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„Als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum”

Hunderttausende Belarussen haben nach den historischen Protesten von 2020 ihre Heimat verlassen müssen, um Verfolgung und Festnahme zu entgehen. Was macht das Leben in der Emigration mit der eigenen Sprache, mit der eigenen Kultur? Wie die Hoffnung auf einen politischen Wandel hochhalten, der die Rückkehr ermöglichen würde? 

Mit welchen Herausforderungen das Leben im Exil verbunden ist, wenn man nicht weiß, ob man jemals in seine Heimat zurückkehren kann, darüber spricht die Sängerin Ketevan, die im Alter von fünf Jahren aus Georgien nach Belarus kam und aktuell in Polen lebt, mit dem belarussischen Online-Portal Budzma.

Источник Budzma

Die belarussische Sängerin Ketevan / Foto © privat/Instagram

Budzma: Wie verlief deine Emigration? Abgesehen davon, dass du schon als Kind aus Georgien nach Belarus gezogen bist.

Ketevan: Das ist eine komplizierte Geschichte. Seit 2020 habe ich mehrfach das Land gewechselt. Zuerst bin ich nach Kyjiw gegangen, ohne auch nur irgendwie zu begreifen, was da vor sich geht. Ich nahm nicht einmal Sommersachen mit, suchte mir kein Zimmer – ich dachte überhaupt nicht in diese Richtung. Aber in der Ukraine lief es gut, wir probten sogar für ein Theaterstück. Mit einem Regisseur vom SChT (dt. Modernes Künstlertheater) in Minsk, zu einer Hälfte mit Belarussen, zur anderen mit Ukrainern besetzt. Ich war von Anfang an in dieses Projekt involviert, trat sogar mit auf. Ab und zu stellte sich das Gefühl ein, endlich aufzuwachen. Aber dann kehrte wieder dieses seltsame Unverständnis zurück. 

Nach einiger Zeit zog ich nach Gdańsk, weil dort mein Freund war. Ich unterhielt mich gern mit dem Meer, aber ich hatte absolut nichts zu tun. Zum Glück konnte ich dann eine Künstlerresidenz am Theater in Warschau beginnen, da war ich unter Gleichgesinnten. Um mich herum waren Schauspieler, sensible Menschen, mit feiner Seelenstruktur. Wenn sie nicht zu Hause sind, noch dazu gegen ihren Willen, nehmen sie das doppelt schwer. Mir wurde klar, dass ich kein dummes kleines Mädchen bin, sondern einfach verloren, wie alle um mich herum. 

Wie ich mich in der Emigration fühle? Es ist ein großes Durcheinander, als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum

Einen Monat später war Krieg. Ich begann, am Bahnhof in Przemyśl, nahe der Grenze, als Freiwillige zu helfen. Tausende Menschen, verlorene Gesichter – das war eine furchtbare, aber auch gute Erfahrung. Ich hatte dort wenigstens ein bisschen das Gefühl, die Realität zu begreifen. Das Gefühl, zu tun, was getan werden muss. Ich war sehr müde, in den ersten Monaten des Krieges leisteten wir 15 bis 16 Stunden Hilfe am Tag. 

Einige Zeit später packte ich meine Sachen und fuhr nach Vilnius – um wieder im Unbekannten zu landen und von Null zu beginnen (lacht). In Litauen wohnte ich drei Monate lang bei Freunden, dann fuhr ich als Freiwillige an die Grenze, weil ich mich wieder nutzlos fühlte. Dann folgte noch ein Umzug nach Warschau – in Polen ist es einfacher mit der Bürokratie. 

Wie ich mich in der Emigration fühle? Es ist ein großes Durcheinander, als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum. Alles ist in Bewegung, und du weißt nie, was dich morgen erwartet. Ich liebe mein Leben, ich jammere nicht, ich finde, mir geht es super. Aber dieses Leben ist surreal. 

Fühlst du dich „zu Hause“? Verspürst du den Wunsch, nach Belarus zurückzukehren?

