Medien

„Sumbur – ein heilsames Durcheinander“

Das Studio Sumbur ist ein besonderes Theater: Seine Schauspieler sind an einer psychiatrischen Einrichtung in Petersburg in Therapie und bespielen Festivalbühnen. Der Fotograf Oleg Ponomarev hat die Schauspieler porträtiert und die Studio-Leiterin Irina Kulina interviewt.


In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Quelle dekoder

Ich mag alles, was wir machen, weil wir es mit der Seele tun. Die Menschen hier sind herzensgut, zuverlässig, tolle Leute, mit denen es Spaß macht zu kommunizieren. Hier hat sich mein Potenzial vollständig entfaltet, beim Theaterspielen, Tanzen, Singen und allem, was ich gerne tue. - IWAN WASSILJEW

Eine Zeitlang habe ich nicht am Theaterleben teilgenommen. Es war schwierig, als wäre nichts Wichtiges mehr da. - BOGDAN MAKAROW

Wir realisieren hier unsere Hoffnungen und Möglichkeiten. Möchtest du jemand oder etwas sein – sei es! - ALEXANDER ANDREJEW

Ich schaue Filme, lese Bücher und höre internationale Rockmusik wie ‚Dream Theater‘ oder ‚Nightwish‘. Aber das Wichtigste für mich ist das Spiel im Theaterstudio ‚Sumbur‘. - ANDREJ ROMIN

Das Theater hat mir persönlich geholfen, mich zu entwickeln und etwas Neues im Leben zu entdecken, die Leere zu füllen. Ich will für immer hier im Theater sein. - SWETLANA ALEXEJEWA

Ich saß und wartete auf die Aufnahmekommission für die Einrichtung, in der ‚Sumbur‘ probt. Die Schlange war lang, dazusitzen war langweilig und dauerte. Plötzlich ertönte ein Bajan. Ich freute mich und schaute, wer da spielt. Das war Dima Rasguljajew. Als er aufhörte bat ich ihn, mir das Instrument zu geben. Ich spielte. Nach 15 Minuten kam dann Irina Walentinowna zu mir, die Leiterin von ‚Sumbur‘, und fragte mich ‚Bist du Bühnenkünstler?‘ Und ich ‚Ja, mehr oder weniger.‘  So bin ich zu ‚Sumbur‘ gestoßen. - PJOTR MASLENNIKOW
Es war so schön, hier auf eine künstlerisch begabte und wohlmeinende Truppe zu stoßen. - ANNA SUJKOWA

Für mich ist das Studio ‚Sumbur‘ zum zweiten Zuhause geworden. In jeder Rolle versuche ich besser und besser zu werden. - NATALJA KOLOSUNINA

Mir bereiten die Proben große Freude, die Kommunikation mit den anderen und auch mit den Ärzten während der Aufführungen. - MARINA ANTONOWA

Die ganze Welt ist Theater – und die Menschen darin Schauspieler. Theater ist Luft und ohne Luft – kein Leben. Mir gefällt das Theater sehr, es gibt mir etwas Persönliches. Ich bin dadurch viel selbstsicherer geworden, habe gelernt mich auszudrücken, mein Gedächtnis ist besser geworden und ich habe neue Freunde gefunden.  Das Theater ist ein Meer. Mal trägt dich eine Welle nach oben, mal zieht sie einen runter. Und das Theater ist Wärme, die man Menschen einfach so schenken kann. - MARINA ANISCHEWSKAJA


Oleg Ponomarev: Woher kam die Idee für das Studio, womit hat alles angefangen?

Irina Kulina: Unsere allererste Veranstaltung war ein Ball. Wir haben ein paar Kostüme genäht, Paare gebildet und drauflos getanzt. Das war 2007. So kam der Stein ins Rollen.

Wir traten in unserem eigenen Zentrum für Psychoneurologie auf, dann gaben wir Gastspiele in anderen Gesundheitseinrichtungen und traten in einer Bibliothek auf – das war ein wichtiger Moment, weil wir damit die Gesundheitseinrichtungen verlassen haben. Es folgten Festivals. Die Bühnen, die wir bespielten, wurden langsam größer.

