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Dmitry Markov: Лето – Sommer

Dmitry Markov, geboren 1982 in der Oblast Moskau, nahm in der russischen Fotoszene einen besonderen Platz ein. Als Dokumentarfotograf war er kein Beobachter von außen, vielmehr nahm er am Geschehen seiner Bilder und am Leben seiner Protagonisten aktiv und leidenschaftlich teil.

Mitte der 2000er Jahre wechselte Markov aus der Journalistik in den Bereich Sozialarbeit. Sein fotografisches Thema waren Menschen in der russischen Provinz und das grausame Leben, dessen Abbildungen auf Russisch oft als tschernucha (dt. in etwa Schwarzmalerei) bezeichnet werden. Für Markov waren es aber in erster Linie Menschen, die als Menschen respektiert werden müssen.

Bekannt wurde Markov vornehmlich durch das Internet. Als visuelle Notizen für Sozialarbeit öffnete er ein Instagram-Account, dem 2024 über 880.000 Menschen folgen. Für seine Fotos wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem als erster russischer Fotograf mit dem Getty Images Instagram Grant (2015).

Am 16. Februar 2024 ist Markov im Alter von 41 Jahren gestorben. dekoder veröffentlicht einige Aufnahmen aus seiner umfangreichen Serie vom Sommer 2018 und lässt den Fotografen in einem Interview mit The Village selber zu Wort kommen.

(aktualisiert am 23. Februar 2024)

Quelle dekoder

„Ich habe mir diese Menschen nicht ausgedacht“ - Fotos © Dmitry Markov

The Village: Warum fotografieren Sie mit dem iPhone und nicht mit einer guten Kamera?
Dmitry Markov: Alle wollen da immer einen Grund für finden. Warum soll ich denn bitteschön nicht mit meinem Telefon fotografieren? Es ist bequem für mich, mit dem iPhone mache ich meistens die Aufnahmen, die ich später bei Instagram hochlade. Am beliebtesten sind die Fotos, die mir persönlich ziemlich banal erscheinen. Es gibt eine Reihe recht abgedroschener Motive, die man endlos reproduzieren kann und sie bewegen die Menschen trotzdem, wenn sie sich mit Fotografie nicht besonders auskennen. Aber ich finde es langweilig, weil ich dieses Motiv schon tausendmal gesehen habe. Das, was mich interessiert, findet manchmal überhaupt keine Resonanz. Die Jungs, die Saltos von Garagen machen, sind so ein typisches, abgenutztes Motiv, das es schon tausendfach gibt. Da finde ich zum Beispiel ein Foto, das den Blick eines Jungen vor einem Häuserblock einfängt, viel interessanter.

Bei Ihren Protagonisten handelt es sich oft um Arme, Minderjährige, Betrunkene. Denken Sie, dass ein Fotograf das Recht hat, fremdes Leben dem Blick der Öffentlichkeit preiszugeben? Ist es ethisch vertretbar, Straßenfotografie im Netz hochzuladen? 
Einmal war ich in Pskow in einem Sammeltaxi unterwegs, ein Fahrgast war auf Drogen und völlig fertig. Als er abgeführt wurde, habe ich reflexartig ein Bild gemacht, dieses Foto habe ich selbstverständlich nirgendwo veröffentlicht. Der Mann war nicht gerade in einem ansehnlichen Zustand und man konnte sein Gesicht erkennen. Wenn ich einfach nur Menschen auf der Straße fotografiere, gehe ich von meinen eigenen Moralvorstellungen aus: Bilder, die mir unangemessen erscheinen, veröffentliche ich nicht. Wenn ich ein Foto von einem Betrunkenen hochlade, bin ich nicht weniger betrunken als er und wir sind Freunde. Ich weiß ja: Das ist mein Kumpel Wassja und später wird er das Bild, wo man ihn mit der Schnauze auf die Haube eines Polizeiwagens drückt, als sein Profilbild übernehmen. Petja dagegen mag solche Bilder nicht, wir sind einfach Freunde, verbringen Zeit zusammen, aber Aufnahmen von einem betrunkenen Petja kommen nicht ins Netz.

