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„Jeder Verwaltungsbeamte ist ein kleiner Lukaschenko“

Die Tschinowniki, die Beamten, sind eine feste Stütze des Systems von Alexander Lukaschenko. Sie sorgen in den Regionen und ihren Amtsbereichen auf zahlreichen Ebenen dafür, dass Entscheidungen im Sinne der Machthaber umgesetzt werden. Zudem agieren sie als politische Kontrolle und mitunter als Verhinderer von Problemlösungen.

Rudabelskaja Pakasucha (dt. Rudabelka-Show) auf YouTube hat über 45.000 Abonnenten. Der Kanal geht auf den historischen Namen (Rudabelka) für die kleine Gemeinde Oktjabrski zurück, die in der Oblast Gomel liegt. Von dort stammen Olga Pauk und ihr Ex-Ehemann Andrej. Sie haben den Kanal 2011 gegründet, weil sie nicht hinnehmen wollten, dass so Einiges in ihrer Gemeinde falsch lief. Also begannen sie, zuständige Beamte in ihrer Sendung mit den Problemen zu konfrontieren, um Öffentlichkeit zu schaffen. Angespornt durch kleine Erfolge und Zuspruch weiteten sie ihr Engagement auf das ganze Land aus. Im Zuge der Repressionen, die infolge der Proteste 2020 begannen, mussten sie ihre Heimat verlassen und flohen nach Litauen. Im Mai 2023 wurde der Kanal von den belarussischen Behörden als „extremistische Vereinigung“ eingestuft.

Dennoch betreiben sie den Kanal weiter und rufen jede Woche bei den lokalen Behörden an, um zu verstehen, warum sie so handeln, wie sie es eben tun, bzw. nicht handeln. Die Redaktion des Online-Magazins KYKY hat Olga Pauk getroffen und sich mit ihr über ihr Engagement unterhalten. Entstanden ist ein Gespräch, das seltene Einblicke in den berüchtigten, aber sehr verschlossenen Verwaltungsapparat Lukaschenkos ermöglicht.

Source KYKY

Die belarussische Beamtenschaft dekodieren – Olga Pauk bei der Arbeit / Foto © Screenshot/YouTubeIrina Michno: Wie wählt ihr die Personen aus, die ihr anruft?

Olga Pauk: Ich rufe nur Verwaltungsbeamte an – mit Sicherheitsleuten wie den Silowiki oder auch mit Denunzianten kann ich nicht sprechen, dafür sind mein Unverständnis und mein Groll zu groß. Ich habe dafür keine emotionalen Koordinaten, denn wenn ich mit jemandem spreche, der den Krieg und Lukaschenko unterstützt, zerreißt mich das innerlich. Die Verwaltungsbeamten wurden für mich in den letzten drei Jahren  zu einem Monolith: Ich mache keinen Unterschied, was sie jeweils für Menschen sind und auf welcher Stufe der Hierarchie sie stehen.

Um im Lukaschenko-System zu bestehen, muss man anständig und Arschloch sein – oder dumm genug und ohne moralischen Kompass. 20 Jahre negative Auswahl bleiben nicht ohne Folgen. 

Stell dir jemanden vor, der Gewalt und Manipulation ablehnt – er würde in jedem beliebigen Gebietsverwaltungsamt verrückt werden, er würde selbst kündigen oder gefeuert werden. Ich bin davon überzeugt, dass nur diejenigen geblieben sind, die das System vollumfänglich unterstützen. 

Für jeden unserer Anrufe gibt es einen Anlass, zum Beispiel eine Meldung aus den Nachrichten. Ich bin immer auf der Suche nach Geschichten aus den Regionen (und an dieser Stelle möchte ich dem Telegram-Kanal Belarus hinterm Minsker Autobahnring danken, der die Ereignisse hervorragend filtert). Außerdem lese ich ab und zu die Propagandapresse. Und die Menschen aus Belarus schicken uns immer wieder Anfragen, ob wir etwas über Zustände in ihrem Dorf oder ihrer Stadt herausfinden können. Wo ich anrufe, hängt also davon ab, aus welchem Rajon ich Anfragen erhalte. 