Der Surrealismus meines Lebens im Exil besteht wohl am ehesten darin, dass ich nicht das Gefühl habe, nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Mein Leben im Ausland ist sehr seltsam – ich treffe mich mit Belarussen, mache belarussische Musik, lese belarussische Bücher. Dass ich nicht zu Hause bin, wird mir bewusst, wenn es um Bürokratie geht. Wital Karaban, ein belarussischer Dramaturg und Regisseur, hat mit uns das Stück Masaika (dt. Mosaik) inszeniert. Der Text basiert auf unseren Gesprächen, ich spiele darin letztlich mich selbst. 

In dem Stück erzählen wir von den unangenehmen Seiten der Emigration, es richtet sich in erster Linie an das polnische Publikum, damit dieses die andere Seite unseres Lebens hier sieht. Manchmal sieht es aus, als würden wir hier durchdrehen, tanzen, trinken, und man könnte meinen: „Euch geht’s ja gut hier!“ Uns allen im Exil ist nicht immer klar, wie man solche verrückten Partys überhaupt noch feiern kann. Mit unserem Stück beleuchten wir viele solcher Fragen. Wir erhalten viel Dank für diese Möglichkeit, die Belarussen besser zu verstehen. 

Durch künstlerisches Schaffen können wir die Verbindung zwischen den Belarussen im Ausland und den im Land Gebliebenen aufrechterhalten. Wir wollen wissen, was zu Hause passiert, und umgekehrt. Wir glauben immer, wir haben uns verändert, aber eigentlich sind wir absolut dieselben geblieben und werden auch so bleiben, wie wir immer waren. 

Da wir über das künstlerische Schaffen sprechen: Kommen wir zu deiner Zusammenarbeit mit Lavon Volski und seinem Projekt Emihranty. Wie kam es zu dieser Kooperation?

Lavon habe ich zufällig kennengelernt. Er suchte für sein neues Album eine Frauenstimme. Beim ersten Treffen sang ich die betreffenden Songs und obwohl ich sie noch gar nicht richtig kannte, wusste ich: Ich verstehe das alles. Volski gefiel es, und wir nahmen sehr schnell alles auf. 

Emihranty, das ist nicht nur Musik, das sind Szenen, die ich auch schon erlebt habe. Ich erhalte oft Nachrichten wie „Meine Mama klingt am Telefon genauso!“, „Meine Freundin sagt, dass ihr genauso alles zuwider ist wie der Frau in dem Lied“. Ich freue mich, wenn Kunst eine Reaktion auslöst. 

 
In dem Lied Jak tam sprawy (dt. Wie läuft's bei euch?) imitieren Ketevan und ihr Gegenpart Lavon Volski ein Telefongespräch zweier Belarussen, von denen sich die eine im Exil und der andere noch in Belarus befindet. Der erklärt zur Verwunderung der Gesprächspartnerin immer wieder, dass bei ihnen „alles normal” sei. 

Es gab auch die folgende Situation. Im Song Jak tam sprawy (dt. Wie läuft's bei euch?) fragt eine Person die andere: „Wie läuft’s bei euch, wieder jemand verhaftet?“ und die Antwort lautet: „Nein, alles gut, wir nehmen gerade einen neuen Kredit auf." Hörer schrieben mir: „Sind bei uns etwa nur mehr solche Leute übrig? Warum singt ihr so was?“ Ich antwortete, solche Leute gebe es überall zur Genüge. Und solche Gespräche auch – unangenehme, schwierige, die davon zeugen, dass die Menschen sich mit ihrer Situation abgefunden haben. Ich habe auch Freunde, die so kaputt sind, dass sie diese ganze Realität ausblenden. 

Volskis Album handelt von dem, was ist, nichts darin ist erfunden. Die Zusammenarbeit mit Lavon fand ich sehr schön, vor allem, wie respektvoll alle im Team miteinander umgehen, das sind diese echten belarussischen Intellektuellen! Ich bin immer gern hingegangen, habe ihren Gesprächen zugehört, bei ihnen sind sogar die einfachsten Gespräche interessant. 