Sergej Maximischin nannte Russland einmal das am wenigsten fotografierte Land der Welt. Sehen Sie das auch so?
Ja, genauso ist es. Klar, ich war auch in Nord- und Südamerika, aber da habe ich nichts fotografiert. Wozu soll ich schon in New York fotografieren? Da gibt es genug Leute, die das übernehmen können. Aber wenn ich durch Russland fahre, scheint mir jede weitere Aufnahme wie ein Puzzleteil für mein großes Gemälde.

Sie sind es sicher gewohnt, dass Ihre Bilder hart kritisiert werden. Mit Ihren Augen betrachtet erscheint Pskow als eine äußerst trostlose Stadt.
Ich denke, die Menschen sollten ihre eigenen Augen benutzen, finden Sie nicht? Die Dinge auf ihre Weise ansehen. Ich fotografiere das, was mich interessiert. Es heißt nicht umsonst, Schönheit liege im Auge des Betrachters. Wenn ein Mensch nur das Objekt meines Fotos sieht, beispielsweise einen Invaliden oder einen betrunkenen Soldaten, und nichts als negative Assoziationen hat – was soll ich dem schon sagen? Das Einzige, was mich stört, ist, wenn meine Follower meine Protagonisten durch den Dreck ziehen. Diese Fallschirmjäger sind, egal wie sie gerade aussehen, nach wie vor die Verteidiger unseres Vaterlandes.

Und haben das Recht, sich manchmal gehen zu lassen?
Genau. Auch ich bin alles andere als perfekt in dieser Hinsicht. Und der Mensch, der diese beleidigenden Kommentare schreibt, war sicher auch schon mal in so einer Situation. Und auch Obdachlose sind Bürger unseres Landes wie alle anderen. Wenn jemand schreibt: „Mit diesen Fotos entstellen Sie das Bild Russlands“, frage ich mich: Welches verf*** Bild? Ich habe mir diese Menschen nicht ausgedacht, sie nicht verkleidet oder irgendwo ausgegraben. Sie interessieren mich, so wie Giljarowski die Leute in den Obdachlosenheimen der Chitrowka interessiert haben. Wenn das jemandem unangenehm ist, was ich gar nicht ausschließe, zwingt ihn ja niemand, sich meine Bilder anzusehen, sich zu quälen und diesen Kaktus trotzdem zu fressen. Außerdem gibt es wesentlich mehr Menschen, die mit dem, wie ich die Dinge sehe, etwas anfangen können.

Früher haben Sie als Journalist bei Argumenty i Fakty gearbeitet. Wie sind Sie zur Fotografie und karitativen Arbeit gekommen?
Ich wurde mal in ein Kinderheim eingeladen, um ein paar Fotos zu machen. Ich fuhr einmal hin, dann noch ein paar Mal, und bin dabei geblieben. Das war 2005, der Freiwilligendienst in Russland war erst im Entstehen. 2007 kam ich in ein Heim in der Oblast Pskow, dort suchte man Freiwillige für die Arbeit mit geistig behinderten Kindern. Ich meldete mich für die Gruppe der Ältesten. Kleine Kinder zu fotografieren ist ziemlich einfach, sie sind viel offener, aber mit Jugendlichen ist es schwierig, ich habe die Herausforderung gesucht. Einen Monat habe ich in dem Heim gearbeitet und bin dann noch lange dort geblieben.