Ich rufe an, um den Sinn bestimmter Ereignisse zu hinterfragen, auch wenn ich weiß, dass ich im Grunde keine Antworten bekommen werde. Es sei denn, die Fragen betreffen Schlaglöcher oder allgemeine Infrastruktur. Alle unsere Beamten sitzen eigentlich in der Wohnungsverwaltung (lacht). Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft – das ist alles schon Ideologie, dazu kann man nur rhetorische Fragen stellen. Jetzt werden die Kinder zum Beispiel in patriotische Ferienlager gesteckt, in die Silowiki in voller Montur kommen, inklusive Waffen. Ich rufe also in der Kreisverwaltung an und frage: „Was wollen Sie den Kindern damit sagen? Worauf bereiten Sie sie vor?“


Die, die für den Regen beten: Olga Pauk von Rudabelskaja Pakasucha nimmt lokale Verwaltungsbeamte in die Zange

Ich musste bei einem der Videos sehr lachen, in dem du mit einem Beamten sprichst, der für Regen gebetet hat. War das für dich auch der Hammer? Du hast ja sicher auch nicht mit einer sinnvollen Antwort gerechnet. 

(lacht) Manchmal schreiben mir Leute in den Kommentaren: „Du musst dich besser vorbereiten!“ Aber wie soll man sich auf sowas vorbereiten? Es gab noch einen anderen interessanten Anruf: In Slonim wurde eine „taktische orthodoxe Vorbereitung der Panzersoldaten“ durchgeführt. Die Popen brachten den Panzerfahrern irgendwelche Strategien bei – das ist so hirnlos, dass man darin kaum irgendeine Logik oder einen Sinn finden kann. Und wenn man dann anruft und Fragen stellt, geraten sie ins Stocken. Es sei „von oben“ aufgetragen worden und sie hätten es gemacht, alles wie immer. Aber wenn du dann fragst, „Warum?“, dann wissen sie keine Antwort. Aber mir geht es bei diesen Anrufen nicht um Spaß. Mich interessiert wirklich, wer diese Menschen sind, die da über uns bestimmen.

Man kann darüber lachen, aber man muss sich auch im Klaren darüber sein, dass dieser Beamte, der für Regen betet, über das Schicksal eines ganzen Rajons entscheidet. Über seinen Tisch gehen debile Entscheidungen, die Menschen verschiedenen Alters und in verschiedenen Einrichtungen dann umsetzen müssen. 

Jeder etwas gescheitere Beamte ist eine Bedrohung für seinen Vorgesetzten 

Es gibt Beamte, besonders in den weiter von Minsk entfernten Regionen, die ihre Arbeit machen und nicht darüber nachdenken, ob irgendetwas daran vielleicht nicht stimmt – das merkt man deutlich an ihren Antworten. Andere wiederum sind Parasiten, sie wissen, was sie tun und richten bewusst Schaden an. Mir ist es wichtig, diese Typen zu unterscheiden, denn ich werde mich mit aller Kraft für eine Lustration in Belarus einsetzen. Die heutigen „Jabatki“, diese Pro-Lukaschenko Leute, leben großartig mit dem Regime, kaufen ihren Kindern Wohnungen, schicken sie zum Studium ins Ausland – so, wie es die Machtelite im Sowok, den Zeiten der Sowjets, getan hat. Und es gibt unsereins in den Regionen, die wir uns nicht einmal die notwendige medizinische Behandlung, hochwertige Kleidung oder Essen für unsere Kinder leisten können. Von Bildung jenseits der nächsten Großstadt ganz zu schweigen, dafür ist einfach kein Geld da. Deshalb denke ich nicht, dass Lukaschenko der allerschlimmste Menschenfresser im Land ist, und all diese Vorsitzenden der Gebietsverwaltungen nur ganz kleine – in meinem Kopf sind sie alle gleich. Jeder Verwaltungsbeamte ist in seinem Amt ein kleiner Lukaschenko. 

Das ist ja auch eine spezifische Art Mensch, noch dazu sorgsam ausgewählt. Ich habe sie oft gefragt: „Wie wird man in Belarus Staatsbeamter?“ Ich weiß nicht, warum das so ist, aber sie beantworten diese Frage nicht. Es gibt keine Wahlen, alle Rajonchefs werden ernannt. Und die Ratsmitglieder werden so gewählt, wie die Präsidenten – dort sitzen immer diejenigen, die dort sitzen sollen. Und zwar 20 Jahre lang dieselbe Person, dann wechselt eine Abgeordnete in die Kreisverwaltung und ihre Tochter übernimmt das Ratsmandat. Sie werden wirklich ausgewählt. Und es ist kein Geheimnis, dass es nach dem Prinzip geht, dass unter dir niemand klüger sein darf, als du selbst. Jeder etwas gescheitere Beamte ist eine Bedrohung für seinen Vorgesetzten. 

