Dutzende Menschen hatten sich am 11. September 2025 an der US-Botschaft in Vilnius versammelt. Sie hießen ihre Angehörigen und Freunde willkommen. 52 politische Gefangene und andere Häftlinge waren an diesem Tag vom Lukaschenko-Regime auf freien Fuß gesetzt worden. Allerdings durften sie nicht in ihrer Heimat bleiben, sie wurden zwangsdeportiert. Darunter auch Laryssa Schtschyrakowa.
Im Gespräch mit dem belarussischen Online-Medium Mediazona Belarus erzählt die bekannte Journalistin – Ende 2022 festgenommen und schließlich zu drei Jahren Haft verurteilt – ihre Leidensgeschichte, in der ihr Gesang und Folklore Halt gaben.
Die Journalistin Laryssa Schtschyrakowa nach ihrer Freilassung bei einem Besuch beim Belarussischen Journalistenverband BAJ in Vilnius / Foto © BAJ
„Als wir aus der US-Botschaft kamen, erwischte ich mich bei dem Gedanken, dass ich 52 Jahre alt bin – und obdachlos“, sagt die Journalistin Laryssa Schtschyrakowa. „Ich habe nichts, kein bisschen Geld, nicht mal anständige Kleidung. Was ich in der Strafkolonie hatte, habe ich weggeworfen, das waren fürchterliche Lumpen. Ich bin 52 Jahre alt, 30 Jahre davon war ich zivilgesellschaftlich tätig, und nun wurde ich wie ein verlaustes Kätzchen aus dem Land geworfen.“
Laryssa Schtschyrakowa wäre regulär am 13. Januar 2026 nach der vollständigen Verbüßung ihrer Haftstrafe freigekommen. Danach wollte sie in Belarus bleiben. „Hätte man mich gefragt: ‚Laryssa, willst du das Land verlassen oder deine Strafe absitzen und bleiben?‘, dann hätte ich natürlich Absitzen und Bleiben gewählt. Ich habe zwei Jahre und acht Monate abgesessen, da hätte ich auch noch weitere vier Monate geschafft.“
Die Festnahme
Laryssa wurde Ende 2022 festgenommen. Seit 2020 hatte sie in ständiger Anspannung gelebt, die Sicherheitskräfte waren aus verschiedenen Gründen immer wieder zu ihr gekommen, mehrfach wurde die Wohnung durchsucht. Auch Laryssas damals 16-jähriger Sohn Swjat litt schwer unter der polizeilichen Überwachung.
„Diese Hölle dauerte zwei Jahre, der arme, traumatisierte Junge lebte in ständiger Angst, dass seine Mutter abgeholt wird. Wenn vor dem Fenster ein Hund bellte, fing das Herz an zu rasen, man dachte, sie kommen deinetwegen. Aber ich erlebte auch jeden Tag Neues, jeder Tag war ein Geschenk des Schicksals. Ich wusste, dass es immer das letzte Mal sein könnte – der letzte Spaziergang mit dem Hund, die letzte Umarmung des Sohnes. Man erlebt alles intensiver.“
2022 arbeitete Laryssa kaum noch als Journalistin, sie war ausgebrannt. Sie organisierte Fotosessions im Folklorestil, kaufte dafür in Dörfern und bei Auktionen belarussische Nationaltrachten. Ihre Instagram-Seite wuchs und es kam immer mehr Kundschaft. „Ich lebte auf, es war ein unglaublicher Schwung, mir gefiel, was ich machte. Es war wie ein Rausch, der die Angst verdrängt.“
Die Mitarbeiter der staatlichen Antikorruptionsbehörde kamen als vermeintliche Kunden zu ihr. Vor der Fotokulisse holte der Beamte seinen Dienstausweis hervor und sagte zu Laryssa: „Seien Sie jetzt nicht enttäuscht, wir kommen von der GUBASiK und haben einen Durchsuchungsbefehl.“
In Untersuchungshaft
Während der Hausdurchsuchung kam Laryssas Sohn aus der Schule zurück.
„Er kam herein und rief ‚Mama, bin da!‘ Die ganze Zeit hatte ich mich beherrscht, aber da brach ich in Tränen aus. Ich steckte sein Porträtfoto ein, das ich auch später die ganze Zeit bei mir trug. Ich drehte mich noch einmal zum Haus um, dann fuhren wir los. Sie nahmen uns beide mit. Mein Hund schaute mir hinterher. Verwandte sagten mir später, dass er drei Tage nichts gegessen hat. Als hätte er gespürt, dass ich ihn für lange Zeit verlassen hatte. Eine Art hündisches Gespür. Wir haben uns ja auch nie wiedergesehen.“
Laryssa kam für drei Tage in Kurzzeithaft, danach ins Untersuchungsgefängnis. Swjat kam in ein Heim, bis sein Vater, Laryssas Ex-Mann, aus Nowosibirsk anreiste um ihn abzuholen.
