Am Morgen des 18. Mai 2021 drangen Mitarbeiter der staatlichen Abteilung für Finanzermittlung (DFR) in die Redaktionsräume des unabhängigen Medienportals Tut.by in Minsk ein. Sie durchsuchten die Räumlichkeiten sowie einige regionale Büros des Unternehmens und auch die Wohnung von Chefredakteurin Marina Solotowa. Im Laufe des Tages wurden die Webseite sowie zahlreiche Spiegelserver blockiert. Am Ende des Tages wurde schließlich bekannt, dass zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Tut.by inhaftiert wurden.
In einer offiziellen Verlautbarung des Informationsministeriums zum Vorgehen gegen das größte unabhängige Medienunternehmen des Landes heißt es: „Die Generalstaatsanwaltschaft stellte zahlreiche Sachverhalte von Verstößen gegen das Gesetz über Massenmedien fest, die die Platzierung von verbotenen Informationen in einer Reihe von Veröffentlichungen auf der Internetressource Tut.by betreffen.“ Zudem wird Tut.by Steuerhinterziehung vorgeworfen. Gegen die Inhaber des Unternehmens wurde ein Strafverfahren eingeleitet.
Tut.by wurde in den vergangenen Jahren immer wieder Ziel von staatlichen Attacken. Journalistinnen und Journalisten, die für unabhängige Medien in Belarus arbeiten, leben seit den Protesten infolge des 9. August 2020 ohnehin gefährlich.
Schon in den ersten Stunden nach Bekanntwerden des Vorgehens gegen Tut.by schwappte eine Welle der Empörung in den belarussischen sozialen Medien auf sowie zahlreiche Bekundungen der Solidarität. Zudem entfachte sich eine Debatte über die Frage, wie der Schlag gegen Tut.by einzuordnen sei und wie weit die Machthaber um Alexander Lukaschenko hinsichtlich der ohnehin weitreichenden Repressionen noch gehen werden. dekoder bringt eine Auswahl von Stimmen aus dieser Debatte.
Nasha Niva: Abhängiger von Russland?
Das älteste belarussischsprachige Medium Nasha Niva hält das Vorgehen gegen Tut.by für einen schweren Schlag, der die belarussische Medienlandschaft insgesamt betrifft.
erschienen am 18.05.2021, Original
Narodnaja Wolja/Pjotr Kusnjazou: „Die Machthaber machen einen riesigen Fehler“
Pjotr Kusnjazou, Direktor der regionalen Informationsplattform Gomel – Silnyje Nowosti, urteilt in einem längeren Kommentar für die Zeitung Narodnaja Wolja, dass die ständigen Repressionen gegen unabhängige Medien vor allem die Hoffnungen auf ein demokratisches Belarus zerstören.
In diesem Sinne bedeutet der Tod des unabhängigen Mediensektors einen Schlag nicht nur und gar nicht so sehr gegen den demokratisch denkenden Teil der Gesellschaft als vielmehr gegen Belarus als zivilisiertes Land.
В этом смысле гибель существующего независимого медиасектора будет означать удар не только и не столько по демократически мыслящей части общества, сколько по Беларуси как цивилизованной стране как таковой.
erschienen am 18.05.2021, Original
SB. Belarus segodnja/Alexander Schpakowski: „Apotheose der Unverschämtheit und Unmoral“
In seiner Einschätzung für die staatliche Zeitung SB. Belarus segodnja hält der Politologe Alexander Schpakowski das Vorgehen des Staates gegen Tut.by aufgrund mutmaßlicher Steuervergehen für völlig legitim. Zudem wirft er ein, dass Unternehmen, die Teil des Minsker Hi-Tech-Parks sind und damit von Steuervergünstigungen profitieren, sich dem Staat gegenüber loyaler zeigen sollten.
erschienen am 18.05.2021, Original
Facebook/Lavon Volski: „Je suis Tut.by“
Lavon Volski gilt als Ikone der alternativen Musikszene in Belarus. Er ist der Meinung, dass die ständigen Repressionen das Fass zum Überlaufen bringen könnten.
erschienen am 18.05.2021, Original
YouTube/Swetlana Tichanowskaja: „Sie töten die Presse“
Für Swetlana Tichanowskaja, die führende Figur der belarussischen Oppositionsbewegung, ist es völlig klar, welches Ziel die belarussischen Machthaber mit der Abschaltung von Tut.by verfolgen.
erschienen am 18.05.2021, Original
Tribuna/Maxim Beresinski: „Sie können nicht alle zum Schweigen bringen“
Maxim Beresinski, der für das populäre Online-Sportmedium Tribuna die belarussische und ukrainische Sparte verantwortet, fragt sich, wen die Staatsmacht als nächstes ins Visier nehmen könnte.