Warum reden die Beamten immer noch mit dir?

Das ist unterschiedlich. Manche Stellen erreicht man telefonisch überhaupt nicht – vielleicht haben sie eine Mitteilung aus dem Ministerium erhalten, die Gespräche mit uns zu unterbinden. In der Gebietsverwaltung von Gomel ist das zum Beispiel so. Andere erhalten scheinbar sogar Prämien, wenn es ihnen gelingt, uns schlagfertig zu antworten. Im Wirtschaftsministerium gibt es so eine, Tatjana Wiktorowna Branzewitsch, sie begrüßt mich wie eine alte Bekannte. Sie erzählt mir das Blaue vom Himmel, aber es klingt doch immer wie ein vorbereiteter Text. Sie redet wie ein Wasserfall, du kannst sie kaum unterbrechen, und dabei beantwortet sie immer die Fragen. 

Weißt du, ich habe eigentlich keine hohe Meinung von deren geistigen Fähigkeiten. Es gibt so ein Sprichwort: „Dummheit versteckst du nicht – dafür reicht der Verstand nicht“. 2021 gab es eine interessante Situation, als wir im Verteidigungsministerium angerufen haben, damals habe ich begriffen, dass die größten Feiglinge in Belarus die Leute mit den Schulterklappen sind. Im Ministerium für Katastrophenschutz, im Innenministerium und im Verteidigungsministerium geht jetzt kaum noch jemand ran, doch gleich nach den Ereignissen von 2020 haben sie sich dort gegenseitig den Hörer aus der Hand gerissen, um uns irgendwas zu beweisen. Es war ihnen wichtig zu reden, sie glauben wirklich, im Recht zu sein. 

Es gab auch Fälle, in denen die Beamten dachten, sie hätten schon aufgelegt, obwohl dem nicht so war. Dadurch haben wir zum ersten Mal gehört, dass es für sie eine große Ehre ist, wenn die Pauk angerufen hat. Nach ihm habe ich angerufen, in der Gebietsverwaltung von Mogiljow, und mich als gewöhnliche Bürgerin ausgegeben. Und als die Beamtin dachte, dass ich sie schon nicht mehr höre, sagte sie: „Wir melden sie dem KGB“, und nannte sogar den Namen eines KGB-Beamten. Dieser Anruf gab uns zu verstehen, wie das System heute arbeitet: Mich, Olga Pauk, wollten sie nicht an den KGB melden, dafür aber die gewöhnliche Belarussin, die über die Hotline eine Beamtin anruft. 

Die Belarussen brauchen uns, weil uns allen nicht nur bei den Wahlen die Stimme geraubt wurde – den Belarussen wurde auch die physische Stimme genommen. Du kannst nicht den Mund aufmachen und eine Frage stellen, denn wenn du es wagst, melden sie dich dem KGB. Wir bekommen regelmäßig Feedback von den Menschen im Land, sie schreiben oft: „Gott sei Dank drückt ihr sie mit ihrer Schnauze in die Kacke – wir können es nicht, aber wir sehen, dass ihr es tut.“ 

In deinen Videos sprichst du das „g“ frikativ als „ch“ und hast so eine Art Dienststellenakzent – wenn ich jetzt mit dir spreche, höre ich nichts davon. Sprichst du absichtlich so mit ihnen? Ist das hilfreich?

Diese reibenden Frikative sind meine natürliche Aussprache. Ich bin im Dorf aufgewachsen und bin in eine belarussischsprachige Schule gegangen. Deshalb ist das „ch“ nicht verschwunden (lacht). Ich weiß noch, als ich in Mosyr studierte, wurde ich wegen meiner Aussprache immer gefragt: „Woher kommst du eigentlich?“

Ich habe auch Hänseleien erlebt. Als ich klein war, bin ich zur Kinderkur gefahren, aber nicht mit der Klasse, sondern allein. Ich stand nicht auf der Liste der „Tschernobylkinder“, deshalb haben meine Eltern selbst für die Aufenthalte bezahlt. Ich kam also dorthin, und alles war auf Russisch – die Kinder und der Matheunterricht. Ich ging ja in eine belarussische Schule, deshalb war das für mich eine neue Welt. Die anderen Kinder lachten mich aus, und ich verstand nicht, warum – dann stellte sich heraus, dass es an meiner Sprache lag. Die belarussische Sprache ist auch eine Charakterprobe.

