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Iwan Bunin

Bunin lesen kann süchtig machen. Das ist kein Disclaimer, der jemanden vom Lesen abhalten soll, es ist aber auch nicht einfach der Werbespruch eines Verlags. Dass die Bunin-Lektüre süchtig mache, ist vielmehr eine auffallend häufige Rückmeldung ganz verschiedener LeserInnen der deutschen Werkausgabe, von der bereits neun Bänder erschienen sind. Nun jährt sich der Geburtstag Iwan Bunins zum 150. Mal, und das Jubiläum bietet Anlass, darüber nachzudenken, was die Faszination ausmacht, die immer noch von diesem Autor ausgeht.

Iwan Bunin, 1901. Foto: Public Domain / Wikimedia

Das Jubiläum ist ein mehrfaches. Iwan Bunin kam am 10. (nach gregorianischem Kalender am 22.) Oktober 1870, also vor 150 Jahren, in der zentralrussischen Provinzstadt Woronesh zur Welt. Vor 100 Jahren, im Februar 1920, verließ er mit seiner Frau Vera Muromzewa Russland, das nun nicht mehr sein Russland war, von Odessa aus auf einem Dampfer – für immer. „Viel zu spät“ sei er geboren, notiert er als Achtzigjähriger: das Jahr 1905 habe er erlebt, den Ersten Weltkrieg, das Jahr 1917 und die Folgen, Lenin, Stalin, Hitler – Noah habe wenigstens nur eine Sintflut überstehen müssen.

Schwierige literarische Generation

Nicht nur historisch, auch literarisch gehört Bunin einer schwierigen Generation an. Bereits der zehn Jahre ältere Anton Tschechow, immer ein Orientierungspunkt für Bunin, litt lange darunter, dass er ein Nachgeborener des großen Realismus war. Man fühlte sich einer Zeit angehörig, in der zwar nur der Roman wirklich zählte, sich die Romanform gleichzeitig aber auch deutlich erschöpft hatte. Bunins Generation, deren Jugend in die politisch repressiven Zeiten der 1880er und 1890er Jahre fiel, traf diese literarische Krise mit ganzer Härte – umso mehr, als Bunin den symbolistischen Aufbruch der 1890er Jahre und überhaupt alle Modernismen heftig ablehnte. Auch wenn er den Symbolisten in manchem verwandter war, als ihm vermutlich bewusst gewesen ist.

Iwan Bunin war Autodidakt. Er hatte das Gymnasium abgebrochen und wurde teilweise von seinem zehn Jahre älteren Bruder Juli, einem verurteilten Narodnik, unterrichtet. Schon früh konnte er Gedichte publizieren, und er schlug sich zunächst in provinziellen Zeitschriftenredaktionen durchs Leben. Mit stetig zunehmendem Erfolg etablierte er sich als Lyriker: Seine Gedichte trugen ihm 1903 und später noch zweimal die begehrte Puschkinprämie ein – als Dichter, aber auch als Lyrikübersetzer, insbesondere von Longfellow und Byron. Bereits mit 39 Jahren wurde er Ehrenmitglied der Akademie. Seit er 20 Jahre alt war, schrieb und veröffentlichte er neben seiner Lyrik auch Erzählungen. Einen ersten Band brachte er 1897 unter dem Titel Na krai sweta (dt. Ans Ende der Welt) selbst heraus; ab 1902 erschien die erste Gesamtausgabe seiner Werke.

Sieht man von dem furiosem Revolutionstagebuch Verfluchte Tage ab, hat Bunin nie politische Überzeugungen direkt in Texte übersetzt. Auch seine jugendlichen Passionen, etwa für den Tolstojanismus, zeigen nur fragmentarische Spuren in den Erzählungen. Dies bedeutet aber nicht, dass Bunin nicht sehr direkt über soziale Realitäten geschrieben hätte, ganz im Gegenteil. Doch vor Abstraktion und sogar Typisierung im üblichen „realistischen“ Sinn war er geradezu physiologisch gefeit. In Bunins Texten zählt stets das Einzelne, das man vor sich hat, und die selten eindeutige soziale Skalierung und Verallgemeinerung stellt eine Herausforderung für die Lektüre dar.

Das Dorf und der Niedergang des alten Landadels

Bunin zeichnet in seinen Erzählungen verdichtend eine lange Geschichte sozialer Verschiebungen, von den Hungerkrisen auf dem Land in den 1890er Jahren über die Boomjahre in den Städten und die Entseelung der Kultur, die komplementär zunehmende latente Unzufriedenheit auf dem Dorf und überhaupt das Auseinanderdriften von Stadt und Land, über den schleichenden Untergang des alten Landadels, das Verhältnis der Schichten und Geschlechter, die Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs und anderes mehr. Aber er zeichnet all dies anhand einzelner Figuren und ihrer Geschichte. Oft lässt er die Figuren selbst erzählen, und oft sind diese Außenseiter, Sonderlinge. Meist nehmen Bunins Erzählungen auch nicht eine ‚typische‘, sondern gelegentlich eher die schlimmstmögliche Wendung, die etwa mit absurd scheinenden Gewaltausbrüchen zwischen Menschen verbunden ist.