Ein Konzept hatten wir nicht wirklich. Vielmehr entwickelte sich das Studio aus der Ergotherapie heraus, wo wir genäht und gestrickt haben und etwas Größeres wollten.

Wir proben sogar in den Therapie-Werkstätten, haben dort unsere Schränke mit den Kostümen und Requisiten.

Welche Rolle nimmt das Theater im Leben der Patienten ein?

Manche empfinden es als ihre Arbeit, sagen: „Ich arbeite im Studio Sumbur. Ich bin Schauspieler.“ Wir proben eigentlich ständig. Sobald sich irgendwo zwischendurch ein bisschen Zeit ergibt, schnappen wir uns ein Instrument und singen, und während wir singen, kommen die anderen dazu.

Es ist aber trotz allem ein therapeutischer Prozess – man darf ihn gesondert betrachten, es ist einer von vielen Ansätzen, die als Ganzes zu einem Ergebnis führen.

Im Studio herrscht eine besondere Atmosphäre, hier sind wir alle gleich, es gibt keine Distanz, keinen Arzt im weißen Kittel und auf der anderen Seite den Patienten, es gibt vielmehr die künstlerische Leiterin und die Truppe. Hier bekommen sie etwas, das fast jedes Mitglied der Gesellschaft braucht: das Gefühl, gebraucht zu werden, etwas gut zu können.

Im Studio sind wir alle gleich, es gibt keinen Arzt im weißen Kittel und auf der anderen Seite den Patienten

Wie sie sich dadurch verändern, kann man allein bei unseren Gastspielen beobachten. Wenn wir zum Beispiel in eine psychiatrische Klinik fahren. Die ersten Male dort waren schwierig, denn natürlich haben einige unserer Schauspieler schon ihre Erfahrungen damit gemacht, und das waren nicht die schönsten. Aber wenn wir jetzt hinfahren, sagen sie: „Wir kommen von der anderen Seite, nicht als Patienten.“ Man kennt und respektiert sie dort. Ihre Stellung hat sich verändert.

Einer unserer Patienten sagte einmal: „Wir sind Aussätzige in dieser Gesellschaft. Die Menschen wollen nichts mit uns zu tun haben. Aber im Studio lernen wir uns kennen, verlieben uns, heiraten, haben Kontakt zu anderen. Hier haben wir eine Aufgabe. Hier werden wir gebraucht. Hier ist alles anders.“

Dieser Satz: „Wir sind Aussätzige“ – ist das ein Gefühl, das die Gesellschaft ihnen vermittelt?

Natürlich. Sie haben Angst. Angst, auf die Straße zu gehen. Und die Art, wie die Gesellschaft auf sie reagiert, verstärkt die Ängste, die sie ohnehin haben. Sie bewegen sich fast ausschließlich unter ihresgleichen.

Der Psychiatrie haftet immer noch das Image einer Strafmedizin an, das man nur sehr schwer los wird, und entsprechend nimmt man diese Patienten auch wahr. Viele denken, diese Menschen seien zu nichts fähig, obwohl das eine Lüge ist – und diese Wahrnehmung wirkt sich negativ auf ihren Zustand, und auch auf die Ergebnisse unserer Arbeit aus. Dabei sind sie Menschen wie du und ich. Der eine leidet eben an Bluthochdruck, der andere an Schizophrenie – das ist der einzige Unterschied, beides muss behandelt werden.

Der eine leidet eben an Bluthochdruck, der andere an Schizophrenie – das ist der einzige Unterschied, beides muss behandelt werden

Damit die Therapie und die Resozialisierung funktionieren können, braucht es auch eine kritische Selbstwahrnehmung. Wenn diese Menschen nun etwas haben, wofür es sich lohnt, an sich zu arbeiten, wenn sie unter Leuten sind, Zuschauer haben und spüren, dass sie etwas wert sind, oder vielleicht auch nur, dass wir alle gleich sind, und der Arzt, der sie behandelt, neben ihnen steht und alle zusammen singen, dann erst wird ihnen bewusst, dass sie niemand bei dem geringsten – oder auch ohne – Anlass wegsperren will. Sie bekommen dieses Vertrauen, das so wichtig ist und das ich sehr hoch schätze, es entsteht ein Verantwortungsgefühl gegenüber dem Publikum und damit auch diese kritische Haltung sich selbst gegenüber.