In einem der Songs geht es um eine Frau, die emigriert ist und der an ihrem neuen Wohnort buchstäblich nichts gefällt. Gibt es in der Emigration etwas, das dich stört? Wie nah ist dir dieser Text?

Es gibt da ein Thema bei mir, nämlich Ärzte. Ich weiß nicht, wie ich an medizinische Versorgung komme, ehrlich gesagt wusste ich auch in Belarus nicht genau, wo ich hinsoll, wenn ich krank bin. Aber zu Hause gab es eine Poliklinik und ich wusste, wenn etwas passiert, kann ich den Rettungswagen rufen. Alles, was Essen angeht oder dass die Geschäfte sonntags geschlossen sind, stört mich nicht, weil mir in Belarus andere Dinge wichtig waren. Ich mag Nutella, in dieser Hinsicht ist jetzt alles paletti, weil es hier viel davon gibt (lacht). Bei einem Konzert in Wrocław haben Frauen im Publikum dieses Lied mitgesungen, vom Anfang bis zur letzten Zeile, und sehr professionell. Das war so krass!

Gab es zu diesem Songtext auch Fragen von Belarussen, die in Belarus geblieben sind, nach dem Motto: Wenn alles so schlimm ist, warum seid ihr dann noch dort?

Ja, die gab es wirklich. Mit Menschen, die solche Fragen stellen, gehe ich genauso um, wie mit denen, die überhaupt nicht verstehen, was abgeht. Ich antworte gar nicht. Wenn jemand sich für einen Freund hält und dann sagt: „Komm doch wieder zurück!“, was ist das dann für ein Freund? Er versteht offenbar gar nichts oder will, dass ich in den Knast komme.

Im Gegensatz dazu gibt es Belarussen, die sich im Ausland einleben, sich dort ein Leben aufbauen und gar nicht mehr vorhaben zurückzukehren. Was hältst du von denen?

Ich habe viele Freunde, die mit Kindern emigriert sind. Ich verstehe sie in dieser Hinsicht gut, weil sie für das Leben und die Zukunft ihrer Kinder Sorge tragen. Ich glaube weiterhin daran, dass der Wandel kommen wird – ich weiß, dass das einfach ein sehr langes Spiel ist. Was gerade auf der Welt passiert, ist ein Wahnsinn, und unsere Geschichte ist Teil dieses Wahnsinns, sie wird sich so schnell nicht ändern. Wenn alles gutgeht und wir nach Hause können, wird es auch noch einige Zeit dauern, bis alles bewältigt ist. Für kleine Kinder ist das alles nicht leicht. Ich freue mich sehr, wenn Leute sagen, dass sie zurückkehren wollen, darüber sprechen viele. Ich träume von langen Schlangen an den Grenzen, mit Gesängen und Flaggen. 

An der Sprache erkennst du deine Leute, wenn du in einem anderen Land lebst

Eines ist mir aufgefallen: Kinder zieht es, egal wo sie aufwachsen, immer in die Heimat. Ich bin eine Georgierin, die in Belarus aufgewachsen ist, und habe mich immer für meine Sprache und Kultur interessiert, wollte immer nach Georgien reisen. Aus gewissen Gründen möchte ich im Moment nicht dort leben. Aber ich habe immer den Wunsch, hinzufahren und die Energie meines Landes zu spüren, es ist für mich ein Kraftort. So wird es auch den belarussischen Kindern gehen, von denen viele jetzt in Polen leben. Sie werden ganz bestimmt den Wunsch verspüren, nach Belarus zu fahren, und so Gott will, werden sie dort ihre neuen Erfahrungen aus dem Leben in einem freien, demokratischen Land einbringen können.

Was kann man im Ausland tun, um seine Kultur zu bewahren, um das Belarussische nicht zu verlieren?