Vor allem die Problematik des russischen Dorfs vor der Revolution, das explosive Potenzial, das sich in der Revolution schließlich entlud und das Bunin wie kein anderer seiner Schriftstellerkollegen kannte, lässt sich weniger gut verstehen, wenn man seine lange Erzählung Das Dorf nicht gelesen hat. Dieser Text aus dem Jahr 1910 stellt wohl den Gipfel seines Pessimismus bezüglich Russlands dar, was ihm entsprechend Kritik von allen Seiten eintrug. Ebenso kann man den vielschichtigen Niedergang des alten Landadels nirgendwo so hautnah verfolgen wie in der gleich darauf entstandenen Erzählung Suchodol, in die Bunin auch seine eigene Familiengeschichte verwebt. Doch erst ein breiteres Spektrum an Texten macht sichtbar, wie vielfältig Bunins Perspektiven auf sein Land sind. Die Faszination, die von ihnen ausgeht, ist wohl nicht zuletzt Bunins tiefem Gespür für weibliche Figuren geschuldet, wie es beispielsweise in der Erzählung Leichter Atem (1916) sichtbar wird. Sehr oft ist es dennoch schwere Kost, die einem mit manchmal brutaler Direktheit entgegenschlägt.

Bester Stilist der russischen Literatur

Die Faszination, die von Bunins Texten ausgeht, ist mit ihren Inhalten und Themen verbunden – und doch liegt sie kaum in ihnen begründet. Denn sie stammt aus dem Sog der Lektüre, dem Eindruck, auch mit kurzen Texten in andere Welten eingetaucht zu sein, aus der fast schon rätselhaften Kunst Bunins, so vermeintlich simple Sujets wie Abendstimmungen, Gewitter oder die Steppe und den Himmel gleichzeitig vorstellbar plastisch und emotional aufgeladen zu zeichnen. Die Steppe etwa wird bei Bunin an vielen Stellen zum großen Bild des Schicksals der russischen Kultur, vom Verwehen, das ihr droht, wenn dem Zerfall nicht permanenter Widerstand entgegengesetzt wird. Die Beschreibungen des Meeres wiederum sind in den Reisetexten so vielfältig, dass man darüber Bücher schreiben könnte – mit der Gefahr allerdings, ihre Wirkung dabei durch Analyse zu vertreiben.

Bunin hat sein lyrisches Talent, sein Stil- und Bildgefühl immer kompromisslos in die Prosa übertragen. Seine Texte sind frei von Schablonen oder anderweitig falschen Tönen, sie zeugen durchgehend von einem absoluten Stilgefühl, obwohl er diesen Stil manchmal poetisch ausreizt. Doch war es für Bunin nie Selbstzweck, der beste Stilist der russischen Literatur seiner Zeit zu sein – was ihm sogar Maxim Gorki zugestand. Und erst recht dient Poetisierung bei Bunin nie der Beschönigung oder Verbrämung. Die poetische Sprache lädt vielmehr die Texte mit ihren oft harten Realitäten zusätzlich auf, sie eröffnet zusätzliche Schichten, manchmal auch scheinbar widersprüchliche emotionale Bedeutungen, sie flicht Töne der Melancholie, der Hoffnung oder auch der Verzweiflung in die Texte ein. Und nicht zuletzt stellt Bunin mit seinem „Stil“ die Handlungen fast unbemerkt in einen weiten Zeithorizont: Die Sprache verbindet multiperspektivisch Subjektivität mit den großen Dimensionen der Kultur. So werden Bunins Erzählungen zu feinen Sensorien für die großen Fragen seiner Zeit, in denen das Einzelne plastisch im Zentrum steht, doch in einem überzeitlichen Gestus, der an menschliche Grundfragen rührt – nicht zuletzt an diejenigen von Liebe und Tod.

So versteht es Bunin, noch im Unglück Schönheit und poetische Melancholie mitschwingen zu lassen, extremen Handlungen und absonderlichen Figuren ihre eigene Wahrheit zu geben, die aus der Beschreibung, der „Beobachtung“, dem Zuhören kommt. Bunins Erzählen ist sinnlich und greifbar, doch war die Oberfläche nie das, was Bunin interessierte. Das Äußere fasziniert Bunin als Spur des Inneren, Wahren, Alten, Großen. Dies galt auch und gerade für seine tiefste Leidenschaft – das Reisen.

Während seines gesamten Lebens in Russland, also bis zum Alter von 50 Jahren, hatte Iwan Bunin nie einen längerfristigen festen Wohnsitz. Er besaß auch nie einen Hausrat. Einen Teil des Jahres verbrachte er meist bei Familienangehörigen in seiner Heimatregion, die Winter manchmal auf Capri, die Sommer auf Datschen. Gerne wohnte er aber, sobald er sich dies leisten konnte, in schönen Hotels – und aus dem Koffer. Der Nobelpreis, den er 1933 als erster russischer Schriftsteller erhielt, wird ihn dann spät noch zum Bewohner einer Villa in Südfrankreich machen, wobei er sich die letzten Jahre, längst wieder verarmt, ganz nach Paris zurückzog.