Heißt das, die moderne Medizin hat gelernt, mentale Erkrankungen in den Griff zu bekommen?

Natürlich gibt es gegen die verschiedenen Krankheiten diverse Medikamente, die sich in ihrer Stärke und Wirkungsart unterscheiden. Andererseits gibt es keine Pille, die das Thema ein für allemal abhaken würde. Und keine Kriterien, nach denen man beurteilen kann, ob jemand einmal unser Patient wird. Das verstehen aber die meisten Menschen in unserer Gesellschaft nicht, sie denken, diese Menschen wären irgendwie anders, sehr weit weg von einem selbst, obwohl uns von unseren Patienten nur der Zufall trennt.

Die Arbeit des Studios besteht ja nicht nur aus den Auftritten und Theaterstücken – das ist nur die Spitze des Eisbergs. Um auf die Bühne zu gehen, reicht es nicht, seine Rolle oder ein Lied einzuüben, einen Tanz zu lernen.

Viele Krankheitsbilder sind geprägt von einer fortschreitenden Lethargie, die sich in der Vernachlässigung von selbst einfachsten, alltäglichsten Handlungen äußert: seine Sachen bügeln, sich die Haare kämmen. Aber sobald wir mit unserer Arbeit beginnen, sind sie alle wie gestriegelt. Das Theater motiviert sie dazu, ganz normale Dinge zu tun, die dann später zur Routine werden und automatisch passieren, so wie es sein soll.

Wenn die Leute im Zuschauerraum sitzen, machen sie sich ja keine Gedanken darüber, dass die Schauspieler nicht nur das Stück auf die Beine gestellt, sondern sich zurechtgemacht, sich rasiert und ihre Sachen gebügelt haben, und dass sie sich diese Mühe gemacht haben, um sich dem Zuschauer zu präsentieren.

Alles fängt bei diesen kleinen Dingen an, und die Arbeit an diesen Details ist ebenfalls Teil der Studioarbeit.

Kostüme, Requisiten, Musikinstrumente – das alles kostet Geld. Ihr Studio gibt es nun schon seit zehn Jahren – wie ist die Finanzierung geregelt?

Es gibt keine. Wir haben mit den Ärzten zusammengelegt und gekauft, was gebraucht wurde. Die Kostüme sind selbstgenäht, die Requisiten gebastelt. Wir brauchen Sponsoren, aber es gibt keine. Offensichtlich interessiert das niemanden.

Wie geht es weiter? Wie wollen Sie wachsen, welche Pläne gibt es für das Studio?

Zunächst einmal wird das Material komplexer, wir entwickeln uns wie jedes andere Theater. Wir planen neue Stücke, die aufwendiger sein werden und interessanter, sowohl für uns als auch für die Zuschauer.

Wir wollen ein Kinderprogramm aufbauen und vor Kindern spielen, in Heimen und Krankenhäusern. Die Kinder sollen nicht nur zuschauen, sondern auch mitmachen können. Wir haben so etwas Ähnliches schon einmal auf unserer Bühne aufgeführt. Es war toll. Unsere Schauspieler, die Ärzte, deren Kinder – alle sind zusammen aufgetreten. Kurz: ein heilloses Durcheinander – Sumbur eben.

erschienen am 08.06.2018
Bilder und Interview: Oleg Ponomarev
Übersetzerin: Jennie Seitz

Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa.

Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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Behinderung und Inklusion

In einem Interview für das russische oppositionelle Magazin The New Times erzählte die landesweit bekannte Politikerin Irina Chakamada von einer Begegnung in einem Moskauer Café: Sie saß am Tisch, und um sie herum saßen „Hipster-Intellektuelle“, aus dem Umfeld, in dem Brodsky und Solschenizyn gelesen werden. Plötzlich sagt ein „junger und sehr fortschrittlicher“ Mann: „War neulich in Holland, kam in ein Café rein, und einer der Kellner war da mit Down-Syndrom! Mist, ich möchte diese Missgebildeten nicht sehen.“ Chakamada ist selbst Mutter eines Kindes mit Trisomie 21 und hat geschwiegen. Jahrelang habe sie sich nicht getraut, über die Behinderung ihres Kindes öffentlich zu reden, erzählt sie im Interview.

