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Die Angst der Macht vor der Wahl

Die belarussischen Machthaber mögen keine Überraschungen, spätestens seitdem hunderttausende Belarussen bei den letzten Präsidentschaftswahlen ihren Unmut unter Beweis und diesen bei ihren Massenprotesten in den Straßen des Landes zur Schau stellten. Entsprechend wurde bei den Wahlen am 25. Februar 2024, bei denen neben 110 Abgeordneten des Parlaments auch etwa 12.000 Vertreter von Regionalversammlungen neu bestimmt wurden, nichts dem Zufall überlassen. Die USA sprechen von einer „Scheinwahl“. 

Lukaschenko nutzte seinen Auftritt im Wahllokal in Minsk dazu, eine „Sensation“ bekannt zu geben: Er werde bei den Präsidentschaftswahlen 2025 kandidieren. Nichts anderes war selbstredend erwartet worden. Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja – so beschreibt es der Journalist Alexander Klaskowski – habe spöttisch reagiert: „Na, dann krön’ dich mal schön“. 

In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt Klaskowski, welchen eigentlichen Sinn die Parlamentswahlen verfolgten und welche Folgen dies für die nahe Zukunft in Belarus hat.

Source Pozirk – Nawіny pra Belarus

Kein Witz: Die aktuellen Wahlen zum Repräsentantenhaus und zu den Regionalparlamenten sahen schon von Vornherein wie ein Spiel mit nur einem Tor aus. Dabei trainierte der Regent seine Mannschaft für die ihm viel wichtigeren Wahlen 2025. Und die Machtvertikale strampelte sich einen ab, um zu zeigen, dass sie für das notwendige Ergebnis sorgen kann. 

Der Wahlprozess als existenzielle Bedrohung

Die Parlaments- und Regionalwahlen verliefen ganz im sowjetischen Geiste: kein Kampf um die Macht, sondern ein Festtag. An erster Stelle stehen das Büffet mit den Fleischtaschen und das Konzert der Laienkünstler, den Wahlzettel wirfst du nebenbei ein, als symbolische Geste: alles steht schon vorher fest. 

Sicher, in der Sowjetunion gab es vor der Perestroika auf den Wahlzetteln immer nur einen Kandidaten, das heutige Regime in Belarus imitiert bislang noch Konkurrenz. Aber grobschlächtig und mit Ach und Krach. Alle Kandidaten sind durch und durch regierungsnah und gründlich auf Loyalität geprüft. Lukaschenko, der 1994 sensationell die Präsidentschaftswahl gegen den damaligen Premierminister Wjatscheslaw Kebitsch gewann, hat die ganze Macht des demokratischen Wahlprozesses am eigenen Leib gespürt: Aus einem Niemand kann ein Alles werden. Und so untergrub der Herrscher diese Prozedur immer mehr und kastrierte sie. Jetzt hat der Prozess fast seinen Höhepunkt erreicht. Bei dieser letzten Wahlkampagne waren die Gegner der Regierung schlicht abwesend, sowohl unter den Kandidierenden wie auch unter den Beobachtenden.

Am 25. Februar hatte Lukaschenko mitgeteilt, die OSZE habe keine Anfrage für eine Beobachtung gestellt. Dabei hatte Minsk das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) schon im Januar offiziell in die Wüste geschickt. Und der Vorsitzende der belarussischen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, Andrej Sawinytsch, erklärte kürzlich ganz offen: Die Wahlbeobachter wurden nicht eingeladen aufgrund der Sanktionen gegen das Regime (in Beamtensprache heißt das natürlich „gegenüber der Republik Belarus“).

Dabei hatte das Regime vor dem erstmals durchgeführten Einheitlichen Wahltag die Stimmung hochgekocht, ganz nach dem Motto „wenn morgen Krieg ist“. Den Ton gab der Anführer des Regimes selbst an, beschwor die Bedrohung durch Spionage, Terroranschläge und sogar einen Staatsstreich, was die Generäle und zivilen Amtsträger dann nachplapperten. Das klingt ganz nach 2020, als nichts nach Plan lief. Heute nimmt Lukaschenko Wahlen als existenzielle Bedrohung wahr. Er trifft zehnfach Vorkehrung, um sich abzusichern.

