Media

Belarus: Pantheon der russischen Vormacht

Seit 2020 hat die Abhängigkeit des Lukaschenko-Regimes von Russland bedrohliche Formen angenommen. Der intensivierte russische Einfluss macht sich auch in der Geschichtspolitik und Erinnerungskultur bemerkbar, wo imperiale Narrative des Kreml an Deutungshoheit gewinnen. Das neueste Beispiel: Ende September veröffentlichte die belarussische Regierung eine offizielle Liste mit 55 historischen Persönlichkeiten – das neue Pantheon der Nationalhelden. Es soll zukünftig auf sechs riesigen Wandreliefs an der Fassade des neuen Historischen Nationalmuseums zu sehen sein, das gerade in Minsk gebaut wird. 

Der Journalist und Propaganda-Experte Pavlyuk Bykovsky hat sich die Reliefs genauer angeschaut. Für das Online-Portal Pozirk zeigt er, warum manche historische Persönlichkeiten der belarussischen Geschichte abgebildet werden, andere wiederum nicht. 

Source Pozirk – Nawіny pra Belarus

Wer darf in Lukaschenkos „Helden-Pantheon” und wer muss draußen bleiben? / Kollage © dekoder/ Hintergrund © Depositphotos/ Imago

Bei einem Treffen des ideologischen Ausschusses am 17. September, dem Tag der Nationalen Einheit, hatte Lukaschenko vorgeschlagen, ein solches Pantheon zu schaffen. Die Auswahlkriterien umriss er wie folgt: „Man muss wissen, wer Held und wer Feind ist. Wer hat einen Beitrag zur Weltkultur, Wissenschaft, Geschichte geleistet und dabei die Verbindung zur Heimat gehalten, und wer hat das vollbracht, aber seiner Identität entsagt. Wir streichen niemanden aus unserer Geschichte. Aber es müssen Akzente gesetzt werden, klar und bestenfalls ohne Halbheiten.“ 

Nun wurden diese Wandreliefs vorgestellt: Sie bilden verschiedene Epochen ab – vom Altertum bis zur Gegenwart – und konkrete Persönlichkeiten: Großfürsten, Heilige, Schriftsteller und sowjetische Funktionäre. Ein Name auf der Liste überrascht besonders. Auf dem Relief „Belarus vom 5. bis zur Mitte des 13. Jh.“ taucht neben Wseslaw Bratschislawitsch (genannt Der Zauberer), Euphrosyne von Polazk und Kyrill von Turau – Personen, die jeder Belarusse aus dem Geschichtsbuch kennt – auch Juri Jaroslawitsch auf, ein Fürst von Turau, der im 12. Jahrhundert regierte. Wer ist er? Er hat keine Dynastie begründet, keine Chronik geschrieben, er ist kein Heiliger und kein Held volkstümlicher Erzählungen. Einfach einer von Dutzenden Fürsten, deren Namen in Quellen erhalten blieb.  

Ein anderer Fürst – Gleb Wseslawitsch (von Mensk) – schaffte es nicht ins Pantheon. Dabei wäre er nach Wseslaw dem Zauberer und anderen Fürsten von Polazk und Turau der offensichtlichste Kandidat. Gleb gründete Minsk (Mensk), kämpfte mit Wladimir Monomach, hinterließ seinen Fußabdruck in der Geschichte. Warum schloss man ihn aus? Weil er sich einem in Russland angesehenen Fürsten widersetzte? Und hob man Juri Jaroslawitsch andererseits dafür aufs Podest, dass er einige Zeit zum engen Kreis des Moskau-Gründers Juri Dolgoruki gehörte? 

Der Fall Juri Jaroslawitsch ist nicht bloß ein kurioser Fehler oder eine unglückliche Wahl. Er ist ein Symptom. Ein Symptom dafür, wie das belarussische Regime versucht, eine nationale Identität zu konstruieren, indem es sie gleichzeitig demontiert. 

Identitätskonstruktion von oben 

Die belarussische Nation bildete sich mit Verzögerung heraus, sie verschlief den europäischen Völkerfrühling des 19. Jahrhunderts. Die Aristokratie war entweder polonisiert oder russifiziert, die Bauern sprachen Belarussisch, aber begriffen sich nicht als eigenständige Nation – eher als „Hiesige“, einem Ort zugehörig. Die Orthodoxen bezeichneten sich als Russen, die Katholiken als Polen. 