Diese Arbeit wird nicht besonders gut bezahlt. Hatte das keinen Einfluss auf Ihre Entscheidung?   
Nein. Damals hatte mich das Leben dort so gepackt. Da war etwas, das ich im Journalismus lange vermisst hatte: Ich konnte mich eingehend mit einem Thema beschäftigen. Zunächst war ich freiwilliger Helfer in einem Kinderheim, danach habe ich mit den Jugendlichen, die aus dem Kinderheim herauskamen, gearbeitet. Als eine Einrichtung für diese Jugendlichen eröffnet wurde, habe ich dort als Erziehungshelfer gearbeitet. Ich fing an, viele soziale Fragen besser zu verstehen als der Durchschnittsbürger.

Es heißt oft, die Sozialfotografie sei eine Art Spekulation, man fotografiere Motive, bei denen man davon ausgeht, dass sie den Leuten ans Herz gehen.
Das sehe ich auch so. Mein Lehrer Alexander Lapin hat meine Fotografien aus dem ersten Jahr überhaupt nicht ernst genommen. Erst als ich aufs Dorf zog und mich mit dem Leben der Waisen und benachteiligten, in Obhut genommenen Kinder wirklich vertraut gemacht hatte, nahm er mir ab, dass ich das Thema nicht einfach ausbeute, sondern es mich wirklich beschäftigt. Wahrscheinlich ist es nicht sehr nett, das zu sagen, aber ich habe ein moralisches Recht, diese Kinder und Jugendlichen zu fotografieren, mit denen ich mehrere Jahre zusammengelebt habe. Es gibt viele andere und einfachere Möglichkeiten, sich einen Namen zu machen. Ich hätte nie gedacht, dass es auf Instagram solche Wellen schlagen würde. Während meiner Arbeit im Internat und beim Fonds fotografierte ich mit einer einfachen Kamera, aber irgendwann kam ich in eine Sackgasse. Entweder war das Thema erschöpft oder meine Ideen. Ein Jahr lang habe ich die Kamera nicht angerührt. Instagram hatte ich mir nur zum Spaß zugelegt, einfach um an der Fotografie dranzubleiben. 


Fotos: Dmitry Markow
Bildauswahl: Olga Osipova / Bird in Flight
Interview: Aljona Kork / The Village (27. Oktober 2017, gekürzt)
Übersetzung: Maria Rajer
Veröffentlicht am 09.10.2018

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Behinderung und Inklusion

In einem Interview für das russische oppositionelle Magazin The New Times erzählte die landesweit bekannte Politikerin Irina Chakamada von einer Begegnung in einem Moskauer Café: Sie saß am Tisch, und um sie herum saßen „Hipster-Intellektuelle“, aus dem Umfeld, in dem Brodsky und Solschenizyn gelesen werden. Plötzlich sagt ein „junger und sehr fortschrittlicher“ Mann: „War neulich in Holland, kam in ein Café rein, und einer der Kellner war da mit Down-Syndrom! Mist, ich möchte diese Missgebildeten nicht sehen.“ Chakamada ist selbst Mutter eines Kindes mit Trisomie 21 und hat geschwiegen. Jahrelang habe sie sich nicht getraut, über die Behinderung ihres Kindes öffentlich zu reden, erzählt sie im Interview.

Auch wenn in Russland circa 14 Millionen Menschen leben, die durch irgendeine Eigenschaft ihres Körpers oder Geistes beeinträchtigt sind, begegnet man ihnen nur sehr selten in der Öffentlichkeit. Sie sind nicht Teil von Kultur und Medien, sie sind weitgehend ausgeschlossen von Bildung und Arbeitsmarkt. Es wird auch vermieden, über sie zu reden.

Will man sich dem Phänomen Behinderung in Russland nähern, muss man also auf die Gesellschaft als ganze in ihrer historischen Entwicklung schauen.


In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Gesellschaft ohne Defekte

Lag die soziale Fürsorge für körperlich und geistig beeinträchtigte Menschen früher vor allem bei der Familie oder in Einrichtungen der Orthodoxen Kirche, entdeckte im 19. Jahrhundert der zaristische Staat – genauso wie viele Regime Westeuropas zur selben Zeit – seine Verantwortung für diesen Teil der Bevölkerung. Der damit einhergehende Ausbau eines weitreichenden Anstaltsystems verfestigte auch ein allgemeines Verständnis von Behinderung als zu heilender Krankheit.

