
Als Russland im Frühjahr 2022 großflächig die Ukraine überfiel, stellten sich in vielen südukrainischen Orten hunderte Menschen den Besatzungstruppen entgegen. Wie in Cherson gab es solche Ukraine-Demos gegen die russländische Besatzung auch in Melitopol und Tokmak in der Oblast Saporishshja. Bis Russland nach einigen Wochen offenbar andere Militär- und auch FSB-Einheiten in die aus seiner Sicht aufmüpfigen Gebiete schickte, den ukrainischen Widerstand niederschlagen ließ und seine repressiven Verfolgungsstrukturen einrichtete.
Was Russlands Besatzung bedeutete, erfuhren die Einwohner:innen oft von Flüchtenden aus Mariupol, die viele südukrainische Ortschaften durchqueren mussten, um irgendwann ukrainisch kontrolliertes Gebiet zu erreichen. Viele Menschen aus Melitopol, Tokmak und Umgebung schlossen sich ihnen notgedrungen an, besonders jene Personen, die sich gesellschaftlich oder politisch engagierten und noch nicht in Folterkeller der russländischen Besatzer verschleppt worden waren.
Die zwangsweise verlassenen Häuser und Wohnungen eignen sich zunehmend Soldaten der russischen Besatzungstruppen an. Mitte Dezember 2025 unterzeichnete Wladimir Putin außerdem ein Gesetz, dass es den Besatzungsbehörden in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten erlaubt, anscheinend leerstehende Wohnhäuser und Wohnungen als neue Besitzer zu übernehmen. Damit „legalisiert“ Moskau die Enteignung ukrainischer Immobilien durch seine Besatzungsvertreter.
Eine von jenen, die nach Wochen russländischer Besatzung in ukrainisch kontrolliertes Territorium floh und ihr Zuhause zurücklassen musste, ist die ukrainische Journalistin Jana Radtschenko. In ihrer persönlichen Kolumne für Zmina beschreibt sie bildreich, wie sich das anfühlt. Und wie schwer es ist, darüber zu sprechen.
Wer hat in meinem Bett geschlafen? Wer hat von meinem Teller gegessen?“ Kennen Sie das britische Märchen „Goldlöckchen und die drei Bären“ von Robert Southey? Darin flieht ein kleines Mädchen namens Goldlöckchen vor ihren Eltern und kommt zum Haus der Bären, wo sie von deren Tellern Brei isst, sich in deren Sessel setzt und in ihren Betten schläft. In meiner Geschichte wird es etwas gruseliger. So ähnlich wie in den Märchen der Gebrüder Grimm.
Wer trocknet sich mit meinen Handtüchern ab? Wer wärmt sich unter meiner Decke? Wer geht in die Küche und nimmt dort meine geliebten schwarzen Teller? Wer tritt in schmutzigen Stiefeln über die Schwelle und stellt sein Gewehr in die Ecke, wo früher meine schöne Stehlampe stand? Wer legt seine blutigen Sachen in unsere neue Waschmaschine und danach in meinen Schrank, nachdem er meine saubere und gemütliche Kleidung in den Müll geworfen hat? Wer schläft nun dort in meinem Haus, in der Stadt, von der ich jede Nacht träume?
In meinem Zuhause wohnen Besatzer und sie tun all das.
„Mein Zuhause hält mich fest“
In der Wohnung war es immer hell, selbst wenn es draußen schon früher dunkel wurde, als mir lieb war. Zuhause kannte ich jedes Geräusch – den knarrenden Boden neben dem Spiegel, den klickenden Lichtschalter in der Küche und das Klirren der Löffel am Porzellangeschirr. Morgens fiel die Sonne genau im richtigen Winkel durchs Fenster, um mich zu wecken, ohne mich zu blenden. Dort roch es immer nach frischem Kaffee und nach meinem und Mamas Parfüm.
Dieses Haus und die Wohnung gibt es noch, sie stehen wahrscheinlich noch genauso da – die gleichen Wände, die gleichen Fenster, aber es ist nicht mehr mein Zuhause. Dort sind nun andere Menschen, andere Gerüche, andere Stimmen. Dort klingen nun schwere, fremde Schritte und das Knallen von Türen, die ich früher leise schloss, um meine Mutter nicht zu wecken, wenn ich spät nachts nach dem Ausgehen zurückkam.
Es ist unmöglich, sich damit abzufinden, dass dein Zuhause so noch existiert, aber ohne dich. Es ist physisch noch da, gehört dir aber nicht mehr. Ich kann nicht dorthin zurück, aber loslassen geht auch nicht. Mein Zuhause hält mich fest, auch in der Ferne, wie ein Schmerz, der nicht verschwindet, sondern einfach zur Gewohnheit wird.
„Das, was wir für später zurückließen“
Gerade gibt es einen Trend auf TikTok, bei dem ukrainische Jugendliche aus besetzten oder zerstörten Ortschaften Bilder ihres letzten Silvesters zu Hause posten – unterlegt vom Lied Opjat metel (dt. Wieder Schneesturm) von Alla Pugatschowa (ehrlich gesagt, eine komische Wahl). Ich habe kein TikTok, aber selbst wenn, würde ich dort nichts mit Pugatschowa unterlegen. Deshalb teile ich lieber hier Fotos von unserer Silvesterfeier 2021.