Zu Beginn der 20. Jahrhunderts bildete sich eine institutionelle Basis heraus – Zeitungen, Schulen, Theater, Verlage, Museen. Der Erste Weltkrieg führte auf dem Territorium von Belarus zu einer massenhaften Umsiedelung von Menschen: Aus den inneren Gouvernements des Russischen Imperiums kamen viele an die Front an der Westgrenze, gleichzeitig verließen Flüchtlinge das Gebiet. Diese Migrationsbewegungen erlaubten es den russisch-imperial denkenden Bolschewiken, den belarussischen Versuch einer Volkssouveränität zu unterdrücken. Anstelle der Belarussischen Volksrepublik, deren Geschichte von sehr kurzer Dauer war, gaben die Bolschewiki den Belarussen nominelle Staatlichkeit in Form der Belarussischen Sowjetrepublik, die jedoch vollständig Moskau unterstellt war. 

Am Ende der sowjetischen Epoche war die belarussische Sprache marginalisiert, ein Großteil der Bevölkerung fühlte sich der großen Sowjetgemeinschaft zugehörig, mit Russisch als Erstsprache. Nach dem Zerfall der UdSSR gehörte Belarus nicht mehr zum kommunistischen Imperium, eine Nation im vollständigen Sinne des Wortes war aber auch noch nicht vorhanden. Das belarussische nationale Projekt blieb schwach ausgeprägt, die Sprache dominierte nicht, das historische Gedächtnis war bruchstückhaft, es gab kein einheitliches Heldenpantheon. 

Ab dieser Zeit wird es nun wirklich interessant. Seit Lukaschenkos Machtantritt 1994 wird die belarussische Identität von oben konstruiert – auf völlig andere Weise. Das Regime versucht, eine Version der Nation zu schaffen, die dem Herrscher zuträglich ist und keinen Widerspruch zu seinem Integrationskurs mit Russland darstellt. Das Resultat dieser Konstruktion sehen wir nun auch im offiziellen Pantheon von 2025. Um seine Spezifika besser zu verstehen, muss man genau hinschauen: Wer wurde aufgenommen und – nicht weniger wichtig – wer ist nicht dabei? 

Wer gilt als Held und warum? 

Das Pantheon der Nationalhelden ist mehr als eine Liste ehrwürdiger Figuren der Vergangenheit. Es ist ein politisches Manifest, eine kodierte Botschaft, als welche imaginäre Gemeinschaft das Regime das Land sehen will.  

Wandrelief 1: Vorstaatliche Periode. Sammeldarstellung der drei Stämme – Kriwitschen, Dregowitschen und Radimitschen. Das ist das präslawische Altertum, das als ethnographische Rekonstruktion präsentiert wird. Die Botschaft: Wir sind seit ewigen Zeiten hier, unsere Wurzeln gehen zurück bis in die Urzeit.  

Wandrelief 2: 5. Jahrhundert bis Mitte des 13. Jahrhunderts. Das Relief vermittelt folgende Botschaft: Die belarussische Geschichte beginnt mit der ostslawischen Einheit, die Wurzeln liegen in der gemeinsamen Wiege der Kiewer Rus. Das ist die klassische Konzeption des „dreieinigen russischen Volkes“ in Softverpackung. 

Wandrelief 3: 13. Jahrhundert bis 18. Jahrhundert. Hier besteht eine deutliche Lücke, denn keine einzige Figur ist mit dem Staatswesen des Großfürstentums Litauen, Ruthenien und Samogitien verbunden. Vytautas der Große war einer der mächtigsten Herrscher im Osteuropa des 14. und 15. Jahrhunderts, unter ihm erreichte das Großfürstentum seine maximale Ausdehnung – er ist nicht abgebildet. Großfürst Jogaila, der Begründer der litauisch-polnischen Union, fehlt ebenfalls. 

Warum wurde das Großfürstentum Litauen ausgespart? Weil es ein Staat war, in dem die Vorfahren der heutigen Belarussen die politische Elite stellten, in dem das Altbelarussische Verwaltungssprache war, in dem eine Rechtstradition herrschte, die sich von der Moskauer Variante unterschied. Das Großfürstentum ist eine historische Alternative, in der die Belarussen nicht Teil der Russischen Welt sein konnten. Für das Regime, das seine Legitimität auf der Integration mit Russland gründet, ist das eine gefährliche Perspektive. 

Dafür gibt es Franzisk Skaryna – allerdings als Aufklärer, nicht als Mensch der europäischen Renaissance. Auch Simeon von Polazk ist abgebildet, aber als Kirchenmann, nicht als Intellektueller und Vermittler zwischen den Kulturen. Dargestellt ist zudem Afanasij Fillipowitsch (Athanasius von Brest), ein orthodoxer Polemiker. Die Botschaft: Die belarussische Kultur des 13. bis 18. Jahrhunderts ist geprägt von orthodoxer Aufklärung, nicht von der staatlichen Tradition des Großfürstentums Litauen.  