Tatsächlich ist das gerade leicht: Ich weiß, dass es Leute gibt, die die künstliche Intelligenz mit belarussischer Geschichte und Sprache füttern. Die Sprache ist sehr wichtig. Wenn ich in Warschau Belarussisch höre, denke ich sofort: „Alles in Ordnung!“ Zu unseren Konzerten kommen tolle Leute, die Atmosphäre ist immer heimelig, alle singen zusammen, umarmen sich. Man muss regelmäßig Landsleute treffen, das Eigene unterstützen, mehr auf Belarussisch lesen, neue Projekte initiieren. Wenn ich Songs schreibe, dann weiß ich, dass dadurch die politischen Häftlinge nicht freikommen, aber die Geschichte unseres Landes weitergeht. Das sind kleine Schritte, aber sie sind wichtig. Man muss auch die Kinder unterrichten, damit sie ihre Sprache lernen und weitertragen. 

An der Sprache erkennst du deine Leute, wenn du in einem anderen Land lebst. Wenn ich Georgier treffe, begrüße ich sie immer auf Georgisch. Dann drehen sich mir sofort glückliche Gesichter zu! Wenn wir einen Belarussen treffen und rufen „Oh, ein Belarusse!“ und ihn umarmen möchten, dann schreiben wir unsere Geschichte fort. 

 
Ketevan bei einer Veranstaltung zum Dsen Woli im Jahr 2023 in Warschau

Woran arbeitest du gerade und welche Pläne hast du für die Zukunft?

Kürzlich habe ich den Song Datschka sonza (dt. Sonnentochter) veröffentlicht, das war super. Wir bereiten ein Album vor, an dem wir schon sehr lange arbeiten. Darauf geht es um soziale Themen – um die Freiheit des Lebens und ihre Einschränkungen. Auch um Liebe wird es gehen. Bei Musik und Kunst geht es für mich immer um Liebe. Es gibt einfache, aber großartige Songs über Verliebtheit, in guter, moderner belarussischer Sprache, manche basieren auf Gedichten von Dascha Bjalkewitsch. Wenn Teenager diese Songs hören, wundern sie sich, dass es im Belarussischen solche Wörter gibt. Ich habe auch einige Einpersonenstücke, die ich ins Belarussische übersetzen werde. Wir arbeiten, sind kreativ, tun was.

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Die belarussische Diaspora: Erneuerte Solidarität

Die politische Krise, die mit den Protesten vom Sommer 2020 begann, hat zu einer neuen Welle der Massenmigration aus Belarus beigetragen und die  Politisierung der belarusischen Diaspora gefördert. Den vorliegenden Daten zufolge haben innerhalb des ersten Jahres seit den Ereignissen schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Menschen das Land verlassen. Bei einer erwerbstätigen Bevölkerung von insgesamt rund 4,3 Millionen Menschen ist dies eine sehr hohe Zahl. Zugleich ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Angesichts der anhaltenden Repressionen im Land planen oder erwägen weiterhin viele Menschen die Ausreise. Auch im Zuge des Krieges in der Ukraine sind viele Belarusen wieder auf der Flucht, denn viele hatten in Kiew oder anderen ukrainischen Städten neu angefangen. 
Die neuen Migranten treffen auf eine Diaspora, die aus einer langen Geschichte mehrerer Auswanderungswellen hervorgegangen und in zahlreichen Ländern organisiert und politisch aktiv ist. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja gibt der Demokratiebewegung im Ausland ein neues, international bekanntes Gesicht mit politischem Gewicht.

Bereits die Wahlkampagne im Frühjahr 2020 in Belarus, in der Kandidaten nicht zugelassen, verhaftet oder ins Exil getrieben wurden, und die friedlichen Massenproteste nach der gefälschten Präsidentenwahl  gaben der Diaspora bemerkenswerten Aufschwung: Bestehende Auslandsorganisationen (unter anderem in den USA, Schweden, Großbritannien und Polen) wurden so gestärkt und neue Organisationen (unter anderem in Italien, Deutschland und der Tschechischen Republik sowie in den USA) registriert. 