„Sie brachten ihn ins Heim und nahmen ihm das Telefon weg. Er erzählte mir das ein Jahr später, mit Tränen in den Augen. Das war ein riesiges Trauma für ihn, ein Schock. Die Mutter verhaftet, er selbst auch aus der Wohnung verbannt. Später fanden sich Verwandte, die ihn regelmäßig besuchten und den Kontakt zu seinem Vater herstellten. Er war damals 16 und ein ziemlicher Stubenhocker, der sein Zuhause liebte, es war sehr hart für ihn.“
Ich komme nicht zurecht mit den Gefühlen, dass ich nicht bei der Beerdigung meiner Mutter war, nie ihr Grab gesehen habe.
Laryssa verbrachte acht Monate im Untersuchungsgefängnis (SISO-3) in Homel.
„Gefängnis ist Gefängnis, dort ist es schlimm, alles stinkt nach Rauch, aber auch daran kann man sich gewöhnen“, beschreibt sie die Erfahrung. Im Untersuchungsgefängnis traf sie auf unterschiedliche Zellengenossinnen, politische und andere. Laryssa versuchte, mit allen befreundet zu sein: Die Frauen tanzten und sangen, um sich von der tristen Umgebung abzulenken, feierten gemeinsam, unter anderem auch Laryssas 50. Geburtstag.
„Einmal sangen wir am 8. März zusammen mit Hofgenossinnen beim Spaziergang Frauenlieder, bis sie uns auseinanderjagten. Wir sangen vor, die anderen [im Hof] stimmten ein, Schlager wie Posowi menja s soboj von Alla Pugatschowa. Das Interessanteste war, dass man uns fast bis zum Ende singen ließ, vielleicht wegen des Feiertages.“ Am selben Tag erhielt Laryssa noch ein weiteres Frauentagspräsent. Es stammte von Jauhen Merkis, einem Homeler Journalisten, der in derselben Haftanstalt einsaß.
„Sie brachten uns Essen, Teller voller Grütze. Beim Essen las ich plötzlich auf der Wand ‚bleib stark‘. Ich dachte – ist das für mich? Als ich weiterlöffelte, sah ich die ganze Inschrift ‚Schtschyrakowa, bleib stark‘. Erst jetzt habe ich herausgefunden, dass Merkis das eingeritzt hatte, noch im Winter.“
Während Laryssa in Untersuchungshaft saß, starb ihre Mutter.
„Wenn Briefe mit solchen Neuigkeiten kommen, überbringt sie in der Regel ein Psychologe, um gegebenenfalls zu helfen, wenn die Person zusammenbricht. Ich weinte zuerst gar nicht, ich hatte keine Tränen. Ich kehrte in die Zelle zurück, trank sogar noch Tee, erzählte es den anderen. Dann ging ich Wäsche waschen – und da holte es mich ein. Ich weine bis heute um meine Mutter, ich komme nicht zurecht mit den Gefühlen, dass ich nicht bei der Beerdigung war, nie ihr Grab gesehen habe. Wahrscheinlich habe ich unterschätzt, wie nah mir meine Mutter stand, wie stark unsere innere Verbindung war.“
Die Verurteilung
Schtschyrakowas Gerichtsverhandlung war nicht öffentlich und dauerte zehn Sitzungstage. Ihrer Einschätzung nach hat der Richter einfach Zeit geschunden.
„Sie hatten 120 Videokassetten aus meiner Wohnung mitgenommen, mein Archiv der Jahre 2010-2012. Sie haben alle Filme transkribiert und verlesen. Meine Anwältin im Prozess verhielt sich wie ein Möbelstück, vielleicht aus Angst, ihre Lizenz zu verlieren. Aber sie schlug vor, nur das vorzulesen, was als Beweis der Schuld dienen könne. Es war sinnlos, all diese Aufnahmen unter anderem von Kupalle vorzutragen.“
Man warf der Journalistin Beteiligung an „extremistischen Handlungen“ und der Diskreditierung von Belarus vor. Der Staatsanwalt behauptete, Schtschyrakowa habe „eine Destabilisierung der Lage im Land angestrebt“.