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts waren es aber überwiegend die Kriegsversehrten, die insbesondere nach den beiden Weltkriegen ins Zentrum sozialstaatlicher Bemühungen rückten. Allerdings änderte sich der Umgang mit Behinderung in der Nachkriegszeit: Vor dem Hintergrund der Industrialisierung und Modernisierung, die zu sozialistischer Staatsideologie wurden, musste jeder am Aufbau einer Gesellschaft ohne „Probleme und Defekte“ teilnehmen. Wer nicht dazu beitrug, sollte auch keine Wohlfahrt empfangen.

Die vom Psychologen Lew Wygotzki (1886–1934) in den späten 1920er Jahren entwickelte Lehre der „Defektologie“, die Behinderung als soziale Falschverortung aufgrund physischer und psychischer Schädigungen verstand, wurde zur dominanten pädagogischen und sozialpolitischen Doktrin. Demnach sollten Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit in Anstalten separiert werden. Das führte zu einer Marginalisierung und Stigmatisierung dieser Menschen und ihrer Familien. Bis in die 1970er Jahre hinein, als sich die russische Allgemeinbezeichnung invalid (ursprünglich nur für Kriegsversehrte benutzt) etablierte, verortete man behinderte Menschen auch nur in der Kategorie der Arbeitsunfähigkeit.

Bei der Ausübung staatlicher Wohlfahrtsaufgaben für Menschen mit Behinderung waren damals, und sind heute noch immer, große, landesweite Verbände maßgeblich, die soziale Dienstleistungen erbringen und geschützte Arbeitsbereiche unterhalten. Als nichtstaatliche Organisationen (NGO) registriert, existieren sie in allen Regionen und Städten, haben es aber aufgrund ihrer finanziellen und institutionellen Abhängigkeit vom Staat schwer, an dessen Wohlfahrts- und Sozialpolitik Kritik zu üben.

Graswurzelinitiativen

Mit dem Ende der Sowjetunion brach staatliche soziale Sicherung, die vor allem über den Arbeitsplatz organisiert wurde, für weite Teile der Bevölkerung weg. Das entstandene äußerst prekäre Vakuum versuchten nichtstaatliche Graswurzelinitiativen, vor allem Selbsthilfegruppen, zu füllen, um elementare Bedürfnisse behinderter Menschen zu sichern. Akteure internationaler Entwicklungszusammenarbeit sorgten in den 1990er Jahren für Know-How und für dringend benötigte materielle sowie finanzielle Ressourcen. Diese NGO-Akteure aus Westeuropa und den USA erweiterten nachhaltig den Möglichkeitshorizont ihrer russischen Partner durch Erfahrungsreisen ins Ausland und eine Vielzahl von Seminaren und Publikationen.

Dieser internationale Austausch ermöglichte auch eine Fokusverschiebung unter russischen Menschen mit Behinderung und ihren Unterstützern hin zur Notwendigkeit gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe und der Realisierung von bürgerlichen, wirtschaftlichen und politischen Rechten.

Das wurde Mitte der 1990er Jahre auch von der Politik aufgegriffen, in gesetzlichen Regelungen festgeschrieben und in staatlichen Förderprogrammen verbreitet. Russland hat sogar die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben und formal ratifiziert. Allerdings stellt die tatsächliche Umsetzung ein großes und langwieriges Problem dar. Es fehlt nicht nur an formalen Realisierungsmechanismen und Anti-Diskriminierungsregeln auf lokaler Ebene, da föderale Gesetze oft lokalen normativen Akten widersprechen. Es fehlt oft auch an Verständnis und Einsicht von unkontrollierten Beamten, die vorhandenen Regelungen tatsächlich anzuwenden. Daher hat sich an der schwachen und marginalisierten sozial-ökonomischen Position von Menschen mit Behinderungen in Russland nur wenig geändert.

