Die Revolution der Existenzform – eine Rede zur Lage von Belarus 

Der Philosoph Uladsimir Matskewitsch nach seiner Freilassung im Oktober 2025 / Foto © Violetta Savchits 

Wie geht es weiter in Belarus? Hat die Gesellschaft noch eine Chance auf Demokratisierung, die 2020 ihren Wunsch nach Wandel so eindrucksvoll auf die Straßen des Landes trug, – vor allem in Anbetracht der russischen Abhängigkeit, in die sich das Lukaschenko-Regime manövriert hat, und der brutalen Repressionen, mit denen der Machthaber jeglichen Widerstand bekämpft? In den belarussischen Exilgemeinden sind diese Fragen Bestandteil kontroverser Diskussionen.  

Der Philosoph Uladsimir Matskewitsch gilt als einer der streitbarsten öffentlichen Intellektuellen seiner Heimat. In den 1990er Jahren hat er an diversen Wahlen mitgewirkt, sowohl als Kandidat für unterschiedliche Parteien als auch als Wahlkampfberater. Zudem war er immer wieder an Bildungsreformen und -projekten beteiligt. Er war Unterstützer der Proteste im Jahr 2020 und gründete zusammen mit der Soziologin Tatsjana Wadalashskaja  die sogenannte „fliegende Universität“, eine mobile Bildungsplattform, die Dozenten in die Hinterhöfe von Minsk entsandte, wo sie vor Protestierenden Vorträge zu den Funktionsweisen demokratischer Gemeinwesen hielten. Matskewitsch wurde am 4. August 2021 festgenommen und 2022 zu fünf Jahren Haft in einem Straflager verurteilt. Am 11. September 2025 wurde er vorzeitig entlassen und nach Litauen deportiert.   

Für die Veranstaltung Freiheitsbewegung in Belarus: Eine Spurensuche, die am 28. November 2025 in Berlin stattfindet und die auch via Livestream übertragen wird, hat sich Matskewitsch mit den oben aufgeworfenen Fragen beschäftigt. In einer Rede, die er zu Beginn der Veranstaltung via Videocall vortragen wird, reflektiert er über die Massenproteste und ihre Folgen und macht Vorschläge, wie die Proteste von 2020 letztlich doch noch ihr Ziel erreichen könnten. dekoder veröffentlicht den Text in deutscher Übersetzung. 


Die Ereignisse von 2020 haben Belarus im Kern verändert. Sie haben sich unmittelbar auf die Beziehungen zwischen Belarus und seinen direkten Nachbarn und die EU ausgewirkt, die Lage in der Region verkompliziert und dazu beigetragen, dass das Landesgebiet durch den Aggressor im Krieg gegen die Ukraine ausgenutzt wurde. 

Als ich 2025 aus dem Gefängnis freikam, hatte ich erwartet, eine differenzierte und qualifizierte Analyse der Ursachen und Folgen jener Ereignisse vorzufinden. Fünf Jahre sind lang genug, um die Situation zu analysieren, zu interpretieren und kritisch zu hinterfragen; um gemachte Fehler zu korrigieren, Prognosen abzugeben und eine Strategie für die Entwicklung von Land und Gesellschaft zu erarbeiten. Zu meinem großen Bedauern konnte ich bisher keine Analysen, Interpretationen und kritische Betrachtungen finden, die befriedigend wären. Dieses Fehlen erklärt auch, warum politische und andere Akteure der belarussischen Emigration weder ein sinnvolles Programm noch eine konsequente Politik verfolgen. Diese Arbeit steht uns noch bevor. Zunächst müssen wir die Ereignisse von 2020 verstehen und einordnen, die Gründe und Faktoren, die dazu geführt und letztlich ihren Ausgang bestimmt haben. 

Es handelte sich nicht um einen Aufstand der Mittellosen, sondern einen Protest der Eigenständigen. 

Ich möchte diese Ereignisse als Revolution der Existenzform bezeichnen. Die belarussische Gesellschaft und einzelne Persönlichkeiten des 21. Jahrhunderts haben den Einfluss der Globalisierung, des technischen Fortschritts und der sozialen Veränderungen genauso stark gespürt wie andere postsowjetische Länder. Die einen nahmen die Innovationen bewusst an und passten sich ihnen an, die anderen lehnten sie ab und mussten sich dennoch wohl oder übel anpassen. Doch die staatlichen Strukturen blieben sowjetisch, archaisch, abgeschnitten von den Lebensbedingungen und dem Lebensstil des Großteils der Bürger. Spätestens 2018/19 steckte das Land in einer Krise, die aus dieser Diskrepanz folgte. Die Widersprüche verschärften sich während der Corona-Pandemie, bis der Wahlkampf 2020 der Gesellschaft endlich die Möglichkeit bot, ihre Forderungen gegenüber der Staatsmacht zu formulieren. 

Die außergewöhnlich hohe Aktivität der Wähler zwischen Mai und August 2020 war getragen von dem Glauben der Belarussen an demokratische Werte und faire Wahlen, alle Handlungen standen im Einklang mit dem Gesetz. Die Durchführung von Wahlkampfveranstaltungen, Demonstrationen und Protestaktionen war maximal diszipliniert. 