Wandrelief 4: Ende 18. Jahrhundert bis Beginn des 20. Jahrhunders. Hier wird die gesellschaftliche und kulturelle Blüte der Nation vorgestellt – allerdings streng gefiltert. Wir finden die Klassiker der belarussischen Literatur, allerdings fehlt Kastus Kalinouski

Das ist besonders bezeichnend. Bis 2020 stand Kalinouski, der Anführer des Aufstandes gehen den Zarismus, in den Lehrplänen auf den Listen der belarussischen Helden. 2019 nannte Lukaschenko ihn gar „einen von uns“, und eine offizielle Delegation fuhr nach Vilnius, um an der Zeremonie der feierlichen Umsetzung der sterblichen Überreste des Revolutionärs teilzunehmen. Nach 2020 änderte sich alles. Der Aufstand von 1863 wurde nun als „polnisch und antibelarussisch“ dargestellt, die Figur Kalinouski in den Staatsmedien schwarzgemalt. Die Botschaft: Kultur- und Geistesleben der belarussischen Gesellschaft des 19. und20. Jahrhunderts sind nur in der „ungefährlichen“ Version akzeptabel: Literatur, Sprache und Volkskunde. Der politische Kampf gegen das Russische Imperium gehört nicht dazu. 

Wandrelief 5: 1917 bis 1991. Niemand hat daran gezweifelt, dass das Regime sich als Nachfolger der BSSR betrachtet. Kein einziger Vertreter der Belarussischen Volksrepublik (BNR) ist dargestellt, weder Wazlau Lastouski noch Jasep Ljossik noch Anton Luzkewitsch. Die Botschaft: Die sowjetische Tradition ist legitim, die nationaldemokratische ist es nicht. 

Uladsimir Karatkewitsch, einer der berühmtesten Schriftsteller der belarussischen Literaturgeschichte, hat keinen Platz in Lukaschenkos „Helden-Pantheon”. / Foto © Public Domain 

Wandrelief 6: Die Gegenwart. Hier finden wir zahlreiche Helden und Kulturschaffende. Bezeichnend ist, wer fehlt: Wassil Bykau, ein Schriftsteller, dessen Schaffen zum Symbol für die belarussische Literatur des 20. Jahrhunderts wurde, ein Existenzialist, dessen Helden unter widrigen Bedingungen tiefgreifende Gewissensentscheidungen treffen. Und auch Uladsimir Karatkewitsch fehlt, der belarussische Sienkiewicz, einer der Vorreiter des romantischen Nationalismus in der Literatur des Landes. 

Warum? Weil sie „problematisch“ sind – zu unabhängig, zu kritisch. Ihr Werk könnte zu Ungunsten des Regimes interpretiert werden. Man muss auch gar nicht grübeln, was zum Ausschluss geführt haben mag, denn die Vertreter des Regimes teilten die Gründe selbst mit. 

Wjatscheslaw Danilowitsch, stellvertretender Vorsitzender der Kommission des Ausschusses für Bildung, Kultur und Wissenschaft, legte im Fernsehsender CTV äußert offen die Auswahlkriterien dar. Seinen Worten zufolge ist Tadeusz Kościuszko inakzeptabel, weil er zwar dem lokalen Adel entstammte und auf belarussischem Gebiet geboren wurde, aber im Kampf um die Unabhängigkeit letztlich Interessen des polnischen Staates und der USA vertreten habe. Kalinouski, so führte er aus, sei ebenfalls eine uneindeutige Persönlichkeit gewesen. Die Regierung streiche niemanden aus der Geschichte, erklärte Danilowitsch, sondern betrachte objektiv die jeweilige Tätigkeit. Ins Pantheon soll nur eingehen, wer dessen wirklich würdig ist. 

„Wirklich würdig“ – wer ist das also? Der kaum bekannte Juri Jaroslawitsch, sowjetische Funktionäre, orthodoxe Heilige, „ungefährliche“ Kulturschaffende. Wer ist es nicht? Wer für Unabhängigkeit gekämpft, alternative Staatsprojekte begründet hat oder zum Symbol des Widerstandes werden könnte. 

Die Mär vom „Westrussentum” 

Die Zusammensetzung des Pantheons erklärt sich in gewisser Weise durch die seit 2020 verstärkte Abhängigkeit des Regimes vom Kreml. Lukaschenko braucht Figuren, die für Moskau akzeptabel sind. Er kann niemanden in das Pantheon aufnehmen, der gegen das Russische Imperium kämpfte (Kalinouski), einen alternativen Staat repräsentierte (die Anführer des Großfürstentums und der BNR) oder zum Symbol des Widerstandes werden könnte (Bykau, Karatkewitsch). Es braucht „ungefährliche“ Fürsten, die mit der Kiewer Rus in Verbindung stehen, orthodoxe Geistliche, sowjetische Politiker. 

