
Fünf Jahre nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen und Massenprotesten in Belarus verfolgt das Lukaschenko-Regime Andersdenkende weiter mit scharfen Repressionen, Menschen werden inhaftiert und aus dem Land getrieben. Ebenso gehen die „Säuberungen“ im NGO-Bereich weiter, Lawtrend zufolge wurden in den vergangenen fünf Jahren mindestens 1950 Organisationen verboten, an deren Stelle nun systemtreue Initiativen und Bewegungen entstehen.
Von Januar bis Anfang September 2025 wurden 170 Belarussen begnadigt und freigelassen, gleichzeitig aber 283 neu als politische Gefangene anerkannt. Ganze Familien werden verfolgt, in allen Landesteilen. Solidaritätsbekundungen werden nachträglich zu Straftaten erklärt. Andrej Tschapjuk, Menschenrechtsaktivist bei Wjasna, betonte auf der Warsaw Human Dimension Conference der OSZE: „Es entsteht die Illusion, im Land sei eine Lockerung im Gange, doch tatsächlich wird die Gesetzgebung immer grausamer und die Zahl der Verhaftungen steigt.“
Auf welchem Niveau befindet sich die heutige politische Verfolgung in Belarus? Sind die Repressionen vergleichbar mit denen von 1937 oder übersteigen sie sie gar? Für eine zweiteilige Publikation, deren Übersetzung wir in Kooperation mit Voxeurop veröffentlichen, hat das belarussische Online-Medium Salidarnasc/GazetaBY mit ehemaligen politischen Gefangenen, Menschenrechtsaktivistinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft gesprochen.
Wie das Regime an Stärke gewann
Aleh Aheeu, Leiter der Rechtsabteilung des Belarussischen Journalistenverbandes (BAJ), sprach über das aktuelle Repressionsniveau in Belarus und den neuen Rekord bei der Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit.
„Um das Maß der Repressionen zu beziffern, muss man ein Koordinatensystem festlegen“, sagt Aleh Aheeu, stellvertretender Vorsitzender und Leiter des Rechtsabteilung des BAJ, im Interview mit GazetaBY/Salidarnasc. „Im Jahr 1937 gab es in Europa Repressionen sowohl in der Sowjetunion als auch im nationalsozialistischen Deutschland. Um die Größenordnungen korrekt zu vergleichen, muss man aus meiner Perspektive eines Laien-Historikers zwei Zahlen gegenüberstellen: die Bevölkerungszahl und die Zahl der Menschen, die von Repressionen betroffen waren. Eine genaue Statistik gibt es natürlich nicht.
Was man aber mit Sicherheit sagen kann: In den 30 Jahren der Lukaschenka-Herrschaft sind politische Repressionen zu einem üblichen Instrument der Machthaber geworden. Die Verfolgung kam in Wellen von unterschiedlicher Stärke. Repressionen begannen vor fast jeder Präsidentschaftswahl im unabhängigen Belarus, und nahmen danach wieder ab, es gab Versöhnung, Begnadigungen, ein paar Jahre ruhigeren Lebens – und mit den nächsten Wahlen kam wieder eine Repressionswelle. Das sagt viel darüber aus, wie sich die Machthabenden auf dem Gebiet eines Landes, im Verlauf der Regierungszeit eines Regimes zu ihren Pflichten, ihren Bürgern und dem Aufbau des Sicherheitsapparates verhielten.
Wenn ich mich nicht irre, war es 2016, als Belarus die Anzahl der Sicherheitskräfte zur Geheiminformation machte. Heute findet man dazu keine öffentlich zugänglichen Angaben mehr. All das zeugt davon, dass das Regime sich vorbereitete, es erweiterte die Reihen der Henker und Bediensteten, ermunterte sie finanziell, bearbeitete sie ideologisch und garantierte ihnen Straffreiheit.”
Heute, meint Aheeu, ist das Repressionsniveau in Belarus definitiv höher als irgendwo sonst in Europa. Und auch wenn das Lukaschenka-Regime qualitativ nicht an die Grausamkeit der Gestapo und von Stalins NKWD heranreicht, so kann man quantitativ, auf Grundlage verfügbarer Angaben, „vorsichtig sagen, dass die Zahlen annähernd gleich hoch sind“.