Es ist wichtig zu sehen und zu bedenken, wie politisch und ideologisch amorph und unbestimmt die Wahlkampfslogans und Erklärungen waren. Sie enthielten zum einen keine wirtschaftlichen Forderungen; die Teilnehmenden der Wahlkampfveranstaltungen und Protestaktionen repräsentierten in ihrer Masse die Mittelschicht, zumeist die obere – Menschen, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienten und weder Leistungen noch Privilegien vom Staat forderten. Es handelte sich nicht um einen Aufstand der Mittellosen, sondern einen Protest der Eigenständigen. 

Sie enthielten nicht einmal politische Forderungen, abgesehen von der üblichen Wahlkampfrhetorik. Besonders wichtig zu betonen ist, dass keiner der Kandidaten auf einen Sieg hoffte oder damit rechnete, an die Macht zu kommen. Die Leitprogramme von Viktor Babariko und Swetlana Tichanowskaja beschränkten sich lediglich auf die Forderung an die Regierung, ihre Interessen zu berücksichtigen und ihnen Rechnung zu tragen. Als sich abzeichnete, dass Tichanowskaja die größte Unterstützung genießt und die Wahlen gewinnt, beschränkten sich ihre Forderungen darauf, neue Wahlen nach demokratischen Standards und unter Einbeziehung der ausgeschlossenen Kandidaten durchzuführen. Es herrschte der Konsens, dass Babariko in größerem Maße darauf vorbereitet war, das neue Staatsoberhaupt zu werden. 

Doch Babariko selbst saß zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis und bereitete eine Ansprache an seine Unterstützer vor, in der er sie dazu aufrief, eine Partei zu gründen, um Druck auf die Regierung auszuüben. Von einer Machtergreifung sagte er nichts. 

Bei dieser Revolution der Existenzform fehlte also die entscheidende, politische Komponente, die Frage nach der Machtübernahme wurde nicht gestellt. Das war der größte Fehler und der Grund für die Niederlage. 

Der Fehler besteht darin, das Simulieren staatlicher Strukturen und Institutionen durch das belarussische Regime für einen echten Staat zu halten. Seinem Wesen und Sinn nach stellt Lukaschenkos Regime eine organisierte kriminelle Gruppierung dar, einen Verein, der die staatlichen Strukturen für seine korporativen Interessen ausbeutet. Seit 1996 gibt es im Land weder ein Parlament noch ein Gericht noch eine regionale Selbstverwaltung, es gibt keine vom Staat unabhängige Kirche, keine unabhängigen Medien. Alle diese Simulationsstrukturen sind durchweg von Personen besetzt, die persönlich von Lukaschenko abhängig sind und seinen Willen erfüllen anstatt der herrschenden Normen und Gesetze. 

Einer organisierten kriminellen Gruppierung kann nur eine organisierte, zielgerichtete und motivierte Gesellschaft Widerstand leisten. Ein solcher Zustand der Gesellschaft ist aufgrund ihrer Heterogenität und Heteromorphie äußerst schwer zu erreichen. Doch im August 2020 war die belarussische Gesellschaft gut organisiert und hochmotiviert, allerdings fehlte ein klares Ziel. Dieser Zustand hielt zwei bis drei Wochen an. Im September zerfiel die Koalition aus den drei Wahlkampfteams von Tichanowskaja, Babariko und Zepkalo, die symbolischen Anführer wurden verhaftet. Der amorphe und ziellose Koordinierungsrat war unfähig, die Organisiertheit und Motivation aufrechtzuerhalten. Die Proteste gingen ein paar Monate aus Gewohnheit weiter, wurden zu einem Ritual. Das Regime erholte sich von dem Schock und setzte eine Repressionsmaschine in Gang, die nun schon seit fünf Jahren ihr Werk verrichtet. Dutzende von Menschen sind ermordet und zu Tode gequält worden, Dutzende durch Gefängnisse, Lager und Kurzzeitarreste gegangen, haben Freiheitsbeschränkungen, Kündigungen und Konfiskationen von Besitz über sich ergehen lassen müssen. 

Tausende sitzen immer noch hinter Gittern, und es werden immer mehr. Hunderttausende Belarussen waren gezwungen, das Land zu verlassen, viele unter Androhung von Gewalt. Zum ersten Mal in der belarussischen Geschichte ist eine riesige Diaspora entstanden, die weder ihre Verbindungen zur Heimat kappt noch den Kampf gegen das Regime aufgibt. 