Diese Hypothese erklärt viel, aber nicht alles. Der Prozess der Verdrängung der belarussischen Identität begann schon lange vor 2020. Der Politikwissenschaftler Waleri Karbalewitsch geht davon aus, dass das Regime das Feld für den Lukaschenko-Kult freiräumt. Herausragende historische Helden sind eine Konkurrenz für den „Vater der Nation“. Entfernt man sie alle aus dem öffentlichen Raum, bleibt nur noch ein Symbol – Lukaschenko selbst -- als „Begründer der Staatlichkeit“ seit 1994. Vor ihm war entweder das Chaos der 1990er oder die große sowjetische Vergangenheit oder vernebeltes Altertum. 

Das ist eine starke Hypothese. Sie erklärt aber noch nicht, warum das Pantheon so ideal der Doktrin des „Westrussentums“ entspricht. Das Russische Imperium begründete diese Ideologie nach den Teilungen der Rzeczpospolita: Belarus sei „ureigen russisches Land“, die Belarussen seien „Westrussen“. Das Großfürstentum und die Rzeczpospolita verkörperten ein „polnisches Joch“, von dem Russland das Brudervolk „befreit“ habe. 

Im 19. Jahrhundert war diese Doktrin institutionell unterlegt: Unter Nikolai dem Ersten war das Wort Belarus verboten, die Schulen wurden russifiziert, Unierte verfolgt, Loyalität – orthodoxe Geistliche, Beamte, Intellektuelle – wurde finanziell unterstützt. Im 21. Jahrhundert existiert der gleiche Mechanismus unter anderem Namen: Russki Mir. Ihm zufolge ist Belarus seit jeher Bestandteil der Russischen Welt und jede Bestrebung, eine separate Identität zu proklamieren, ein vom Westen aufgezwungenes „nationalistisches Projekt“.   

Der Staat schafft hier keine Nation. Der Staat konstruiert eine imaginäre Gemeinschaft besonderer Art 

Die Zusammensetzung des Pantheons sieht also aus, als hätten es Anhänger der Westrussentheorie erschaffen. Ist Lukaschenko also zur Geisel dieser Doktrin geworden? Wohl kaum. Es ist weitaus banaler. Lukaschenko braucht die Unterstützung des Kreml – und ein Pantheon, das Moskau akzeptiert, kann dabei helfen. 

Das Regime schafft eine imaginäre Gemeinschaft (nach dem Konzept von Benedict Anderson ist das unausweichlich, jede politische Macht tut das), aber es ist keine belarussische bürgerliche Nation im klassischen Sinne. Es ist ein hybrides Konstrukt, das die Herausbildung einer vollwertigen nationalen Souveränität blockiert.  

Der Staat schafft hier keine Nation. Der Staat konstruiert eine imaginäre Gemeinschaft besonderer Art – eine subnationale Identität der Peripherie im Rahmen einer viel größeren imperialen Gemeinschaft. Das neue offizielle Pantheon ist eines der Instrumente in diesem Prozess, eine Museumsmaschine, die nicht etwa eine belarussische, sondern eine „westrussische“ Erinnerung erschafft. 

Support dekoder
VG WORT:

Related topics

Gnose Belarus

Kein Tag der Einheit: der 17. September 1939

Am 17. September 1939 besetzte die Rote Armee die westlichen Gebiete des heutigen Belarus, die damals zu Polen gehörten und verleibte sie der Sowjetunion ein. Die Lukaschenko-Propaganda feiert dieses Ereignis deshalb als „Wiedervereinigung” – der 17. September wurde sogar zum nationalen Feiertag erklärt. Viktor Schadurski erklärt die Hintergründe zu einem der umstrittensten Tage der belarussischen Geschichte.

Gnose Belarus

Die Stadt Polazk

Polazk war eines der wichtigsten Zentren der früheren Rus’. Im Spätmittelalter entwickelte sich dort ein Ständesystem mit Teilhabe. Erst 1772 beziehungsweise 1793 wurde die Stadt Teil des Russischen Reichs. Die Umwälzungen von Polazk im 19. Jahrhundert sind Beispiel für die russische Kolonisierungspolitik an der Peripherie des Zarenreichs. 

Gnoses
en

Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
Support dekoder
Related topics
more gnoses
Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)