Mit dir spreche ich Russisch – „rasgowariwaju“, aber wenn ich mit meinen Verwandten oder alten Freunden rede, dann auf Belarussisch – „chawaru“. Das ist okay für mich. 

Und wenn du auch mit mir Trassjanka sprechen würdest – wäre das dann ein Gefühl, wie als Kind im Sanatorium?

Wenn du willst, dann kann ich das! (Sie spricht die Buchstaben frikativ und die Vokale hart und lacht) Wahrscheinlich geht es mir darum, dass die Leute sich wohlfühlen. Ich will, dass sie den Inhalt hören, und nicht darauf achten, wie ich ihn formuliere. Wenn ich in irgendeinem weit entfernten belarussischen Rajon anrufe, dann weiß ich, dass diese Sprache dort einfach besser passt, weil sie die Leute nicht aus ihrer gewohnten Bahn wirft. Es gab Fälle, da habe ich in irgendeinem Dorf angerufen und „normal“ gesprochen und wurde sofort gefragt: „Als was arbeiten Sie? Das ist etwas verdächtig, solche Leute rufen uns normalerweise nicht an“. Deshalb passe ich mich an die Umgebung an.

Vielleicht liege ich falsch, aber du wirst seltener abgewimmelt als Andrej – woran liegt das? Ich habe wieder eine Gender-Theorie, dass ein Beamter es sich nicht erlauben kann, eine Frau und Mutter zu beschimpfen. 

Ich denke, ich bin listiger. Andrej ist eher direkt, außerdem ist er von Anfang an gehässig und sarkastisch. Ich will sie ja aber an die Angel kriegen – fies werden kann ich dann später. Bezüglich der Frauen stimme ich dir zu – in Gesprächen mit Beamten hört man häufig diesen überheblichen, süffisanten Ton. Sie halten sich ja a priori für klüger, und das kommt mir nur gelegen. Da sitzt er in seinem Büro, den Schlips über dem Bauch, und hält sich für einen erfolgreichen, tollen Typen: „Oh, da ruft ein Weib an, da halt ich mal ein kleines Schwätzchen.“

Ich glaube, dank diesem Prinzip hat es Tichanowskaja auch auf die Wahlzettel geschafft (lacht). Mit wem sind die Gespräche am konfliktreichsten – mit den Silowiki? 

Psychophysiologen geben die Antwort vor, das Niveau der allgemeinen Entwicklung eines Menschen hat starken Einfluss auf das Aggressionsniveau. Und wen nimmt das Innenministerium? Tendenziell Jungs aus der Provinz, die entweder zur Berufsausbildung an ein Polytechnikum gehen oder nach der Armee ein halbes Jahr zum Innenministerium. Natürlich wählen viele die zweite Option, wo es eine Wohnung und andere Boni gibt. Irgendwo habe ich mal gelesen, und das hat mir sehr zu schaffen gemacht, dass die Silowiki von heute Dorfjungs sind, die die Stadtjungs fertigmachen können und dabei aufrichtige Genugtuung empfinden. Ich dachte immer, wenn man etwas mehr lernen kann, als einen Stock zu schwingen, dann wird man das wahrscheinlich tun. 