„Als Antwort erzählte ich ihnen von den Sozialrevolutionären, die Anfang des 20. Jahrhunderts danach strebten, die herrschende Ordnung zu destabilisieren und Terror als Methode wählten. Da gab es Kämpfer, die waren wirklich dazu in der Lage. Aber wie sollte ich denn die Lage destabilisieren und Ursache für schwerwiegende Folgen sein? Es war zum Heulen und ich erzählte ihnen das auch ständig. Aber ich wusste auch, dass es wenig Sinn hat.“
Laryssa wurde zu dreieinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt.
Diskriminierung von politischen Gefangenen
„Die Kolonie erinnerte mich an die Armee. Sie setzen dort wirklich ein ähnliches Modell ein: ein strenges Regime für Soldaten, denen Disziplin beigebracht werden muss. Aber bei den inhaftierten Frauen funktionierte das nicht.“
Das Verhalten der Lagermitarbeiter gegenüber den politischen Häftlingen in der Kolonie beschreibt Laryssa nicht als Unterdrückung oder Zwang, sondern eher als „diskriminierende Praktiken“.
„Wenn ein ‚weißer Häftling‘ eine Regel bricht, wird das tendenziell übersehen oder sie wird minimal gemaßregelt. Ist es aber eine ‚Politische‘, dann setzt es sofort eine harte Strafe. Entweder der Besuch wird gestrichen oder sie kommt in Isolationshaft, wenn sie zum Beispiel den Vorgesetzten reingeredet hat. Wir durften nicht zu Veranstaltungen in den Klub, wir durften keine Bücher zum Thema Psychologie mehr ausleihen, wir wurden nicht in die Turnhalle oder in die Kirche gelassen. Aber all das würde ich nicht als harten Druck bezeichnen.“
Im Untersuchungsgefängnis und in der Strafkolonie sprach Laryssa Belarussisch. Zu Anfang hatte sie die Befürchtung, dass man sie nicht in der Muttersprache sprechen lassen würde, doch niemand der Vollzugsbeamten sagte etwas dagegen.
„Sie haben sich nur manchmal daran gestört. Sie mögen es nur dann nicht, wenn man nur mit den Wachen Belarussisch spricht, weil sie es dann als Affront verstehen. Aber ich sprach mit allen Belarussisch. Ich schrieb alle Anträge und Dokumente in belarussischer Sprache und sie wurden bearbeitet. Es gab nur wenige, die Belarussisch sprachen. Wolja Salatar gehörte noch dazu. Es erfordert Mut und Hartnäckigkeit. Es gab welche, die ihren Dorfdialekt sprachen, denen habe ich sehr gerne zugehört! Es gibt Regionen, da ähnelt die Sprache der Literatursprache. Aber die Leute aus Polesien, die reden ganz anders als alle anderen!“
Die Haftzeit sinnvoll nutzen
Laryssas zentrale Bezugspersonen in der Kolonie waren andere politische Gefangene.
„Die Anwesenheit dieser Menschen macht das Leben dort viel leichter. Es sind Menschen aus deinem sozialen Umfeld, die deine Werte teilen. Wir zeigten einander Fotos, lasen Briefe vor, erzählten Familiengeschichten. Das ist echte Freundschaft.“
Einmal leistete eine Frau Laryssa zahnärztliche Nothilfe.
„Sie wollte Zahnmedizin studieren. Ich hatte Zahnschmerzen und die Ärztin sagte, wenn es sehr wehtut, solle ich die Plombe selbst rausholen. Ich kam aber nicht ran, also bat ich diese Frau um Hilfe. Sie nahm eine Büroklammer und holte sie für mich raus, mit rechter Begeisterung. Sie wollte wirklich Zahnärztin werden.“
Eine der schönsten Erinnerungen ihrer Haftzeit ist für Laryssa das gemeinsame Gebet mit den anderen Häftlingen.
„Wir waren vier Frauen, die jeden Tag zusammen beteten – für die eigene Gesundheit, für die der Familie, dass Gott uns Kraft und Einsicht geben möge für die Dämonen, die uns verfolgen. Es war sehr ergreifend, uns kamen die Tränen.“
Jede freie Minute in der Kolonie versuchte Laryssa sinnvoll zu nutzen, sie lernte Fremdsprachen oder las wissenschaftliche Literatur. Sie wollte keine Zeit vergeuden. „Es gab nicht viel Freizeit, aber wenn man wollte, fand man sie. Wenn man zum Beispiel eine halbe Stunde in der Warteschlange saß, um zu telefonieren, konnte man ein Buch mitnehmen.“ Laryssa lernte Italienisch, Spanisch und Französisch.
