Der Eiserne Vorhang sei das „größte Kondom der Welt“, so hieß es in den 1980er Jahren mitunter. Diese ironische Formulierung beruhte auf der Annahme, dass die weitgehende geopolitische Isolation und die restriktiven Ein- und Ausreisebestimmungen der Sowjetunion für einen relativ effektiven Schutz der sowjetischen Bevölkerung vor HIV/AIDS sorgen würden.1
Doch dem war nicht so.
Zwar wurden die ersten AIDS-Fälle in der Sowjetunion tatsächlich erst einige Jahre nach dem Auftreten der Erkrankung in afrikanischen und westlichen Staaten registriert. Doch ab Mitte der 1980er Jahre erreichte das AIDS-auslösende Humane Immundefizienz-Virus (HIV) auch die Sowjetunion und andere Ostblockstaaten. Medizinische und politische Entscheidungsträger in der UdSSR assoziierten die Erkrankung vor allem mit Homosexualität, Prostitution und Drogenkonsum. Chancen, aus den Erfahrungen bereits früher betroffener Gesellschaften zu lernen, blieben weitgehend ungenutzt. Dies prägt den Umgang mit der Krankheit in Russland bis heute. Derzeit sind in Russland mehr als eine Million Menschen mit dem HI-Virus infiziert.2
Sowjetische Fachkreise haben durchaus wahrgenommen, dass medizinische Fachjournale in den USA ab 1981 eine neuartige Krankheit beschrieben: Diese verursachte bei zuvor gesunden Menschen eine schwerwiegende Immunschwäche, an deren Folgeerkrankungen sie starben. Allerdings führte die Sowjetunion lange Zeit keine eigenen Untersuchungen oder präventive Maßnahmen zu der ab 1982 offiziell als AIDS (Russisch SPID – Sindrom priobretennogo immunnogo defizita, dt. Syndrom des erworbenen Immundefizits) bezeichneten Erkrankung durch.
Auch die Bevölkerung erfuhr nichts über die neue Krankheit, und die Medien thematisierten AIDS lange so gut wie gar nicht.3 So hörten die Bewohner der Sowjetunion einzig durch westliche Radiosender davon, dass es bereits fast überall auf dem Globus zu Ansteckungen gekommen war und auch sozialistische Staaten betroffen sein könnten.4
Tabuisieren und Externalisieren
Möglicherweise um solchen Informationen aus dem Westen etwas entgegenzusetzen, begann ab 1985 auch in der Sowjetunion die Berichterstattung über AIDS. Beiträge, die AIDS im Zusammenhang mit dem eigenen Land behandelten, suchte man in den ersten zwei Jahren der Thematisierung allerdings vergeblich. Dass so lange vermieden wurde, über AIDS in der Sowjetunion zu informieren, hängt auch mit verwandten Tabu-Themen wie Homosexualität, Prostitution und Drogen zusammen, über die ebenfalls nicht berichtet wurde. Stattdessen wurde AIDS fast ausschließlich mit dem kapitalistischen Westen verbunden.5
In einem Artikel der auflagenstarken Zeitung Trud äußerte sich etwa der stellvertretende sowjetische Gesundheitsminister Pjotr Burgassow dahingehend, dass AIDS dort auftrete, wo „geschlechtliche Verirrungen“ geduldet würden. Dies sei in „bestimmten Zirkeln“ des Westens der Fall, in der Sowjetunion sei so ein Verhalten jedoch „widernatürlich“.6
Ähnlich äußerte sich zwei Jahre später auch einer der führenden Virologen des Landes, Viktor Shdanow. In der Izvestia sprach er davon, dass AIDS eine Krankheit von Menschen mit „perversem Geschlechtsleben“ sei, womit er Homosexuelle meinte, und die Sowjetunion mit diesen „keine Probleme“ habe.7
Somit wurde von oberster Stellen vermittelt, dass es bestimmte sexuelle Praktiken oder auch Drogenkonsumenten in der Sowjetunion nicht gebe und somit auch kein AIDS, zirkuliere das Virus doch ausschließlich unter Angehörigen dieser Gruppen, vornehmlich in den USA. Entsprechend konstatierte der Gesundheitsminister der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) Anatoli Potapow 1986 in der Fernsehsendung Wremja, dass AIDS eine „westliche Erkrankung“ sei.
