Das Studio Sumbur ist ein besonderes Theater: Seine Schauspieler sind an einer psychiatrischen Einrichtung in Petersburg in Therapie und bespielen Festivalbühnen. Der Fotograf Oleg Ponomarev hat die Schauspieler porträtiert und die Studio-Leiterin Irina Kulina interviewt.
In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa
Ich saß und wartete auf die Aufnahmekommission für die Einrichtung, in der ‚Sumbur‘ probt. Die Schlange war lang, dazusitzen war langweilig und dauerte. Plötzlich ertönte ein Bajan. Ich freute mich und schaute, wer da spielt. Das war Dima Rasguljajew. Als er aufhörte bat ich ihn, mir das Instrument zu geben. Ich spielte. Nach 15 Minuten kam dann Irina Walentinowna zu mir, die Leiterin von ‚Sumbur‘, und fragte mich ‚Bist du Bühnenkünstler?‘ Und ich ‚Ja, mehr oder weniger.‘ So bin ich zu ‚Sumbur‘ gestoßen. - PJOTR MASLENNIKOW
Oleg Ponomarev: Woher kam die Idee für das Studio, womit hat alles angefangen?
Irina Kulina: Unsere allererste Veranstaltung war ein Ball. Wir haben ein paar Kostüme genäht, Paare gebildet und drauflos getanzt. Das war 2007. So kam der Stein ins Rollen.
Wir traten in unserem eigenen Zentrum für Psychoneurologie auf, dann gaben wir Gastspiele in anderen Gesundheitseinrichtungen und traten in einer Bibliothek auf – das war ein wichtiger Moment, weil wir damit die Gesundheitseinrichtungen verlassen haben. Es folgten Festivals. Die Bühnen, die wir bespielten, wurden langsam größer.
Ein Konzept hatten wir nicht wirklich. Vielmehr entwickelte sich das Studio aus der Ergotherapie heraus, wo wir genäht und gestrickt haben und etwas Größeres wollten.
Wir proben sogar in den Therapie-Werkstätten, haben dort unsere Schränke mit den Kostümen und Requisiten.
Welche Rolle nimmt das Theater im Leben der Patienten ein?
Manche empfinden es als ihre Arbeit, sagen: „Ich arbeite im Studio Sumbur. Ich bin Schauspieler.“ Wir proben eigentlich ständig. Sobald sich irgendwo zwischendurch ein bisschen Zeit ergibt, schnappen wir uns ein Instrument und singen, und während wir singen, kommen die anderen dazu.
Es ist aber trotz allem ein therapeutischer Prozess – man darf ihn gesondert betrachten, es ist einer von vielen Ansätzen, die als Ganzes zu einem Ergebnis führen.
Im Studio herrscht eine besondere Atmosphäre, hier sind wir alle gleich, es gibt keine Distanz, keinen Arzt im weißen Kittel und auf der anderen Seite den Patienten, es gibt vielmehr die künstlerische Leiterin und die Truppe. Hier bekommen sie etwas, das fast jedes Mitglied der Gesellschaft braucht: das Gefühl, gebraucht zu werden, etwas gut zu können.
Im Studio sind wir alle gleich, es gibt keinen Arzt im weißen Kittel und auf der anderen Seite den Patienten
Wie sie sich dadurch verändern, kann man allein bei unseren Gastspielen beobachten. Wenn wir zum Beispiel in eine psychiatrische Klinik fahren. Die ersten Male dort waren schwierig, denn natürlich haben einige unserer Schauspieler schon ihre Erfahrungen damit gemacht, und das waren nicht die schönsten. Aber wenn wir jetzt hinfahren, sagen sie: „Wir kommen von der anderen Seite, nicht als Patienten.“ Man kennt und respektiert sie dort. Ihre Stellung hat sich verändert.
Einer unserer Patienten sagte einmal: „Wir sind Aussätzige in dieser Gesellschaft. Die Menschen wollen nichts mit uns zu tun haben. Aber im Studio lernen wir uns kennen, verlieben uns, heiraten, haben Kontakt zu anderen. Hier haben wir eine Aufgabe. Hier werden wir gebraucht. Hier ist alles anders.“
Dieser Satz: „Wir sind Aussätzige“ – ist das ein Gefühl, das die Gesellschaft ihnen vermittelt?
Natürlich. Sie haben Angst. Angst, auf die Straße zu gehen. Und die Art, wie die Gesellschaft auf sie reagiert, verstärkt die Ängste, die sie ohnehin haben. Sie bewegen sich fast ausschließlich unter ihresgleichen.