Am liebsten war er immer auf Reisen gewesen. Bunin zog es in der Jugend in den Süden, in die als exotisch empfundene Ukraine mit den (damals noch unkanalisierten) Stromschnellen des Dnjepr oder auf die Krim. Später dehnte er seinen Reiseradius kontinuierlich aus: Er reiste oft nach Konstantinopel, später zusammen mit seiner Frau auch nach Palästina und Ägypten und schließlich bis nach Ceylon. Einen kleineren Teil der Eindrücke verarbeitete Bunin in Erzählungen, den größeren in Reisebildern, im Zyklus Der Sonnentempel und anderen. Die Aufenthalte in Westeuropa allerdings finden nur in einigen wenigen Erzählungen, insbesondere dem berühmten Herrn aus San Francisco, ihren Niederschlag. In der Emigration dann kann er als Staatenloser fast gar nicht mehr reisen; kleine Ausnahmen bilden die Entgegennahme des Nobelpreises in Stockholm oder Kurzaufenthalte etwa im Baltikum. Eine traumatische Erfahrung im Jahr 1936, bei der er von deutschen Grenzern aufs übelste drangsaliert wurde, zeigte ihm deutlich die neuen Grenzen seiner Bewegungsfreiheit.

Bürger des Weltalls

Bunins Reisebilder – die einen Einfluss auch auf die anderen Erzählungen haben – sind geprägt von so präzisen wie poetischen Beschreibungen optischer, taktiler und olfaktorischer Art. Immer verbinden sie das aber mit einem Rückbezug auf die Kulturgeschichte, auf die großen Texte einer Region und ihrer Bewohner. Bunin sucht dabei die Vermittlung: Er will das Alte im Gegenwärtigen sehen. Bunins Blick auf fremde Regionen entzieht sich sowohl der europäisch-kolonialen Perspektive wie auch dem nationalen Denken seiner Zeit. Es erstaunt deswegen nicht, wenn er in einer Reisenotiz bemerkt, er werde wohl nie verstehen, „was Liebe zum Vaterland sein soll“ – lieber sei er „Bürger des Weltalls“, was ihm offenbar auf dem Meer, in der „Macht Neptuns“, am besten gelang. Bunin liebt in seinen Texten das Fremde, Andere, und er liebt es mit dem Drang zu begreifen, er gibt sich nicht zufrieden, solange er die kulturellen Tiefen wie die Sehnsüchte der Menschen nicht versteht. In der in Ceylon spielenden Erzählung Brüder, wo er koloniale Situationen thematisiert, wird ein illiterater Rikschafahrer mit seinen scheiternden Sehnsüchten geradezu zum tragischen romantischen Helden – und damit zum antikolonialen Mahnmal im Zeichen der kulturübergreifenden Menschlichkeit.

Wenn Bunins Prosa süchtig machen kann, dann wegen der Sprache, wegen der eigenen Welten, die seine Texte eröffnen, wegen ihrer Plastizität und der Figuren, die einem so nahe kommen, wegen der Natur, die immer mit im Zentrum steht und bei der sich die poetische Schönheit von Bunins Sprache am reichsten entfaltet. Bunin hat sich dieses Vermögen in der Emigration bewahrt. Von Anfang an findet sich in seinen Texten ein Gestus der Erinnerung. Bunins erste, 1890 publizierte Erzählung Erste Liebe, trägt bereits den Untertitel „Aus Kindheitserinnerungen“ – aus heutiger Perspektive klingt dies wie ein Programm fürs Leben. Die Erinnerung, auch die an das eigene Leben, prägt Bunins Texte immer schon, doch wird sie in den Jahrzehnten der Emigration in den Erzählungen immer zentraler. Sie kulminiert im autobiographisch geprägten Erinnerungsroman Das Leben Arsenjews (Shisn Arsenjewa, 1927–1930). Bis an sein Lebensende schrieb Bunin seine Texte vor einer neuen Publikation zudem immer wieder leicht um, redigierte sie stilistisch und schien nie ganz zufrieden damit.

Rückkehr

Bunins Texte konnten – im Unterschied zu denjenigen vieler anderer Emigranten – seit einer fünfbändigen Ausgabe im Jahr 1956 in der Sowjetunion wieder publiziert werden (mit Ausnahme weniger Werke, etwa des Revolutionstagebuchs Verfluchte Tage). So kehrte Bunins Werk in seine sprachliche Heimat postum, aber doch viel früher zurück als etwa Vladimir Nabokov oder Gaito Gasdanow.
Gerade die postsowjetische Zeit brachte Bunin verstärkt zurück ins Bewusstsein einer breiten russischen Leserschaft, in die Schule und in den immer noch wirksamen Kanon. Ob es für das Verständnis seines Werks nur gut ist, dass er nun zum ‚Klassiker‘ wurde, ist dabei eine andere Frage.

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