Doch eine solche Haltung Diaspora ist nur eine temporäre Erscheinung. Unter den zahlreichen Emigranten und Geflohenen zeichnen sich unterschiedliche Tendenzen ab: Ein kleinerer Teil politisiert sich und richtet sich auf die Fortsetzung des Kampfs ein; ein großer Teil der Exilanten ist bemüht, seinen Platz in den neuen Gegebenheiten zu finden und assimiliert sich in den Aufnahmeländern. Und dann gibt es noch einen Teil, der enger mit denen verwoben ist, die in Belarus geblieben sind, und der an einem Scheideweg steht. Diese Menschen wollen sich nicht assimilieren und für immer in der Emigration bleiben, aber sehen auch keine Perspektive, in einer nahen Zukunft in ihre Heimat zurückzukehren, sie sehen keine Chance auf einen Regimewechsel. Und keine dieser Gruppen kann ihren Landsleuten helfen, die in Belarus bleiben. Die Kluft aus Unverständnis zwischen denen, die gegangen, und denen, die geblieben sind, wächst. 

Die Aufgabe, die jetzt vor uns liegt, besteht darin, die Verständigung zwischen den Menschen innerhalb und außerhalb des Landes wiederherzustellen. 

Was müssen wir gerade jetzt über Belarus und die Belarussen wissen, sowohl die einen wie die anderen? 

Erstens: Die Ursachen der Krise, die zur Revolution der Existenzform 2020 geführt haben, sind nicht behoben. Im Gegenteil, die Widersprüche zwischen der Art und Weise zu leben, die die Menschen jeweils annehmen, bleiben nicht nur bestehen, sondern verschärfen sich zunehmend. Diese Widersprüche führen nur deshalb nicht zu einem aktiven Ausbruch, weil im Land Terror und Gewalt herrschen. 

Zweitens: Die totale Unterdrückung aller Rechte und Freiheiten im Land verhindert, dass sich die Bürger selbst organisieren und verteidigen. Das führt zu einer Atomisierung der Gesellschaft, macht zivilgesellschaftliche Kommunikation und damit den Austausch von Ideen und Vorschlägen unmöglich. Es verunmöglicht auch solidarische Handlungen und selbst das koordinierte Reflektieren dessen, was geschieht. 

Drittens: Die Belarussen im Exil sind frei. Hier ist eine breit aufgestellte Kommunikation zwischen Politikern, Experten, Fachleuten, Aktivisten und Freiwilligen möglich, zwischen Unternehmern und Businessleuten, die Initiativen und Vorhaben finanzieren könnten. Hier besteht die Möglichkeiten, sich in handlungsfähigen, zielgerichteten Strukturen zu organisieren. 

Das heißt, innerhalb Belarus’ gibt es zwar die Energie und Motivation für Veränderungen im Land, aber es gibt keine Ideen und Vorschläge. Und außerhalb, in der Emigration, können zwar Ideen und Vorschläge erarbeitet und Ziele gesteckt werden, aber es gibt keine Energie und Kraft für deren Realisierung. 

Die Aufgabe, die jetzt vor uns liegt und die wir schleunigst angehen sollten, besteht darin, die Verständigung zwischen den Menschen innerhalb und außerhalb des Landes wiederherzustellen, um die Energie in Belarus aus einem potentiellen in einen aktiven Zustand zu überführen und diese Energie darauf zu richten, die organisierte kriminelle Gruppierung, die im Land herrscht, zu beseitigen. Also darauf, was 2020 hätte getan werden müssen und nicht getan wurde. 

Lässt sich eine solche Aufgaben lösen? 

Sicher. Die Freisetzung der Energie, die sich in der belarussischen Gesellschaft angestaut hat, kann durch unberechenbare Faktoren ausgelöst werden. Zum Beispiel durch das Ende des Krieges in der Ukraine. Oder die Schwächung des Putin-Regimes in Russland. Oder etwas ganz anderes (denken wir an Covid). Gleichzeitig kann eine Freisetzung der Energie die Form einer unkontrollierten Explosion annehmen (fast wie 2020), oder aber man kann sie auf eine vernünftige Arbeit mit pragmatischen Zielen lenken. 

Solche Ziele müssen gesteckt und die Arbeit daran verbessert werden. 

Bislang kennen wir ein mittelfristiges Ziel – Rückkehr. Die Rückkehr ins Land, die Rückkehr des Landes zu Demokratie und Fortschritt, die Rückkehr zu normalem Leben und Arbeit. Wir haben auch eine Vorstellung von den langfristigen Zielen: Entsowjetisierung, Belarussifizierung und Europäisierung. 

Doch wir verbeißen uns in Konflikten und im Streit um kurzfristige Ziele, konkurrieren um Ressourcen, die für die Umsetzung notwendig sind. Die einzige Möglichkeit, diese Konflikte, die Streitigkeiten und die Konkurrenz beizulegen, die ich kenne, ist der Dialog. Ein breiter gesellschaftlicher Dialog und lokale private Gespräche zwischen den Konfliktparteien und konkurrierenden Subjekten und Akteuren, die in den Gesamtprozess eingebunden sind. Wir müssen keinen Konsens in allen Problemen und Fragen erreichen. Aber wir sollten vorübergehende Kompromisse bei der gemeinsamen Umsetzung der nächsten Ziele anstreben. Denn solange die nächsten und kleineren Ziele nicht erreicht sind, können wir nicht die großen und weiter entfernten Ziele anstreben – hin zu einem demokratischen, europäischen Belarus.