Auch wenn in Russland circa 14 Millionen Menschen leben, die durch irgendeine Eigenschaft ihres Körpers oder Geistes beeinträchtigt sind, begegnet man ihnen nur sehr selten in der Öffentlichkeit. Sie sind nicht Teil von Kultur und Medien, sie sind weitgehend ausgeschlossen von Bildung und Arbeitsmarkt. Es wird auch vermieden, über sie zu reden.

Will man sich dem Phänomen Behinderung in Russland nähern, muss man also auf die Gesellschaft als ganze in ihrer historischen Entwicklung schauen.


In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Gesellschaft ohne Defekte

Lag die soziale Fürsorge für körperlich und geistig beeinträchtigte Menschen früher vor allem bei der Familie oder in Einrichtungen der Orthodoxen Kirche, entdeckte im 19. Jahrhundert der zaristische Staat – genauso wie viele Regime Westeuropas zur selben Zeit – seine Verantwortung für diesen Teil der Bevölkerung. Der damit einhergehende Ausbau eines weitreichenden Anstaltsystems verfestigte auch ein allgemeines Verständnis von Behinderung als zu heilender Krankheit.

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts waren es aber überwiegend die Kriegsversehrten, die insbesondere nach den beiden Weltkriegen ins Zentrum sozialstaatlicher Bemühungen rückten. Allerdings änderte sich der Umgang mit Behinderung in der Nachkriegszeit: Vor dem Hintergrund der Industrialisierung und Modernisierung, die zu sozialistischer Staatsideologie wurden, musste jeder am Aufbau einer Gesellschaft ohne „Probleme und Defekte“ teilnehmen. Wer nicht dazu beitrug, sollte auch keine Wohlfahrt empfangen.

Die vom Psychologen Lew Wygotzki (1886–1934) in den späten 1920er Jahren entwickelte Lehre der „Defektologie“, die Behinderung als soziale Falschverortung aufgrund physischer und psychischer Schädigungen verstand, wurde zur dominanten pädagogischen und sozialpolitischen Doktrin. Demnach sollten Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit in Anstalten separiert werden. Das führte zu einer Marginalisierung und Stigmatisierung dieser Menschen und ihrer Familien. Bis in die 1970er Jahre hinein, als sich die russische Allgemeinbezeichnung invalid (ursprünglich nur für Kriegsversehrte benutzt) etablierte, verortete man behinderte Menschen auch nur in der Kategorie der Arbeitsunfähigkeit.

Bei der Ausübung staatlicher Wohlfahrtsaufgaben für Menschen mit Behinderung waren damals, und sind heute noch immer, große, landesweite Verbände maßgeblich, die soziale Dienstleistungen erbringen und geschützte Arbeitsbereiche unterhalten. Als nichtstaatliche Organisationen (NGO) registriert, existieren sie in allen Regionen und Städten, haben es aber aufgrund ihrer finanziellen und institutionellen Abhängigkeit vom Staat schwer, an dessen Wohlfahrts- und Sozialpolitik Kritik zu üben.

Graswurzelinitiativen

Mit dem Ende der Sowjetunion brach staatliche soziale Sicherung, die vor allem über den Arbeitsplatz organisiert wurde, für weite Teile der Bevölkerung weg. Das entstandene äußerst prekäre Vakuum versuchten nichtstaatliche Graswurzelinitiativen, vor allem Selbsthilfegruppen, zu füllen, um elementare Bedürfnisse behinderter Menschen zu sichern. Akteure internationaler Entwicklungszusammenarbeit sorgten in den 1990er Jahren für Know-How und für dringend benötigte materielle sowie finanzielle Ressourcen. Diese NGO-Akteure aus Westeuropa und den USA erweiterten nachhaltig den Möglichkeitshorizont ihrer russischen Partner durch Erfahrungsreisen ins Ausland und eine Vielzahl von Seminaren und Publikationen.