In- versus Exklusion

Praktisch in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen sind Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen mit hohen Barrieren gegen ihre Teilhabe konfrontiert. Wenn Behinderung während der Schwangerschaft festgestellt wird, raten Ärzte Schwangeren oft zu Abtreibungen oder nach der Geburt zur Abgabe des Kindes in staatliche Heime. Die Heime werden in der Gesellschaft immer noch als einzig adäquate Lösung für das „Problem“ Behinderung angesehen. Obwohl ein langsamer Abbau der Heime läuft, sind Fälle von Vernächlässigung, Gewalt und Freiheitsberaubung in den immer noch weitläufig existierenden Einrichtungen verbreitet.1

Besserung geht oft von nichtstaatlichen Initiativgruppen und Organisationen aus, die Tagesbetreuung für bedürftige Kinder oder ambulante Hilfen für Menschen mit Behinderungen aufbauen. Doch all diese Bemühungen sind nicht systematisch, sondern beschränkt auf lokale Initiativen. Die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung hängt davon ab, wo sie in Russland leben und ob es dort Engagierte gibt, die sich für ihre Belange einsetzen.

Marginalisierte gesellschaftliche Stellung

Wenn sich Eltern dafür entscheiden, ihr Kind in der Familie zu behalten, sehen sie sich oft größten Schwierigkeiten ausgesetzt. Integrative Kindergärten oder Schulen sind auch in großen Städten wie Moskau und St. Petersburg eine Ausnahme. Auch der Arbeitsmarkt hält so gut wie keine Mechanismen zur Integration bereit, abgesehen von Strafzahlungen in moderater Höhe für die Nichteinhaltung von ohnehin geringen Behindertenquoten. Körperlich oder geistig beeinträchtigte Menschen können in der Regel nur in geschützten, aber auch sehr begrenzten Werkstätten in den großen Behindertenverbänden arbeiten. Es gibt zwar staatsunabhängige Programme zur speziellen Arbeitsplatzschulung in Zusammenarbeit mit großen, meist internationalen Firmen. Diese existieren jedoch wiederum nur in den großen Metropolen.

Zudem ist generell der öffentliche Raum nicht barrierefrei. Ganz im Gegenteil: Fahrstühle, Rampen, Blindenschrift, Tonsignale etc. fehlen in öffentlichen Verkehrsmitteln und Behörden. Erst als in der Vergangenheit Betroffene erfolgreich gerichtlich, wieder mit Hilfe von NGOs, gegen verwehrten Einstieg oder das Fehlen von Rollstuhleignung geklagt haben, sind nun die meisten Fluglinien und die Russische Eisenbahn auf besonderen Bedarf eingestellt.

Negative Einstellungen

Die marginalisierte gesellschaftliche Stellung von Menschen mit Behinderung geht einher mit den deutlich negativen Einstellungen vieler Russen ihnen gegenüber. In der Sowjetunion wurde die soziale Distanz zementiert durch die ideologisch bedingten Label des Defekts und der Leistungsunfähigkeit. Auch heute sind negative Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung immer noch weit verbreitet und behindern buchstäblich die gesellschaftliche Integration. Obwohl viele Russen dieser im Allgemeinen positiv gegenüber stehen, zeigen sich in konkreten sozialen Situationen Distanz und Abwehr.