Diese neue Solidarität lässt sich an der hohen Beteiligung der belarusischen Diaspora an kontinuierlichen politischen Aktivitäten ablesen, mit denen auf Ungerechtigkeiten in Belarus aufmerksam gemacht wird. Daran zeigt sich auch, dass die außerhalb des Landes organisierte belarusische Demokratiebewegung eine wichtige Rolle spielt. Für Aljaxsandr Lukaschenka erschwert das ein neuerliches Lavieren zwischen dem Westen und Russland. Das ist mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine allerdings mehr denn je in den Bereich des Undenkbaren gerückt, da Lukaschenka der russischen Führung gewährt, Belarus  als Aufmarschgebiet für russische Truppen zu nutzen. In einer Zeit, in der die Opposition im Land selbst zunehmend unterdrückt wird, dient die Diaspora dabei als Stimme von außen, um demokratische Veränderungen einzufordern.

Vor der politischen Krise von 2020

Die Geschichte der Auswanderung aus der Region des heutigen Belarus beginnt zur Zeit des Großfürstentums Litauen: Damals studierten Hunderte junger Belarusen an Universitäten in West- und Mitteleuropa. Emigranten wie Francysk Skaryna, Ilja Kapijewitsch und andere berühmte Persönlichkeiten der belarusischen Kultur haben im Ausland prägend gewirkt. 

Die Massenauswanderung setzt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Zu dieser Zeit wurden Migranten nicht als Belarusen erfasst, weil die zaristische Regierung diese Nationalitätsbezeichnung offiziell nicht zuließ und es ablehnte, das ethnografisch belarusische Gebiet unter eine einheitliche Verwaltung zu stellen. Obwohl die Zahlenangaben schwanken, liegen sie überwiegend in derselben Größenordnung: Zwischen 1860 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs verließen etwa 1,5 Millionen Belarusen ihre Heimat. Die meisten gingen nach Sibirien, der Rest wanderte in Richtung Westen aus – nach Europa und in die USA. Diese Migrationswelle hatte einen vorwiegend wirtschaftlichen, teils aber auch politischen Hintergrund. Belarusische Juden wanderten in den 1850er Jahren aufgrund religiöser Verfolgung durch die Obrigkeiten aus.

Die Entstehung der belarusischen Diaspora

Die zweite Welle der belarusischen Emigration wurde durch den Ersten Weltkrieg und die revolutionären Ereignisse von 1917 ausgelöst. In den folgenden Jahren gab es in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) über zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Gebiet des heutigen Belarus, mehr als 100.000 Menschen gingen in andere Länder. Mit der Proklamation der Belarusischen Volksrepublik (BNR) 1918 und der Gründung der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) im Jahr 1919 erhielt das erwachende Nationalbewusstsein einen Schub. Die Belarusen sahen sich zunehmend als eigenständige Gruppe. 

Die Politisierung der belarusischen Diaspora begann in den 1920er Jahren in den USA: Zu dieser Zeit nahm die Führung der Rada BNR Kontakt zu neu gegründeten belarusischen Organisationen in New York, New Jersey, Chicago, Michigan und Pennsylvania auf und begann, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Archivdokumente zeigen, dass die kommunistischen Führungen in Moskau und Minsk sogar Versuche unternahmen, belarusische Emigranten über die Schaffung pseudo-nationaler belarusischer Organisationen für die kommunistische Bewegung zu mobilisieren – um die Weltrevolution voranzutreiben. In seinem Buch Belarusians in the United States liefert Vitaut Kipel mit Gershan Duo-Bogen ein Beispiel eines kommunistischen Agenten, der daran beteiligt war, die kommunistische Bewegung auf der anderen Seite des Ozeans zu aktivieren.