So wurde das Thema zu einem Nebenschauplatz des Kalten Krieges. AIDS wurde dabei nicht nur als westliche Krankheit, sondern auch als Krankheit aus dem Westen dargestellt. Konkret hatten KGB und Stasi im Rahmen einer Desinformationskampagne eine international rezipierte Verschwörungstheorie lanciert, wonach das HI-Virus die Nebenwirkung US-amerikanischer Biowaffenexperimente sei.8
Keine Aufklärung
Diese Darstellung der Krankheit als westlich blieb nicht ohne Folgen: So wurden etwa sowjetische Seeleute, Übersetzer, Entwicklungshelfer oder Militärberater, die in afrikanischen Ländern tätig waren, vor ihren Einsätzen nicht auf das Risiko einer Ansteckung hingewiesen. Unter anderem über sie erreichte das Virus schließlich die Sowjetunion.9 Auch die Tatsache, dass durch einige der in Afghanistan eingesetzten Soldaten Heroin in die Sowjetunion gelangte und sich so eine Drogenszene entwickelte, wurde übersehen.10
Stattdessen wurde der Bevölkerung das trügerische Gefühl vermittelt, dass die sozialistischen Moralvorstellungen – mit ihren im Vergleich zum Westen vermeintlich höheren sittlichen Standards – einen umfassenden Schutz darstellten. Solche Grundsätze standen einer sachlichen Betrachtung der Krankheit im Weg. So fand etwa aufgrund der Annahme, dass Sexualität der Sphäre des Privaten zuzuordnen sei und in der Öffentlichkeit nichts zu suchen habe, in Schulen oder Jugendverbänden keine Sexualaufklärung statt. Selbst Ärzte erhielten lange keine Weiterbildungen zu HIV/AIDS.11
Dabei hatten sich nach anfänglicher Ratlosigkeit bis Mitte der 1980er Jahre auf globaler Ebene viele Wissenslücken hinsichtlich HIV und seiner Übertragung geschlossen. Vor allem Aufklärungskampagnen und Präventionsmaßnahmen hatten sich als effektive Mittel im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus erwiesen. Doch in der Sowjetunion bediente man sich nicht an diesem Wissen, entsprechende Kampagnen wurden nicht durchgeführt. Über besonders gefährdete gesellschaftliche Gruppen wie Homosexuelle, Prostituierte und Drogenkonsumenten existierten zudem kaum Kenntnisse – ein Resultat ihrer langjährigen Kriminalisierung und Marginalisierung. Darüber hinaus waren Kondome nicht nur unpopulär, sondern auch Mangelware.12
1985 wurde schließlich ein Austauschstudent aus Südafrika als erster AIDS-Erkrankter in der Sowjetunion registriert, was den Staat erstmalig zum Handeln zwang.13 So wurden Untersuchungen unter ausländischen Studierenden durchgeführt, Infizierte unter ihnen wurden ausgewiesen. 1986 öffnete das erste Diagnose- und Therapiezentrum in Moskau, und es wurden – mit mäßigem Erfolg – eigene HIV-Tests entwickelt.14 Doch die Bevölkerung war über diese Maßnahmen kaum informiert, die Sowjetunion galt offiziell weiterhin als frei von AIDS.
1987/88 als Zäsur
Erst die Jahre 1987 und 1988 markierten einen Wandel sowohl der staatlichen Maßnahmen als auch der öffentlichen Berichterstattung. So wurde 1987 der erste infizierte Sowjetbürger registriert, 1988 die erste offiziell an AIDS gestorbene Sowjetbürgerin – und es wurde auch darüber berichtet. Die Politik der Glasnost, die Gorbatschows Perestroika begleitete, hatte diese Entwicklung ermöglicht.