Diese Situation zu ändern ist eines der wichtigsten Anliegen von Behindertenaktivisten im heutigen Russland. Dabei ist es im Vergleich zu ihren Partnern in anderen europäischen Ländern meist kontraproduktiv, sich auf den globalen Menschenrechtsdiskurs zu beziehen, da dieser institutionell als auch kulturell nur sehr schwach in der russischen Gesellschaft verankert ist. Auch Demonstrationen und Proteste im öffentlichen Raum scheinen kein guter Weg, gesellschaftlichen Wandel anzustoßen. Daher konzentrieren sich die Aktivitäten von NGOs besonders auf den kulturellen Bereich, zum Beispiel mit Filmfestivals und Fotografie, und auf den Wandel von zwischenmenschlichen Beziehungen, zum Beispiel mit Freundschaftsprogrammen und journalistischen Arbeiten, um in aufklärerischer Manier den Umgang mit beeinträchtigten Menschen zu normalisieren.2

Doch Fortschritte in der sozialen Integration der behinderten Menschen hängen stark von den jeweiligen allgemeinen gesellschaftlichen Umständen ab. Die aufklärerischen und inklusiven Aktivitäten russischer Behindertenaktivisten sind momentan äußerst eingeschränkt. Kritik an staatlicher Sozialpolitik und ihrer Integrationsleistung ist mit hohem Risiko für den Aktivitätsspielraum der Engagierten verbunden. Das hängt vor allem mit der restriktiven Beziehung des russischen Staates gegenüber Menschenrechtsorganisationen und gegenüber internationaler Kooperation im zivilgesellschaftlichen Bereich zusammen. Auch die NGOs, die keiner politischen Tätigkeit nachgehen, gehen das Risiko ein, aufgrund ausländischer Finanzierung und staatskritischen Aktivitäten zu sogenannten ausländischen Agenten erklärt zu werden.

Der staatliche Fokus auf die Förderung von nichtstaatlichen sozialen Dienstleistungen drückt Menschen mit Behinderung wieder in eine Situation, in der ihre physischen und geistigen Abweichungen im Vordergrund stehen, und nicht die Ausweitung ihrer Teilhabe am „normalen“ gesellschaftlichen Leben. Stichworte wie Selbstermächtigung und Selbstbestimmung sind daher nicht im gesellschaftlichen Diskurs über Behinderung zu finden. Einer tatsächlichen sozialen Integration steht eben auch das nicht-demokratische gesellschaftliche Regime in Russland entgegen, das kulturelle, politische, und soziale Ausgrenzungsmechanismen reproduziert.


1. So gibt es immer wieder Fälle, in denen behinderte Menschen an Betten gefesselt, geschlagen, eingesperrt oder sozial komplett ignoriert werden.
2. Vorbildlich scheint in diesem Zusammenhang das Medien-Projekt Takie dela, das einerseits die Leser auf soziale Probleme aufmerksam macht, andererseits Geld für die Förderung der gemeinnützigen Einrichtungen sammelt. Wie aber das Medium selbst, so gehört auch die Bereitschaft, sich finanziell und tatkräftig einzusetzen, zu einer gesellschaftlichen Nische.

Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

 

Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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Sozialprotest

Weit verbreitet sind in Russland Proteste zu Sozialthemen wie Lohnrückstände, Sozialabbau oder LKW-Maut. Im Gegensatz zu Protestaktionen der Oppositionellen und Aktionskünstler wird jedoch über sie gerade von den westlichen Medien selten berichtet. Die Aktionsformen reichen vom Bummelstreik bis zur Selbstverbrennung. Von einigen Beobachtern als unpolitisch abgetan, gilt der Sozialprotest anderen als der wahrhaft politische, da es um konkrete Interessen statt eines abstrakten Wandels geht.

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Lesben, Homosexuelle, Bisexuelle und Transsexuelle werden diskriminiert, überall sehen sie sich mit aggressiver Homophobie konfrontiert. Doch die LGBT-Szene existiert weiter und organisiert sich – auch nachdem ein restriktives Gesetz gegen sogenannte „homosexuelle Propaganda“ in Kraft getreten ist. Der Weg führt sie ins Internet – Ewgeniy Kasakow gibt einen Einblick in Geschichte und Organisationsformen der LGBT-Community in Russland. 

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