Belarusen engagieren sich von den USA aus für nationale Selbstbestimmung

Der Zweite Weltkrieg führte zur dritten Auswanderungswelle. Bei Kriegsende zählte die belarusische Diaspora in Europa etwa eine Million Menschen, von denen es viele weiter in die USA zog. Die politischen Emigranten der 1950er Jahre und ihre Nachkommen bildeten die Basis der modernen belarusischen Diaspora. Diese nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA eingewanderten Belarusen waren nationalbewusst. Sie setzten sich bei der US-Regierung mit Nachdruck dafür ein, den belarusischen Staat als nationale und ethnische Einheit mit dem Recht auf Freiheit und nationale Selbstbestimmung anzuerkennen. So hielten beispielsweise belarusische Priester laut Protokoll des US-Kongresses in den 1960er bis 1980er Jahren fast an jedem Jahrestag der Proklamation der BNR Eröffnungsgebete für den Kongress ab. Zum 50. Jahrestag der BNR-Gründung im Jahr 1968 verzeichnet das Protokoll 23 Redebeiträge im US-Kongress, die die Unabhängigkeit von Belarus unterstützten.

Von 1960 bis 1989 war kaum Auswanderung möglich

In den 1960er bis und 1980er Jahren wuchs die belarusische Diaspora nicht nennenswert an, weil die Emigration aus der Sowjetunion rechtlich nicht möglich war. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR, der massiven Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage in der Republik Belarus sowie den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 erhöhte sich die Zahl der Ausreisen wieder deutlich. Im Jahr 1989 erlaubte die Sowjetrepublik dem Innenministerium zufolge 14.700 Menschen auszureisen. 1990 lag diese Zahl bei 34.100 Menschen und war damit mehr als doppelt so hoch. 

Feierlichkeiten der kanadischen Diaspora zum 50. Jahrestag der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik / Foto © Rada BNR

Nachdem Aljaxandr Lukaschenka im Jahr 1994 an die Macht gekommen war, schwand die anfängliche Hoffnung der belarusischen Diaspora auf eine demokratische Zukunft. An ihre Stelle traten politische Aktivitäten, die von dem Gedanken geleitet waren, Belarus als unabhängigen demokratischen Staat zu erneuern. Die neuen belarusischen Migranten konnten sich im Laufe der Zeit mit der älteren organisierten Diaspora in den USA, Kanada, Europa und anderen demokratischen Ländern auf gemeinsame Positionen verständigen. So wurde in den USA nach erheblichem Engagement der belarusischen Diaspora der Belarus Democracy Act von 2004 verabschiedet – ein US-Bundesgesetz, das erlaubte, politische Organisationen, NGOs und unabhängige Medien zu unterstützen, die sich für die Förderung von Demokratie und Menschenrechte in Belarus einsetzen. Diese Bewilligung wurde in den Jahren 2006, 2011 und 2020 erneuert.

Neue Migrationswelle nach den Repressionen in Belarus

Seit der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2019 emigrierten jährlich schätzungsweise zwischen 10.000 und 20.000 Menschen aus Belarus. Das brutale Vorgehen gegen die Opposition nach den größten Protesten in der Geschichte des unabhängigen Belarus 2020/2021 löste dagegen eine beispiellose Migrationswelle aus. Im ersten Jahr nach August 2020 haben etwa 100.000 bis 150.000 Menschen Belarus verlassen. Viele gingen nach Lettland, Estland und noch weiter weg. 

Nicht eingerechnet sind diejenigen, die nach Russland oder in die Ukraine übersiedelten, weil es kein Visum braucht, um in diese Länder zu reisen. Mit präzisen Zahlen ist es dort daher schwierig. Trotzdem lässt sich die Vorstellung einer Größenordnung bekommen: Laut den Zahlen, die der Staatliche Migrationsdienst der Ukraine herausgibt, stiegen die befristeten Aufenthaltsgenehmigungen für belarusische Staatsbürger dort beispielsweise um 39 Prozent (von 2175 im Jahr 2019 auf 3042 im Jahr 2021). Im Oktober 2020 unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky zudem ein Dekret, das es Unternehmern und hochqualifizierten Fachkräften mit belarusischer Staatsangehörigkeit sowie deren Familienangehörigen erleichtert, eine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine zu erhalten. Infolgedessen sind seit der Protestwelle nach der Präsidentschaftswahl bis zu 1500 belarusische IT-Spezialisten aus politischen Gründen in die Ukraine emigriert. 