Dieser internationale Austausch ermöglichte auch eine Fokusverschiebung unter russischen Menschen mit Behinderung und ihren Unterstützern hin zur Notwendigkeit gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe und der Realisierung von bürgerlichen, wirtschaftlichen und politischen Rechten.

Das wurde Mitte der 1990er Jahre auch von der Politik aufgegriffen, in gesetzlichen Regelungen festgeschrieben und in staatlichen Förderprogrammen verbreitet. Russland hat sogar die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben und formal ratifiziert. Allerdings stellt die tatsächliche Umsetzung ein großes und langwieriges Problem dar. Es fehlt nicht nur an formalen Realisierungsmechanismen und Anti-Diskriminierungsregeln auf lokaler Ebene, da föderale Gesetze oft lokalen normativen Akten widersprechen. Es fehlt oft auch an Verständnis und Einsicht von unkontrollierten Beamten, die vorhandenen Regelungen tatsächlich anzuwenden. Daher hat sich an der schwachen und marginalisierten sozial-ökonomischen Position von Menschen mit Behinderungen in Russland nur wenig geändert.

In- versus Exklusion

Praktisch in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen sind Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen mit hohen Barrieren gegen ihre Teilhabe konfrontiert. Wenn Behinderung während der Schwangerschaft festgestellt wird, raten Ärzte Schwangeren oft zu Abtreibungen oder nach der Geburt zur Abgabe des Kindes in staatliche Heime. Die Heime werden in der Gesellschaft immer noch als einzig adäquate Lösung für das „Problem“ Behinderung angesehen. Obwohl ein langsamer Abbau der Heime läuft, sind Fälle von Vernächlässigung, Gewalt und Freiheitsberaubung in den immer noch weitläufig existierenden Einrichtungen verbreitet.1

Besserung geht oft von nichtstaatlichen Initiativgruppen und Organisationen aus, die Tagesbetreuung für bedürftige Kinder oder ambulante Hilfen für Menschen mit Behinderungen aufbauen. Doch all diese Bemühungen sind nicht systematisch, sondern beschränkt auf lokale Initiativen. Die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung hängt davon ab, wo sie in Russland leben und ob es dort Engagierte gibt, die sich für ihre Belange einsetzen.

Marginalisierte gesellschaftliche Stellung

Wenn sich Eltern dafür entscheiden, ihr Kind in der Familie zu behalten, sehen sie sich oft größten Schwierigkeiten ausgesetzt. Integrative Kindergärten oder Schulen sind auch in großen Städten wie Moskau und St. Petersburg eine Ausnahme. Auch der Arbeitsmarkt hält so gut wie keine Mechanismen zur Integration bereit, abgesehen von Strafzahlungen in moderater Höhe für die Nichteinhaltung von ohnehin geringen Behindertenquoten. Körperlich oder geistig beeinträchtigte Menschen können in der Regel nur in geschützten, aber auch sehr begrenzten Werkstätten in den großen Behindertenverbänden arbeiten. Es gibt zwar staatsunabhängige Programme zur speziellen Arbeitsplatzschulung in Zusammenarbeit mit großen, meist internationalen Firmen. Diese existieren jedoch wiederum nur in den großen Metropolen.

Zudem ist generell der öffentliche Raum nicht barrierefrei. Ganz im Gegenteil: Fahrstühle, Rampen, Blindenschrift, Tonsignale etc. fehlen in öffentlichen Verkehrsmitteln und Behörden. Erst als in der Vergangenheit Betroffene erfolgreich gerichtlich, wieder mit Hilfe von NGOs, gegen verwehrten Einstieg oder das Fehlen von Rollstuhleignung geklagt haben, sind nun die meisten Fluglinien und die Russische Eisenbahn auf besonderen Bedarf eingestellt.