Es ist ungerecht, dass für einen Teil der Gesellschaft Diktatur herrscht und für den anderen Teil scheinbar nichts passiert ist

Aber ich kann nicht sagen, ob die Silowiki oder jemand anders am konfliktträchtigsten sind. Vieles hängt von der Persönlichkeit ab. Man kann das nicht konkreten Bereichen zuordnen. Aus meiner Sicht unterscheidet sich das Maß an Menschlichkeit eher geografisch. Die schlimmsten Gebiete sind Gomel, Mogiljow und Witebsk, die immer unter russischem Einfluss standen. Das furchtbarste Gespräch meines Lebens war mit der Amtsvorsteherin der Gomeler Gebietsverwaltung. Damals hatte gerade der Krieg begonnen, und ich dachte: „Oje, was werden sie mir jetzt sagen, wo doch ihr zentrales ideologisches Narrativ in die Binsen gegangen ist.“ Also fragte ich sie, was sie empfinden, und dachte, dass ich damit wenigstens etwas Menschliches in ihnen finden kann – doch ich fand es nicht. Danach rief ich in Bobrujsk an, die Leute schrieben mir damals die ganze Nacht lang, dass sie nicht verstehen, was vor sich geht, jemand hatte schon 54 russische Militärflugzeuge gezählt, die gelandet waren. „Sie, als lokale Regierung, welche Position haben Sie dazu? Was soll die lokale Bevölkerung in dieser Situation tun?“ – „Welche Flugzeuge? Wir haben nichts gesehen! Nennen Sie mir den Namen des Piloten.“ Die Antworten wurden immer absurder.

Im Westteil von Belarus waren die Menschen schon immer offener. In den Gebieten Brest und Grodno haben alle eine Karta Polaka oder sind mit Litauern verbandelt, sie reisen öfter. Auch die Beamten sind dort freundlicher und bescheidener. Sie lassen sich praktisch nie zu Rüpeleien hinreißen, genau wie im wohlerzogensten der Ministerien, dem für Auswärtiges. Dort hat scheinbar sogar die Reinigungskraft Fremdsprachenkenntnisse (lacht). Wer immer auch den Hörer abnimmt, du wirst auf höchstem Niveau bedient. Sie legen auch niemals einfach den Hörer auf, weil sie immerhin gut erzogen sind. 

Gibt es Videos, die du nicht veröffentlicht hast, weil du dachtest, dass der befragte Beamte aufgrund des Gesprächs Repressalien ausgesetzt werden könnte?

Das kümmert mich nicht. Es gab einen Fall, da habe ich eine Beamtin angerufen, aus Chojniki oder Narowlja. Andrej sagte danach: „Sie war doch nett, und du stellst ihr solche Fragen. Vielleicht kriegt sie eins auf den Deckel“ – „Okay.“ Sie ist eine Beamtin, und dass sie dafür auf den Deckel kriegen könnte, macht mir nicht viel aus, weil ich nicht denke, dass man jemanden von ihnen in Schutz nehmen muss. Ich bin sehr wütend auf die Menschen, die es sich aktuell leisten können, ein gewöhnliches Leben in Belarus zu führen. Es ist ungerecht, dass für einen Teil der Gesellschaft Diktatur herrscht (inklusive Tod und jahrelangen Haftstrafen) und für den anderen Teil scheinbar nichts passiert ist. Beamter zu sein oder nicht – diese Wahl treffen sie jeden Tag. Und sie tragen die Verantwortung für ihre Entscheidung. 

Wie viele dieser Verwaltungsbeamten gibt es eigentlich in Belarus? Ich mag vermutlich einfach nicht glauben, dass es in dieser riesigen Menge keine passablen Menschen gibt. 

Es gibt insgesamt 118 Rajons, jeder hat sein Verwaltungsamt, und das ist ein ganzes Gebäude voller Beamter (2020 wurden in Belarus 37.000 Staatsbedienstete gezählt, Anm. KYKY). Ein Beispiel: Ich weiß genau, dass 2021 alle aus den Schulen und Universitäten entlassen wurden, die Anzeichen kritischen Denkens gezeigt haben, und ich erinnere mich an keinerlei Mitgefühl für diese Menschen seitens der Beamten. Wenn ein Leser oder eine Leserin dieses Textes andere Beispiele kennt, schreibt sie mir bitte. Ich habe keine andere Perspektive kennengelernt, und da spreche ich nicht nur über die Anrufe, ich hatte seit 2015 sehr viel mit Verwaltungsmitarbeitern zu tun. Ich war in ihren Amtszimmern, auch in Ministerien. 