Der Psychiatrie haftet immer noch das Image einer Strafmedizin an, das man nur sehr schwer los wird, und entsprechend nimmt man diese Patienten auch wahr. Viele denken, diese Menschen seien zu nichts fähig, obwohl das eine Lüge ist – und diese Wahrnehmung wirkt sich negativ auf ihren Zustand, und auch auf die Ergebnisse unserer Arbeit aus. Dabei sind sie Menschen wie du und ich. Der eine leidet eben an Bluthochdruck, der andere an Schizophrenie – das ist der einzige Unterschied, beides muss behandelt werden.
Der eine leidet eben an Bluthochdruck, der andere an Schizophrenie – das ist der einzige Unterschied, beides muss behandelt werden
Damit die Therapie und die Resozialisierung funktionieren können, braucht es auch eine kritische Selbstwahrnehmung. Wenn diese Menschen nun etwas haben, wofür es sich lohnt, an sich zu arbeiten, wenn sie unter Leuten sind, Zuschauer haben und spüren, dass sie etwas wert sind, oder vielleicht auch nur, dass wir alle gleich sind, und der Arzt, der sie behandelt, neben ihnen steht und alle zusammen singen, dann erst wird ihnen bewusst, dass sie niemand bei dem geringsten – oder auch ohne – Anlass wegsperren will. Sie bekommen dieses Vertrauen, das so wichtig ist und das ich sehr hoch schätze, es entsteht ein Verantwortungsgefühl gegenüber dem Publikum und damit auch diese kritische Haltung sich selbst gegenüber.
Heißt das, die moderne Medizin hat gelernt, mentale Erkrankungen in den Griff zu bekommen?
Natürlich gibt es gegen die verschiedenen Krankheiten diverse Medikamente, die sich in ihrer Stärke und Wirkungsart unterscheiden. Andererseits gibt es keine Pille, die das Thema ein für allemal abhaken würde. Und keine Kriterien, nach denen man beurteilen kann, ob jemand einmal unser Patient wird. Das verstehen aber die meisten Menschen in unserer Gesellschaft nicht, sie denken, diese Menschen wären irgendwie anders, sehr weit weg von einem selbst, obwohl uns von unseren Patienten nur der Zufall trennt.
Die Arbeit des Studios besteht ja nicht nur aus den Auftritten und Theaterstücken – das ist nur die Spitze des Eisbergs. Um auf die Bühne zu gehen, reicht es nicht, seine Rolle oder ein Lied einzuüben, einen Tanz zu lernen.
Viele Krankheitsbilder sind geprägt von einer fortschreitenden Lethargie, die sich in der Vernachlässigung von selbst einfachsten, alltäglichsten Handlungen äußert: seine Sachen bügeln, sich die Haare kämmen. Aber sobald wir mit unserer Arbeit beginnen, sind sie alle wie gestriegelt. Das Theater motiviert sie dazu, ganz normale Dinge zu tun, die dann später zur Routine werden und automatisch passieren, so wie es sein soll.
Wenn die Leute im Zuschauerraum sitzen, machen sie sich ja keine Gedanken darüber, dass die Schauspieler nicht nur das Stück auf die Beine gestellt, sondern sich zurechtgemacht, sich rasiert und ihre Sachen gebügelt haben, und dass sie sich diese Mühe gemacht haben, um sich dem Zuschauer zu präsentieren.
Alles fängt bei diesen kleinen Dingen an, und die Arbeit an diesen Details ist ebenfalls Teil der Studioarbeit.
Kostüme, Requisiten, Musikinstrumente – das alles kostet Geld. Ihr Studio gibt es nun schon seit zehn Jahren – wie ist die Finanzierung geregelt?
Es gibt keine. Wir haben mit den Ärzten zusammengelegt und gekauft, was gebraucht wurde. Die Kostüme sind selbstgenäht, die Requisiten gebastelt. Wir brauchen Sponsoren, aber es gibt keine. Offensichtlich interessiert das niemanden.
Wie geht es weiter? Wie wollen Sie wachsen, welche Pläne gibt es für das Studio?
Zunächst einmal wird das Material komplexer, wir entwickeln uns wie jedes andere Theater. Wir planen neue Stücke, die aufwendiger sein werden und interessanter, sowohl für uns als auch für die Zuschauer.
Wir wollen ein Kinderprogramm aufbauen und vor Kindern spielen, in Heimen und Krankenhäusern. Die Kinder sollen nicht nur zuschauen, sondern auch mitmachen können. Wir haben so etwas Ähnliches schon einmal auf unserer Bühne aufgeführt. Es war toll. Unsere Schauspieler, die Ärzte, deren Kinder – alle sind zusammen aufgetreten. Kurz: ein heilloses Durcheinander – Sumbur eben.
erschienen am 08.06.2018
Bilder und Interview: Oleg Ponomarev
Übersetzerin: Jennie Seitz