Negative Einstellungen

Die marginalisierte gesellschaftliche Stellung von Menschen mit Behinderung geht einher mit den deutlich negativen Einstellungen vieler Russen ihnen gegenüber. In der Sowjetunion wurde die soziale Distanz zementiert durch die ideologisch bedingten Label des Defekts und der Leistungsunfähigkeit. Auch heute sind negative Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung immer noch weit verbreitet und behindern buchstäblich die gesellschaftliche Integration. Obwohl viele Russen dieser im Allgemeinen positiv gegenüber stehen, zeigen sich in konkreten sozialen Situationen Distanz und Abwehr.

Diese Situation zu ändern ist eines der wichtigsten Anliegen von Behindertenaktivisten im heutigen Russland. Dabei ist es im Vergleich zu ihren Partnern in anderen europäischen Ländern meist kontraproduktiv, sich auf den globalen Menschenrechtsdiskurs zu beziehen, da dieser institutionell als auch kulturell nur sehr schwach in der russischen Gesellschaft verankert ist. Auch Demonstrationen und Proteste im öffentlichen Raum scheinen kein guter Weg, gesellschaftlichen Wandel anzustoßen. Daher konzentrieren sich die Aktivitäten von NGOs besonders auf den kulturellen Bereich, zum Beispiel mit Filmfestivals und Fotografie, und auf den Wandel von zwischenmenschlichen Beziehungen, zum Beispiel mit Freundschaftsprogrammen und journalistischen Arbeiten, um in aufklärerischer Manier den Umgang mit beeinträchtigten Menschen zu normalisieren.2

Doch Fortschritte in der sozialen Integration der behinderten Menschen hängen stark von den jeweiligen allgemeinen gesellschaftlichen Umständen ab. Die aufklärerischen und inklusiven Aktivitäten russischer Behindertenaktivisten sind momentan äußerst eingeschränkt. Kritik an staatlicher Sozialpolitik und ihrer Integrationsleistung ist mit hohem Risiko für den Aktivitätsspielraum der Engagierten verbunden. Das hängt vor allem mit der restriktiven Beziehung des russischen Staates gegenüber Menschenrechtsorganisationen und gegenüber internationaler Kooperation im zivilgesellschaftlichen Bereich zusammen. Auch die NGOs, die keiner politischen Tätigkeit nachgehen, gehen das Risiko ein, aufgrund ausländischer Finanzierung und staatskritischen Aktivitäten zu sogenannten ausländischen Agenten erklärt zu werden.

Der staatliche Fokus auf die Förderung von nichtstaatlichen sozialen Dienstleistungen drückt Menschen mit Behinderung wieder in eine Situation, in der ihre physischen und geistigen Abweichungen im Vordergrund stehen, und nicht die Ausweitung ihrer Teilhabe am „normalen“ gesellschaftlichen Leben. Stichworte wie Selbstermächtigung und Selbstbestimmung sind daher nicht im gesellschaftlichen Diskurs über Behinderung zu finden. Einer tatsächlichen sozialen Integration steht eben auch das nicht-demokratische gesellschaftliche Regime in Russland entgegen, das kulturelle, politische, und soziale Ausgrenzungsmechanismen reproduziert.


1. So gibt es immer wieder Fälle, in denen behinderte Menschen an Betten gefesselt, geschlagen, eingesperrt oder sozial komplett ignoriert werden.
2. Vorbildlich scheint in diesem Zusammenhang das Medien-Projekt Takie dela, das einerseits die Leser auf soziale Probleme aufmerksam macht, andererseits Geld für die Förderung der gemeinnützigen Einrichtungen sammelt. Wie aber das Medium selbst, so gehört auch die Bereitschaft, sich finanziell und tatkräftig einzusetzen, zu einer gesellschaftlichen Nische.

Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

 

Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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Weit verbreitet sind in Russland Proteste zu Sozialthemen wie Lohnrückstände, Sozialabbau oder LKW-Maut. Im Gegensatz zu Protestaktionen der Oppositionellen und Aktionskünstler wird jedoch über sie gerade von den westlichen Medien selten berichtet. Die Aktionsformen reichen vom Bummelstreik bis zur Selbstverbrennung. Von einigen Beobachtern als unpolitisch abgetan, gilt der Sozialprotest anderen als der wahrhaft politische, da es um konkrete Interessen statt eines abstrakten Wandels geht.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)