Meine Mutter, mein Partner und ich verließen unser Zuhause im April 2022. Damals schien es, als wäre das nicht für lange – zwei, vielleicht drei Wochen. Wir nannten es auch nicht „Evakuierung”. Es war einfach ein vorübergehender Umzug, bis sich alles „beruhigt” hatte. Ich nahm etwas Unterwäsche, eine Jacke und zwei Hosen mit. Das war alles. Unser Zuhause blieb dort – warm und voller vertrauter Gerüche und Dinge, die auf uns warteten.
Schließlich mussten wir länger fortbleiben. Genauer gesagt, sind wir seitdem nicht mehr zurückgekehrt.
Zu einem Feiertag kam uns unsere Freundin aus Deutschland besuchen. Während eines ungezwungenen Gesprächs fragte sie: „Leben in eurem Haus in Tokmak nun eigentlich Russen?“ Ich bin sehr offen für alle Fragen, die die Besatzung betreffen und es ist eigentlich schwer, mich damit aus der Fassung oder dem Gleichgewicht zu bringen. Hier war ich jedoch verlegen und wusste nicht, was ich antworten sollte: „Hör mal, solche Fragen stellt man Menschen aus besetzten Gebieten besser nicht. Erstens ist das ein sehr sensibles Thema und zweitens sind viele von uns in dieser Hinsicht abergläubisch. Denn sobald man sagt: ‚Nein, da wohnen keine Russen‘, werden sie sogleich dort einziehen.“
Ihr könnt es Paranoia, Zufall oder eine Folge von PTBS nennen, doch ich habe oft bemerkt, dass genau dann, wenn jemand in meinem Bekanntenkreis fragt: „Na, ist es bei euch etwas sicherer geworden?“, noch am selben Abend genau diese Stadt mit Raketen oder Gleitbomben attackiert wird.
Seit unserer Flucht schauten meine Großeltern nach unserer Wohnung. Jeden Tag überprüften sie, ob alles in Ordnung war. Denn „alles sollte so bleiben, wie es war“.
In unserer Familie sprechen wir oft über „das, was wir für später zurückließen“ – über Dinge, die zuhause auf uns warten. Doch es geht nicht nur um Dinge – solange wir weg sind, muss jemand auf unsere Wohnung aufpassen, damit sie physisch erhalten bleibt. Aber selbst das wachsamste Auge kann nicht vor dem schützen, was im Inneren geschieht. Seit unserer Flucht schauten meine Großeltern nach unserer Wohnung. Jeden Tag überprüften sie, ob alles in Ordnung war: Ob alle Fenster intakt waren, ob es Strom gab und das Dach dicht war, denn unsere Wohnung liegt im obersten Stockwerk. Sie zahlten weiter die Nebenkosten, denn „alles sollte so bleiben, wie es war“.
Doch eines Morgens entdeckten sie die aufgebrochene Tür. Drinnen befanden sich mehrere verletzte Besatzer, die erzählten, dass unsere Nachbarin ihnen „den freundlichen Tipp” gegeben habe, in unsere Wohnung einzuziehen. Seitdem leben Russen in unserer Wohnung.
„Das Zuhause lebt in uns weiter“
Nun ist mein Zuhause zu meinem Symbol der Besatzung geworden. Den Ort, der einst absolut sicher und vertraut war, haben sich andere Menschen angeeignet. Ich weiß, dass es vielen Menschen wehtut, den Song U mene nemaje domu (dt. Ich habe kein Zuhause) der Band Odyn w Kanoje zu hören.
In einem anderen Lied, Tschushiju ja (dt. Ich bin fremd) von Nazva & Brykulets, heißt es:
Ohne deine Berührungen
Trauert die Türklinke,
Und du weißt nicht, ob die Tür
je einen anderen Schlüssel mögen wird.
Unsere Schlüssel werden die Tür mit dem neuen Schloss, hinter dem jetzt die Besatzer leben, nicht mehr „mögen“. Aber wir behalten sie trotzdem. Denn ein Schlüssel ist eine Erinnerung, ein Symbol für ein Zuhause, das es nicht mehr gibt, das aber im Herzen weiterlebt.
Vor zwei Jahren schrieb Zmina über das Projekt „Schlüssel von Mariupol“ von Marija Adamanowa, einer jungen Frau aus Mariupol. Das Projekt sammelt Geschichten von Menschen, die aus der Stadt fliehen mussten, aber immer noch die Schlüssel zu ihrem Zuhause aufbewahren. Auf der Instagram-Seite erzählen sie von kleinen Dingen, Gerüchen, Geräuschen und Momenten, die dortgeblieben sind – in der Stadt, die sie verlassen haben.
Ich weiß nicht, ob ich jemals nach Hause zurückkehren werde, aber ich bewahre die Schlüssel auf. Denn das Zuhause lebt in uns weiter – auch wenn es uns physisch genommen wurde.