Doch die meisten Belarusen gingen nach Polen. Laut Eurostat sind dort zwischen August 2020 und November 2021 knapp 2000 Asylanträge von belarusischen Staatsbürgern eingegangen – mehr als in jedem anderen EU-Land. Das ist ein eindrucksvoller Zuwachs, denn zwischen  Anfang 2019 und  September 2020 hatten Belarusen in Polen nur 165 Asylanträge gestellt. Nach Angaben des polnischen Außenministeriums hat das Nachbarland im Zeitraum von Juni 2020 bis Ende Juli 2021 zudem 178.711 Visa an Personen aus Belarus erteilt, darunter mehr als 20.000 „Poland.Business Harbour“-Visa, etwa für Programmierer und Unternehmer im IT-Bereich.

Das EU-Land mit der zweithöchsten Zahl von Asylanträgen aus Belarus ist Litauen: Dort beantragten 235 belarusische Bürger Asyl – von Anfang 2019 bis zum Beginn der Proteste waren es dagegen nur 35. Nach den Zahlen der litauischen Migrationsbehörde hat das Land von September 2020 bis November 2021 zudem 26.200 nationale Visa an belarusische Bürger ausgestellt. 

Die Politisierung der Diaspora nach den Protesten in Belarus

Nach dem Ausbruch der Krise hat sich die belarusische Diaspora innerhalb weniger Monate weltweit zu einer ernstzunehmenden Kraft mit politischem Einfluss entwickelt. Ihre Aktivitäten sind jetzt eng mit neuen politischen Kräften verknüpft, etwa dem Koordinationsrat von Belarus, dem Büro der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja und dem NAM (Nationales Antikrisen-Management).

Der Koordinationsrat von Belarus wurde im August 2020 von Zichanouskaja im litauischen Exil ins Leben gerufen, um auf eine friedliche Machtübergabe hinzuarbeiten und die Krise im Land zu überwinden. Er versteht sich als das ausschließliche Repräsentativorgan der demokratischen belarusischen Gesellschaft. Die Arbeitsgruppen des Rats befassen sich unter anderem damit, Bildungsinitiativen zu entwickeln, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und über Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen zu informieren, die ihren Arbeitsplatz verloren haben.

Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja ist eine separate Einrichtung. Es besteht aus ihr selbst, acht Beratern für nationale und internationale Angelegenheiten sowie Kommunikationsmitarbeitern.

Die von Pawel Latuschka im Oktober 2020 gegründete Organisation NAM (Nationales Antikrisen-Management) in Warschau arbeitet mit dem Koordinationsrat und Zichanouskajas Büro zusammen. Zudem gibt es zahlreiche Initiativen, darunter ByPol, das von ehemaligen Sicherheitskräften gegründet wurde, und BySol für Sportler, ein Projekt von Sportfunktionären und Athleten.

Die belarusische Diaspora hat viele Anstrengungen unternommen, um sich weltweit zu vernetzen und sich in das Ringen um ein künftiges Belarus einzubringen. Ein Beispiel dafür ist die neu gegründete Organisation Association of Belarusians in America (ABA), die Repräsentanten belarusischer Communitys aus 25 Städten in 18 US-Staaten verbindet. Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja organisierte im September 2021 eine Konferenz der Belarusen der Welt in Vilnius und brachte Vertreter belarusischer Communitys aus über 27 Ländern und 40 Organisationen zusammen. 

Durch die Repressionen sind die Proteste 2021 abgeebbt. Infolge der brutalen Unterdrückung durch die belarusische Regierung und mit der Rückendeckung durch Russland bestand kaum noch Aussicht, etwas zu erreichen. Gleichwohl ist zu erwarten, dass die neu erstarkte und vereinte Diaspora sowie die organisierten demokratischen Kräfte von außen weiter und stärker als vor dem Krisenjahr 2020 eine demokratische Zukunft für Belarus einfordern und denjenigen helfen werden, die unter den Repressionen des Lukaschenka-Regimes leiden. 

ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

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