruktur kosten Geld. Ihre Sponsoren sind nicht die Stiftungen, die sonst die Demokratischen Kräfte unterstützen, sondern kommen aus der Technikbranche. 

„Im Grunde weiß man nie, was man findet und was den größten Effekt hat. Einmal wandte sich Belsat an uns, und wir machten eine gemeinsame Recherche dazu, wie die belarussischen Behörden das tatsächliche Ausmaß der Coronatoten im Land vertuschten. Wir entdeckten Telefonmitschnitte, in denen Beamte mit Medizinern den Kauf spezieller Impfstoffe für Lukaschenkos Familie besprachen.“  

Nach Shara riefen die Cyberpartisanen im November 2021 die Operation Peklo (dt. Glut) aus. Sie knackten und verschlüsselten das interne Netzwerk von Lukaschenkos Verwaltungsakademie und tauschten die Hintergrundbilder auf den Dienstrechnern gegen Fotos des ermordeten Roman Bondarenko mit dem Schriftzug „Nicht vergessen, nicht verziehen!“ aus. Nächstes Ziel war das Netzwerk der Firma OAO Belaruskali, dem wichtigsten Hersteller und Exporteur von Kalidünger. Im Dezember war das Netzwerk des Maschinenbauwerks Mogilewtransmasch an der Reihe. Denn bei der Operation Peklo ging es nicht mehr darum, kompromittierendes Material über Silowiki auszugraben, sondern den staatlichen Betrieben Schaden zuzufügen. Und dann begann der Krieg. 

Partisanenkodex  

Unmittelbar nach dem 24. Februar 2022 änderten die Cyberpartisanen ihre Strategie. Die Ukraine brauchte Unterstützung. Die Cyberpartisanen beschlossen, sich auf die Logistik zu konzentrieren: Offensichtlich sollte die belarussische Eisenbahn (BelShD) zum Transport von russischem Kriegsgerät verwendet werden. Der erste Hackerangriff hatte im Rahmen von Peklo bereits Ende Januar 2022 stattgefunden. Die Partisanen verschlüsselten den Großteil der Server, Datenbanken und Arbeitsplätze der BelShD, um den Betrieb lahmzulegen: Damals wurden die russischen Truppen mithilfe von belarussischen Zügen verlegt. Beim zweiten Cyberangriff am 27. Februar war bereits Krieg. Und schon am nächsten Tag traten in Belarus Schienenpartisanen auf den Plan, die die Signalanlagen außer Gefecht setzten. 

Ich frage Juliana, warum die Cyberpartisanen die Transportzüge mit dem Kriegsgerät nicht einfach entgleisen ließen, wo sie doch Zugriff auf das interne Netz von BelShD hatten. „So etwas kann unvorhersehbare Folgen haben. Das Kriegsgerät rollt auf denselben Schienen und Strecken wie Passagierzüge. Wir konnten doch nicht das Leben der Menschen aufs Spiel setzen. Das verbietet uns der Partisanenkodex, den alle unterschreiben müssen, die sich uns anschließen.“  

Dieser Kodex liegt Novaya Gazeta Europe vor. Die Redaktion veröffentlicht hier den gesamten Text: 

  1. Wir stellen der Gewalt und plumpen Macht des Regimes Intellekt, Wissen, Kompetenz und moderne Technologien entgegen, indem wir eine sogenannte „indirekte Strategie“ (Basil Liddell Hart) verfolgen. 
     
  2. Wir berichten über Methoden zur Informationssicherheit im Internet und propagieren ihre Anwendung. Die wichtigste Ressource im Kampf gegen die Diktatur sind die Menschen. Deshalb setzen wir alles daran, dass die Staatsbürger der Republik Belarus, die demokratische Werte vertreten, auch unter Bedingungen von politischen Repressionen und Tyrannei in Freiheit bleiben. 
     
  3. Wir gehen sorgsam mit den persönlichen Daten von belarussischen Staatsbürgern um und scheuen zu deren Schutz auch in finanzieller Hinsicht keinen Aufwand. Während das Regime sich nicht um die Schaffung sicherer Datenschutzsysteme für die Bevölkerung kümmert, hat für uns Datensicherheit, die wir mit allen Mitteln anstreben, oberste Priorität. 
     
  4. Wir veröffentlichen nur Informationen zu Personen, die offensichtlich oder nachgewiesenermaßen mit dem diktatorischen Regime in Verbindung stehen, um ihr kulturelles Niveau und ihre moralisch-ethischen Qualitäten zu entlarven sowie Druck vonseiten der Zivilgesellschaft gegen sie aufzubauen. Über die Offenlegung von Informationen zu Personen, die Verbrechen gegen belarussische Staatsbürger begangen haben, entscheidet eine eigene Arbeitsgruppe. 
     
  5. Wir verwenden die Daten und Informationen, die wir erhalten, nicht zu eigenen Zwecken oder im eigenen Interesse. 
     
  6. Der Fokus unserer Tätigkeit liegt stets auf Belarus. Der großangelegte russische Angriffskrieg gegen die Ukraine macht jedoch auch das russische Regime und russische Staatsbürger, die den Krieg unterstützen, zu legitimen Zielen unserer Aktionen. Wir sind der Meinung, dass es kein freies Belarus geben kann, solange die Ukraine von Putins Regime okkupiert wird. Daher tun wir alles in unserer Macht Stehende, um der Ukraine und den belarussischen Freiwilligen in der Ukraine zu helfen. 
     
  7. Wir führen unsere Cyberoperationen so aus, dass sie für die belarussische Bevölkerung den kleinstmöglichen Schaden anrichten. Die Sicherheit der belarussischen Zivilbevölkerung hat oberste Priorität.
     
  8. Wir bieten allen Gruppen, politischen Akteuren, Aktivisten und allen belarussischen Staatsbürgern, die demokratische Werte vertreten, beratende Unterstützung und tatkräftige Hilfe an. 
     
  9. Wir räumen ein, dass es für Hacktivismus keine ethischen Richtlinien gibt, weil es eine ganz neue Methode des Widerstands gegen diktatorische Regime und eine neue Art der Kriegsführung ist. Daher unterziehen wir unsere Arbeit einer ständigen Analyse und sind offen für den Austausch mit unabhängigen Experten. 
     
  10. Unsere Arbeit wahrt die Rechte aller gleichermaßen, ungeachtet ihrer Nationalität, ihrer Religions-, Geschlechts- oder sonstigen Zugehörigkeit. 

Kleine Erfolgsgeschichte der Hackaktivisten 

Im ersten Kriegsjahr knackten die Cyberpartisanen das Zentrale Radiofrequenzzentrum, eine Tochterstruktur der russischen Aufsichtsbehörde Roskomnadsor, und gaben Daten im Umfang von zwei Terrabyte an die Medien Washnyje istorii und Süddeutsche Zeitung weiter. Ende 2023 hackten sie die Propaganda-Nachrichtenagentur BelTA. 2024 drangen die Cyberpartisanen ins Netzwerk der russischen Firma Spezialny technologitscheski zentr (dt. Zentrum für Spezialtechnik) ein, die Orlan-Drohnen produziert, luden sämtliche Daten herunter und übergaben sie der Ukraine. Am 12. Juni 2025 griffen sie 95 Websites von Bezirks- und Gebietsverwaltungen in Russland an und versahen deren Landingpages mit Bildern aus dem Krieg in der Ukraine. 

Der Mannschaft schließen sich laufend neue Mitglieder an, auch solche, die nach wie vor in Belarus leben. Nicht umsonst gilt das Land schon immer als Hochburg der Partisanen.  

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)