„Irgendwann überlegte ich, wozu ich diese Sprachen eigentlich brauche. Doch dann dachte ich, dass ich in diesen Sprachen singen möchte, Lasciatemi cantare von Cutugno, Ma perke von Celentano, Bésame mucho und die Lieder von Mireille Mathieu.“
Der Tag der Deportation
Am Morgen des 11. September 2025 wurden Laryssa und mehrere andere politische Gefangene von maskierten Personen aus der Kolonie geholt. Man setzte sie in einen Kleinbus und brachte sie zum Grenzübergang Kamenny Loh an der belarussisch-litauischen Grenze. Im Bus bekam Laryssa eine Decke und Wasser, unterwegs durfte sie im Wald austreten gehen. Am Morgen des Vortages hatte die Journalistin ein Begnadigungsgesuch geschrieben. „Für mich war das ein Papier, das mich zu nichts verpflichtet und auch keinen Deal mit meinem Gewissen darstellt. Es war nur ein Zettel: Ihr wollt ihn haben, hier, erstickt daran.“
Laryssa dachte nicht, dass alles so schnell gehen würde. Im Gespräch mit einem Ermittlungsbeamten in der Lagerverwaltung hatte sie gesagt, dass sie Angst vor der Ausweisung aus dem Land habe. „Ich erzählte ihm, dass ich Lukaschenka hatte sagen hören, dass die Amerikaner uns rausholen können, dass er dann aber nicht wolle, dass wir in Belarus bleiben. Ich hatte ja schon fast drei Jahre abgesessen, da käme die Verbannung aus dem Land einer zusätzlichen Strafe gleich.“
Obwohl Laryssa damals noch nichts Genaues wusste, weder von der Freilassung noch von der Ausweisung, weinte sie nachts – sie wollte Belarus nicht verlassen. „Es kam sogar ein Offizier und fragte: ‚Schtschyrakowa, warum weinen Sie, wollen Sie etwa in der Kolonie bleiben?‘“
Welche Bedrohung sollte schon von mir ausgehen? Ich hätte keine Interviews gegeben, hätte mich mucksmäuschenstill verhalten
„Ich mochte mein Zuhause so sehr, dort habe ich so viel erlebt, dort sind mein Garten und meine ethnografische Sammlung. Auch meine Gitarre ist dort, ich habe davon geträumt, wie ich nach Hause komme, mich aufs Sofa setze und drei Stunden am Stück spiele, und was ich alles singen werde – ich habe eine Karaoke-Anlage und verschiedene Mikrofone. Ich wollte mich an den Kamin setzen, alle Freunde anrufen und das Grab meiner Mutter besuchen. Gleich als Erstes wollte dort hingehen, weil ich ihr gegenüber tiefe Schuld empfinde.“
Schtschyrakowa meint, dass sie keine Bedrohung für die Machthaber dargestellt hätte, wenn sie im Land geblieben wäre. „Welche Bedrohung sollte schon von mir ausgehen? Ich hätte keine Interviews gegeben, hätte mich mucksmäuschenstill verhalten, so wie alle in Belarus stillsitzen und zittern. So wäre ich auch geworden. Nach dieser Erfahrung würde ich mich ganz sicher nicht mehr zivilgesellschaftlich engagieren, sondern irgendetwas mit Kultur und Volkskunst machen, wie ich das schon lange wollte.“
Die Hoffnung, den Sohn bald sehen zu können
Eine Sache, die Laryssa in der Kolonie sehr vermisste, war gute Musik. Nachdem sie nach Vilnius gekommen war, erfüllte sie sich einen Wunsch: ganz allein ihre Lieblingslieder anhören. „Ich hatte diesen Traum. In den drei Jahren Kolonie war ich ja nie allein gewesen, höchstens mal zwei Minuten. Drei Jahre lang. Ich wollte also sehr gern Zeit allein verbringen, einfach mal gar niemanden sehen.“
Auch jetzt ist sie bemüht, zwischen Interviews und Treffen mit Freundinnen aus der Haft, die es ebenfalls nach Vilnius verschlagen hat, mehr Zeit für sich zu finden. Und sie wartet auf ihren Sohn. „Als ich ihn das erste Mal aus Vilnius anrief, wusste er schon, dass ich frei bin. Aber er konnte es noch nicht so recht glauben, sagte, ‚Mama, das ist wie ein Schock‘. Jetzt schreibt er mir die ganze Zeit, schreibt und schreibt. Man spürt, dass ihm die Mama gefehlt hat, er nutzt jetzt jede Gelegenheit, um sich mir mitzuteilen. ‚Mama, wie geht es dir? Was hörst du gerade?‘ Ich hoffe, dass er bald herkommen kann, zu mir. Solange er im Land ist, mache ich mir Sorgen um ihn.“