Endlich konnten auch kritische Positionen artikuliert werden. Beispielsweise war in einem Artikel in der Literaturnaja Gaseta von „verbrecherischer Tatenlosigkeit bei der medizinischen Aufklärung“ sowie „Gleichgültigkeit und organisatorischer Unfähigkeit“ der verantwortlichen Organe die Rede.15 Dazu kam, dass 1987 die sowjetische AIDS-Desinformationskampagne offiziell beendet wurde und sich auch die sowjetische Akademie der Wissenschaften gegen die These aussprach, HIV sei von den US-Amerikanern bewusst geschaffen oder zumindest verbreitet worden.16
Doch trotz des Eingeständnisses, auch im eigenen Land mit Fällen von HIV und AIDS konfrontiert zu sein, erfolgten die notwendigen staatlichen Maßnahmen nur schleppend und waren von Vorurteilen geleitet. Sozialwissenschaftler und Betroffene hatten in den Aushandlungen über den Umgang mit der Krankheit und den Erkrankten keine Stimme. Auch die für die Bekämpfung von AIDS zentrale Zusammenarbeit von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren wurde durch die Marginalisierung der zweiten Gruppe unmöglich gemacht.
Die sowjetischen Maßnahmen setzten stattdessen auf Abschreckung und Strafen. So erließ der Oberste Sowjet im August 1987 eine Anordnung „über die Maßnahmen zur Verhinderung einer Infektion mit dem AIDS-Virus“, der zufolge das Anstecken einer anderen Person mit fünf bis acht Jahren Freiheitsentzug bestraft würde. Zudem wurde festgelegt, dass alle Angehörigen der sogenannten Risikogruppen zwangsweise auf HIV zu testen seien. Infizierte und erkrankte Bürger wurden auf speziellen Stationen isoliert.
Folgenreiche Stigmatisierung
Als ab 1987 die ersten staatlichen Informationsmaterialien auftauchten, sorgten sie bei vielen Menschen für Irritationen. Von einem Tag auf den anderen sollte das, was jahrelang als westliches Randgruppenproblem beschrieben worden war, auch sie selbst betreffen können. Entsprechend kollidierten die neuen Maßnahmen von Politik und Medizin mit den Ansichten in der Bevölkerung. Die Moskowskja Prawda veröffentlichte 1987 etwa einen offenen Brief 16 junger Ärzte, die keine AIDS-Erkrankten behandeln wollten. Man sollte AIDS eher als Chance sehen, die Gesellschaft von „schädlichen Elementen“ zu „reinigen“.17
Ähnlich dachte die breite Bevölkerung, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitut WZIOM von 1989 zeigte: 15 Prozent der Befragten forderten, AIDS-Erkrankte zu „liquidieren“ und circa ein Viertel forderte zudem die Todesstrafe für Drogenabhängige und Prostituierte, 31 Prozent sprachen sich für die Todesstrafe für Homosexuelle aus.18 In diesem Klima der Stigmatisierung vermieden es einige Menschen, sich auf HIV testen zu lassen.
Zum größten AIDS-Skandal der UdSSR kam es Ende 1988, als in einem Krankenhaus der kalmückischen Hauptstadt Elista mindestens 35 Kinder und acht Mütter mit dem HI-Virus infiziert wurden. Aus Mangel an Einmalspritzen hatte das Personal die gleichen Spritzen mehrfach benutzt. Ähnliche Fälle ereigneten sich kurz darauf auch in Wolgograd und Rostow am Don.19
Die Mehrheit der HIV-Infizierten im heutigen Russland steckte sich jedoch erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion an. Zur wirtschaftlichen Krise der 1990er Jahre kam ein in Trümmern liegendes Gesundheitssystem, sich ändernde sexuelle Normen und eine höhere Verfügbarkeit von Drogen. Doch diese neuen Gegebenheiten trafen in Gesellschaft, Politik und öffentlicher Gesundheitspflege auf Einstellungen zu HIV/AIDS, die den in der Sowjetunion geprägten Denkmustern verhaftet blieben.20 Die offiziellen moralisch-sittlichen Dogmen sowie die jahrelang unterlassene Aufklärung hatten zu einer starken gesellschaftlichen Stigmatisierung der Erkrankten geführt. Sie prägten auch die ersten Reaktionen auf AIDS in der Sowjetunion, welche wiederum als Blaupausen für das spätere Vorgehen in Russland dienten. Bereits Ende der 1980er Jahre stand dem Erfolg der Aufklärungsbotschaften die langjährige Politik des Verschweigens und Verdrängens im Weg – eine massive Hypothek auch für die Anti-AIDS-Arbeit in Russland heute.