Im prachtvollen, über und über mit goldenen Ornamenten besetzten Facettensaal des Kreml findet im Jahr 1883 die Krönungsfeier des Imperators Alexander III. statt. Während der Zeremonie erklingt die Kantante „Moskau“ von Pjotr Tschaikowski, der Chor trägt inbrünstig die Geschichte des Moskauer Reiches vor. Im vierten Satz erhebt der Bariton die Stimme: Russland, singt er in feierlich-deklamierendem Stil, sei als Leitstern für die slawischen Völker Europas aufgegangen, Moskau werde „den Unterdrückten ein Befreier sein“, denn eine Prophezeiung laute: Rom ist zweimal gefallen, doch das dritte besteht, und ein viertes wird es nicht geben! Diese Worte werden stimmächtig vom Chor aufgenommen, und der Satz endet in einer triumphalen Orchester-Passage.
Was hat es mit den rätselhaften Zeilen dieser Prophezeiung auf sich? Sie stammen nicht etwa, wie man aus dem historischen Kontext glauben könnte, von einem Denker des zu jener Zeit aufkeimenden Panslawismus, sondern es handelt sich um eine Sentenz des mittelalterlichen Mönchs Filofej. Er hatte die Wendung von Moskau als „Drittem Rom“ in den ersten Dekaden des 16. Jahrhunderts in mehreren Briefen gebraucht, einen Gedanken aufgreifend, der in klerikalen Kreisen bereits seit 1492 kursierte: Die Moskauer Regenten seien als Nachfolger der byzantinischen und römischen1 Herrscher zu betrachten. Rom selbst sei durch die Annahme des häretischen römisch-katholischen Glaubens nicht mehr das Zentrum der christlichen Welt; die byzantinische Hauptstadt, das nach dem römischen Kaiser Konstantin benannte Konstantinopel, das zweite Rom, sei mit dem Fall an die Osmanen 1453 untergegangen, und nun könne nur Moskau allein der Hort der Christentums sein. Wörtlich heißt es bei Filofej in seiner Schrift von 1523 an den Großfürsten von Moskau, Wasili III.:
„Alle christlichen Reiche sind zum Ende gekommen und sind nach den Prophezeiungen vereint im einzigen Reich unseres Herrschers, und dies ist das Russische Reich: Denn Rom ist zweimal gefallen, das dritte besteht, und ein viertes wird es nicht geben.“
Ohne den Zusammenhang zu kennen, lassen die Zeilen vermuten, dass Filofej hier mit christlicher Rhetorik die weltliche Herrschaft der Moskauer Regenten unterstützt. Es steht jedoch etwas anderes dahinter. Filofej richtete seine Bittschrift an den Großfürsten, um die Ausbreitung zweier Erscheinungen zu unterbinden, die für die orthodoxe Kirche eine potentielle Gefahr darstellten: den in seiner Zeit um sich greifenden astrologischen Aberglauben und – den Katholizismus.2 Auch die düstere, prophetische Zeile „ein viertes wird es nicht geben“ muss im Kontext verstanden werden: Laut dem Historiker Andrej Jurganow konnte Filofej damit gar nicht auf die weltliche Ewigkeit des Moskauer Reiches anspielen, da man zu seiner Zeit davon überzeugt war, dass das Jüngste Gericht und damit der Weltuntergang unmittelbar bevorstanden – schließlich waren nach alttestamentarischer Zählung etwa 7000 Jahre seit der Erschaffung der Erde abgelaufen.3
Filofejs Sentenz spielte aus diesem Grund für die politische Sphäre lange Zeit eine geringe Rolle – weder Peter I. noch Katharina II. nutzten die These von Moskau als Drittem Rom, um ihre imperiale Politik zu rechtfertigen.4 Erst im 19. Jahrhundert verbreitete sich der Begriff durch Neuauflagen alter kirchlicher Schriften und erfuhr durch den Historiker Wladimir Ikonnikow in den späten 1860er Jahren eine radikale Neuinterpretation. Filofej wurde zum ersten Staatsideologen des russischen Reiches: Die Lehre vom Dritten Rom begründe, so Ikonnikow, einen spezifisch russischen Messianismus, abgeleitet aus der imperialen Tradition der Moskauer Herrscher. So umgedeutet hielt der Begriff Einzug in das Vokabular der panslawischen Bewegung, die Russland als Schutzmacht der slawischen Völker Europas betrachtete und seine Stärkung auf dem europäischen Kontinent anstrebte. Nicht der Schutz der christlichen Kirche durch spezifische Maßnahmen stand mehr im Vordergrund, sondern die historiografische Stützung einer russischen Mission, eines Sonderwegs zwischen Osten und Westen.5 Zwar nutzte die Politik den Begriff nicht offiziell, seine Verwendung bei der Krönungsfeier eines Zaren jedoch zeigt, dass man mit seiner Aussage durchaus einverstanden war.
Auch den Religionsphilosophen Nikolaj Berdjajew beschäftigte die Lehre vom Dritten Rom. In den 1920er Jahren vertrat er sogar die These, die Idee des russischen Messianismus sei im Hintergrund der russischen Psyche dauerhaft wirksam und stelle die wahre Antriebskraft hinter dem Bolschewismus dar.6 Diese These fand ihr Echo in der westlichen Propaganda des Kalten Krieges – als vermeintliche kulturelle Grundlage des sowjetischen Expansionismus. Wenngleich die Sowjets selbst eine ideologische Kontinuität mit der imperialen zaristischen Politik abstritten, so nutzten sie die Neuinterpretation des Begriffs durchaus, zum Beispiel um die Politik Iwans IV. (des Schrecklichen) als „progressive Rezentralisierung“ positiv umzudeuten (siehe Eisensteins Film Iwan der Schreckliche).
Laut dem Historiker Marshall T. Poe ist Filofejs ursprüngliche Sentenz im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts so zu einem „anachronistischen Kunstbegriff“7 geworden, der die erst in moderner Zeit entwickelte Vorstellung einer „russischen Mission“ mit historischer Scheinevidenz unterfüttere, im Westen wie in Russland. Auch heutzutage spielt der Begriff noch – oder besser: wieder – eine Rolle. Am 11. November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz zum Thema Moskau – Drittes Rom statt. Der nationalistische Theoretiker Alexander Dugin nutzte die Plattform, um auf Basis der Idee von Moskau als Drittem Rom für eine russisch-orthodoxe Staatsform ausdrücklich jenseits von liberaler Demokratie zu werben.8 Auch im konservativen Klerus findet die Idee Verwendung, wenn auch auf den ersten Blick weniger politisch: Der Erzpriester Wsewolod Tschaplin erklärte, sie spiegele die „Weltsicht vieler orthodoxer Russen wider“ – auch wenn sie keine genaue Vorstellung von ihrer Genese oder ihrem Inhalt haben.9
Die Idee des Dritten Roms ist also eine vielschichtige Angelegenheit. Für den westlichen Betrachter mag sie erst kurios erscheinen, ja absurd, in politischer Hinsicht ist sie schnell als Legitimation eines russischen Sonderweges zur Hand, aber geistesgeschichtlich handelt es sich um ein faszinierendes Amalgam aus religiösen und philosophischen Komponenten, das noch heute in die russische Volksmentalität hineinwirkt.