Jeder Mensch, der heute in einem Amtssessel sitzt, gestaltet unsere Wirklichkeit 

Vielleicht gab es früher auch Gute unter ihnen. Unser Baranowski (der ehemalige Vorsitzende der Kreisverwaltung Oktjabrski) zeigte am Anfang auch Anzeichen von angemessenem Verhalten. Einmal bot er mir sogar einen Job im sozialen Bereich an. Aber dann beendete ich eine Ausbildung und fand heraus, wie man auf regionaler Ebene mit Europa zusammenarbeiten kann, und begann, mit Präsentationen zur Kreisverwaltung zu gehen: „Ich kann Sie unterstützen, wir führen Solaranlagen ein und sanieren die Kinderstation des Krankenhauses“, woraufhin sie mir mit großen Augen antworteten: „Wir haben alles, wir brauchen nichts“.

Ich habe irgendwie den Eindruck, dass du Mitleid mit ihnen hast.

Manchmal höre ich von Belarussen den Satz: „Das sind doch auch Menschen!“ Und jedes Mal steigt in mir eine Welle der Entrüstung auf. Was seht ihr da in ihnen? Ja, biologisch sind sie Menschen wie wir, aber moralisch? Man kann das auf einer Metaebene diskutieren, im Kontext der Demokratie – aber ich denke konkret an meine eigenen Kinder, die ihre Freunde und ihr gewohntes Umfeld verloren haben. Mein ältester Sohn hat bis heute psychische Probleme durch den Umzug. Ich selbst habe meine Mutter verloren, sie kann uns nicht besuchen kommen und ich weiß nicht, ob ich sie noch einmal sehen werde. Ich habe Freunde verloren, einige wurden inhaftiert, weil sie mit mir zu tun hatten. Über was für Menschen reden wir hier also, und warum sollten sie mir leidtun? Selbst diese Schlapakowa (Vorsteherin in der Kreisverwaltung Oktjabrski) würde mich als Erste an der Birke aufhängen. 

Ich glaube, dass sie keine Angst haben. Sie denken, da kommen diese Liberalen, die können uns nichts tun, sie werden uns vergeben, denn sie sind ja nicht blutrünstig. Solche Ansichten habe ich von Beamten gehört. Ich denke, dass jeder von ihnen vor Gericht kommen sollte, auch wenn das teuer, langwierig und schmerzhaft ist. 

Ich mag ehrlich gesagt den Gedanken, dass wir nicht solche Menschenfresser sein werden, wie die Leute, die jetzt an der Macht sind. 

Mir gefällt dieser Gedanke auch (lächelt). Wenn ich einmal sehr, sehr alt bin, kann ich darüber vielleicht ein Buch schreiben, in dem ich Verständnis und Vergebung für alle aufbringe, aber nicht heute. In diesem Moment kann ich die Situation nicht aus philosophischer Sicht betrachten. Ein faires Verfahren ist sicher nicht das, was wir heute von den Lukaschisten bekommen. Wir werden sicher nie so werden wie sie. 
Meine Erfahrungen sind auch deshalb traumatisch, weil ich nicht in Minsk oder Retschiza oder irgendeiner anderen Stadt mit einem Minimum an Infrastruktur aufgewachsen bin. Bei uns in Oktjabrski gab es nicht einmal Rettungswagen. Ich weiß noch, wie eines Tages ein paar Onkel aus dem Ministerium in unseren Rajon kamen, und die Leute zusammengerufen wurden, um sie zu treffen. Da fragte eine Frau in entschuldigendem Tonfall: „Meine Tochter hat Asthma, wir müssen zwei Mal im Jahr nach Gomel zur Untersuchung fahren, aber wir schaffen es nur ein Mal – das Geld reicht nicht.“ Wenn ich also unglückliche Kinder sehe, deren Eltern trinken, weil es außer im Kolchos keine Arbeit gibt, oder abscheuliche Lehrer, die Kinder mit dem Kopf auf die Schulbank schlagen, weil es nicht mal einen Hauch von Bildung gibt ... Man kann auf Menschen schimpfen, aber ich bestehe darauf, dass alles in der Politik begründet liegt. Ob du über Asphalt läufst oder in weißen Strumpfhosen durch Kuhfladen zur Schule gehst, weil es im Agrostädtchen keine Fußwege gibt, ob du 20 Minuten in einem richtigen Rettungswagen zur Geburtsklinik fährst oder zwei Stunden in einem alten sowjetischen Transporter, unter welchen Bedingungen deine Oma an Krebs stirbt – all das ist Politik. Jeder Mensch, der heute in einem Amtssessel sitzt, gestaltet unsere Wirklichkeit. Egal, ob er dumm ist, unselbständig oder unfähig, Gut und Böse zu unterscheiden. Jeder.