Alles läuft genau so, wie es Pastor Niemöller auf dem Höhepunkt im Kampf mit den Nazis in Deutschland gesagt hat: Politiker, Geschäftsleute, Anwälte, Studenten, Pfarrer, kinderreiche Mütter haben sie schon geschasst. Jetzt sind die Journalisten dran. Wenn sie jetzt kommen und dich holen, wird niemand mehr da sein, dem du es erzählen kannst. Wir wissen nicht, was der nächste Trigger sein wird, aber der einzige Weg ist nun die maximale Öffentlichkeit. Alle Stimmen werden sie nicht schaffen abzuwürgen.
Все идет ровно так, как говорил пастор Нимёллер в разгар борьбы с нацизмом в Германии. Они уже пришли за политиками, бизнесменами, адвокатами, студентами, священниками, многодетными мамами. Теперь они пришли за журналистами. Теперь, когда придут за тобой, некому будет об этом рассказать. Мы не знаем, что станет новым триггером, но максимальная гласность сейчас – единственный путь. Все голоса им не заткнуть.
erschienen am 18.05.2021, Original
RuBaltic/Wsewolod Schimow: Faustpfand in Verhandlungen mit dem Westen?
In einem Beitrag für das Kaliningrader Online-Portal RuBaltic hält der belarussische Politologe Wsewolod Schimow beim Vorgehen gegen Tut.by eines für sicher: die weitere Verschlechterung der Beziehungen mit dem Westen.
Die ganze Frage ist, wie weit die belarussischen Machthaber in diesem Spiel zu gehen bereit sind. Die Zerschlagung von Tut.by bleibt ja im Westen nicht unbemerkt und senkt die Chancen auf eine Normalisierung der Beziehungen weiter.
Andererseits ist nicht ganz auszuschließen, dass das Schicksal von Tut.by vielleicht ein Faustpfand wird in den Verhandlungen zwischen den belarussischen Machthabern und dem Westen.
Весь вопрос в том, насколько далеко готова белорусская власть идти в этой игре. Ведь разгром tut.by не останется незамеченным на Западе и еще больше снизит шансы на нормализацию отношений.
С другой стороны, нельзя исключать, что судьба tut.by как раз-таки станет элементом торга в переговорах между белорусской властью и Западом.
erschienen am 18.05.2021, Original
Facebook/Yahor Lebiadok: Die Förderung der russischen Agenda
Der Militärhistoriker Yahor Lebiadok bringt die Zerschlagung der unabhängigen belarussischen Medien in einen außenpolitischen Zusammenhang. Er glaubt, dass hinter dem Vorgehen gegen Tut.by eine Konzession Lukaschenkos an Wladimir Putin und dessen Politik erkennbar sei.
Ich habe es bereits mehrfach gesagt und wiederhole es hier noch einmal: Während alle auf die Verhandlungen zu Krediten, Öl und Integrations-Roadmaps schauen, gibt Lukaschenko zur Unterstützung Putins (oder unter seinem Druck) viel Belarussisches auf – von der Kultur bis zu dringlichen Themen. Das merken die Menschen angesichts der vielen Nachrichten gar nicht, und es sind Dinge, um die es Lukaschenko aus seiner Perspektive nicht schade ist. Für Lukaschenko bedeutet die Säuberung solcher Medien, die Bewahrung der Regierung vor Kritik – auch im Zusammenhang mit möglichen politischen Kampagnen zu einer neuen Verfassung. Für Putin bedeutet sie die Säuberung des belarussischen Informationsraumes von allem Belarussischen und gleichzeitig die Förderung der russischen Agenda.
Говорил ни раз и здесь повторю — пока все смотрят на торг по кредитам, нефти, интеграционным картам Лукашенко за поддержку Путиным (или под давлением) сдает беларуское — от культуры до повестки дня. Это людям мало заметно в объеме новостей, и это то, что Лукашенко не жалко сдать, на его взгляд. Для Лукашенко зачистка такого рода СМИ — это удержание власти от критики, в том числе и в контексте возможных политических кампаний по Конституции (что и для РФ, вероятно, нужно). Для Путина — это зачистка беларуского информационного пространства от всего беларуского с продвижением российской повестки
erschienen am 18.05.2021, Original
dekoder-Redaktion