Es sei eine Arithmetik des Schreckens. In der UdSSR wurden während des Großen Terrors 1937/38, unterschiedlichen Quellen zufolge, zwischen 1,5 und 1,7 Millionen Menschen verhaftet. Das sind 0,95–1,05 Prozent der damals offiziell registrierten Bevölkerung (mehr als 162 Millionen Menschen). In Belarus wurden nach 2020 mehr als 100.000 Fälle von Repression festgestellt, die Vereinigung ehemaliger Sicherheitskräfte BELPOL spricht von 0,5 Millionen Fällen. Das bedeutet, dass wenigstens 1,06 Prozent der Bevölkerung von Belarus (9,38 Millionen im Jahr 2020) von Repressionen betroffen war.
„Kein Diktator unterdrückt die Medien wie Lukaschenka“
Ein weiterer eindrücklicher Beleg für das Ausmaß der Repressionen ist die Unterdrückung der unabhängigen Medien, Journalisten und Blogger, buchstäblich die totale Säuberung des Informationssektors. Aktuell umfasst die sogenannte staatliche „Liste extremistischer Materialien“, die das Informationsministerium herausgibt, 1846 Seiten, ebenso werden wöchentlich die Listen der Bücher, Videos, Webseiten sowie Online- und Printpublikationen erweitert, die der Regierung als „extremistisch“ gelten. Eine Verfolgung des Medienbereichs, wie wir sie heute beobachten, erklärt Aheuu im Gespräch mit Salidarnasc/GazetaBY, habe es in der ganzen Geschichte des unabhängigen Belarus noch nicht gegeben.

„Das Monitoring des Belarussischen Journalistenverbandes zeigt, dass die massenhaften Repressionen gegen Medien, und insbesondere Journalisten, ihren Höhepunkt Ende 2020, Anfang 2021 erreichten, wenn man die gesamte Amtszeit des Lukaschenka-Regimes betrachtet. In Ratings internationaler Journalistenverbände sieht man zwei Jahre in Folge, dass, gemessen an der Zahl der inhaftierten Journalisten pro Kopf, Lukaschenka die Medien mehr als jeder andere Herrscher auf der Welt unterdrückt. Nur China und Myanmar übertreffen Belarus in dieser Repressionsrangliste. 2024 kam Israel dazu, aber eher datenbedingt: Man begann die Zahl der inhaftierten Palästinenser einzubeziehen, die als Journalisten gelten. Betrachtet man die Bevölkerungszahl Myanmars und Chinas, zeigt sich erneut, dass kein Diktator die Medien stärker knebelt als Lukaschenka.
Die Repressionen haben ein Maß erreicht, das man Staatsterror nennen muss
Unsere Freunde und Kollegen werden für ihre journalistische Arbeit rechtswidrig verhaftet und ungerecht verurteilt. Fast jeder Dritte wird gefoltert. Am heutigen Tag befinden sich 29 Medienschaffende im Gefängnis. Die ganze Welt weiß, dass in der Ukraine gerade ein Krieg stattfindet, tausende Menschen sterben, sowohl Armeeangehörige als auch Zivilisten. Die Zahl der Toten und Verletzten zeigt das Grauen. Und in direkter Nachbarschaft zu diesem großen Krieg herrscht Terror in der Bevölkerung unseres Staates. So muss man, aus meiner Sicht, die Situation in Belarus beschreiben.
Denn die Repressionen haben ein Maß erreicht, das man Staatsterror nennen muss. Das Regime nutzt Verhaftungen, Gerichtsprozesse und Strafen, um eine Atmosphäre der Angst zu schaffen, die die Gesellschaft im Bann hält.”
Der zweite Teil der Publikation beschäftigt sich dann tiefergehend mit den aktuellen Repressionen auf unterschiedlichen Ebenen des Lukaschenko-Staates und erscheint am 26. November auf dekoder.