Früher hast du gesagt, dass du „die Evolution des Beamten in einer konkreten Stadt“ beobachtet hast. Wie sah das damals aus, und wie ist es heute?

Bis 2020 haben sich in unserem Rajon einige Beamte verändert, wenigstens in der Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit – und das war nur der Verdienst der Menschen selbst. Unser Baranowski war der einzige im Land, der die tatsächlichen Covid-Zahlen herausgab – weil ich eine Chatgruppe auf Viber erstellt hatte, die innerhalb eines Tages 4500 Menschen abonnierten. Ich bekam Informationen aus dem Gesundheitsdienst und von den Rettungsstellen, und er musste die Wahrheit sagen, weil die Wahrheit einfach schon in meinem Chat stand. 

Ich habe Albträume von Belarus

Im Rajon Oktjabrski hat es 2017–2018 zwei erfolgreiche Revolutionen gegeben. Im ersten Fall waren Funktionäre in den einzigen erfolgreichen Kolchos des Rajons gekommen und hatten verkündet: „Wir schicken euren Direktor in Pension, ihr bekommt einen neuen.“ Die Leute waren verärgert, denn sie sahen, wie es in den anderen Kolchosen lief, und wollten das nicht. Also riefen sie uns an: „Kommen Sie her, morgen früh werden wir unseren Wassiljewitsch verteidigen.“ Sie traten in einen Streik, hörten auf, die Tiere zu füttern, die Traktoristen kehrten von den Feldern zurück: „Wir werden erst wieder arbeiten, wenn ihr uns unseren Direktor zurückgebt.“ Die Führungsriege aus dem Rajon und aus dem Gebiet wurde ins Dorf geschickt, doch die Leute hielten stand. Wir informierten die Medien, und eine Funktionärin – sie war in einem weißen Mantel angereist – schrie ins Belsat-Mikrofon: „Filmt mich nicht! Ich bin in Rente!“ Und unsere Frauen antworteten ihr: „Du bist in Rente und arbeitest, aber unseren Chef willst du wegschicken?“ Die Leute streikten 16 Stunden lang, dann bekamen sie den Direktor zurück. Das war eine richtige Bauernrevolution. Später passierte dasselbe auch in einem anderen Dorf, aber dort waren keine 16 Stunden Streik nötig, die Arbeiter sagten einfach: „Ihr könnt uns gar nichts“, – und sie konnten ihnen nichts. 

Die Verwaltungsbeamten entwickelten sich weiter, weil sich die Gesellschaft in unserem Rajon veränderte, sie erlaubte ihnen nicht mehr, sie so zu behandeln, wie bisher. Soweit ich weiß, wurde es zeitweise als Bestrafung betrachtet, in unserer Kreisverwaltung zu arbeiten: ließ sich ein Beamter etwas zuschulden kommen, dann musste er nach Oktjabrski, wo man ihm zeigte, wie der Hase läuft (lacht). 

Bis 2020 hatte Reputation in Belarus noch eine gewisse Bedeutung, zwar recht schwach, aber doch funktional – die Beamten mussten ihr Gesicht wahren. Jetzt sind alle Fesseln gefallen, sie machen, was sie wollen. Aber wir wollen nicht, dass sie uns vergessen, dass sie denken, „die haben das Land verlassen, weiter geht’s“ – nein, so geht es nicht. Ich habe Albträume von Belarus, und wenn ich ehrlich bin, dann bin ich nervös, wenn ich dort anrufe. Am Samstagmorgen wache ich vor Sendungsbeginn mit dem Gedanken auf „Mist, es geht wieder los“, und ich muss mich fast übergeben. Aber die Beamten fühlen dasselbe, da bin ich sicher. Vielleicht komme ich ja auch in deren Albträumen vor (lacht). Und das hat nichts Edelmütiges: Wenn ich schon nichts gegen ihre Macht tun kann, ihnen aber zumindest die Stimmung versauen kann – dann tue ich das. Es ist eine Möglichkeit, an ihr Gewissen zu appellieren, auch wenn ich ein solches bislang noch nicht bei ihnen entdeckt habe. 

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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