Die größte Sabotageaktion der Opposition bei diesen Wahlen war der Zugriff auf öffentliche Monitore in Belarus (in Einkaufszentren, der Metro usw.) am 24. Februar, bei der ein Aufruf Swetlana Tichanowskajas gezeigt wurde, „NEIN zu gefälschten Wahlen“ zu sagen. Den Angriff hat angeblich BelPol durchgeführt. Wenigstens ein bisschen Salz in der Suppe. 

Wozu die hochgepeitschte Wahlbeteiligung?

Einer der Oppositionsführer in der Emigration, Pawel Latuschko, teilte unter Berufung auf Informationen aus dem Land mit, die Belarussen seien kaum zur Wahl gegangen, die Wahllokale, besonders in Minsk, seien leer geblieben. Die vom Regime vermeldeten offiziellen Zahlen sind allerdings tipptopp. Das Zentrale Wahlkomitee teilte mit, 72,98 Prozent der Wähler hätten abgestimmt. Zudem krönte ein zweifelhafter Rekord die Wahlkampagne: Offiziellen Zahlen zufolge haben 41,71 Prozent der Wähler vorfristig abgestimmt (das war an den fünf Tagen vor dem Wahltag möglich). 

Der Anteil der Wähler, die vor dem Wahltag wählten, ist höher als bei den Wahlen 2020. Aber damals gab es wirkliche Schlangen an den Wahllokalen, einen ehrlichen Aufbruch, viele waren mit weißen Armbändchen gekommen, dem Symbol der Abstimmung für Tichanowskaja. Jetzt herrschte in großem Maße Zwang. Früher wurde die vorzeitige Wahl als Option für diejenigen beworben, die am Sonntag nicht die Möglichkeit haben, ins Wahllokal zu gehen. Heute preist die offizielle Propaganda diese Möglichkeit als Zeichen für hohes Verantwortungsbewusstsein und bürgerliche Reife. Die staatlichen Medien brachten schillernde Überschriften wie „Die Jugend steht in vorderster Reihe“. Überhaupt erinnern die vom belarussischen Regime gesteuerten Medien immer mehr an Nordkorea. 

Wozu wurde die vorzeitige Stimmabgabe so forciert? Früher, sagen die Regimegegner, wurde die vorzeitige Abstimmung genutzt, um die Wahlergebnisse zu fälschen: Es war dadurch einfacher, nachts die Stimmzettel auszutauschen. Heute beschäftigt sich das Regime nach Ansicht seiner Opponenten gar nicht mehr mit solchen Kleinigkeiten. Es werden einfach die gewünschten Zahlen im Ergebnisprotokoll eingetragen. 

Warum also werden die vom Staat abhängigen Bürger vorfristig in die Wahllokale gescheucht, noch vor dem Einheitlichen Wahltag, und das Ergebnis der Wahlbeteiligung künstlich aufgeblasen? Vermutlich ist es dem Regime wichtig, die Illusion zu schaffen, dass breites Interesse an den Wahlen besteht und der offizielle Kurs landesweite Zustimmung genießt. Zudem liebedienert hier die Machtvertikale vor dem großen Chef. Ist die vorfristige Wahlbeteiligung in einer Region niedrig, wird der zuständige Lokalchef sofort vor die Frage gestellt, ob er seinen Platz denn auch verdient hat, wenn er es nicht schafft, die Untergebenen und die Bevölkerung zu mobilisieren. 

Für Lukaschenko war diese Wahlkampagne eine wichtige Durchlaufprobe vor der Präsidentschaftswahl 2025. Deshalb war es in seinem Interesse, die Beamten maximal anzuspannen und ihre Fähigkeit zu testen, einen nationalen Aufschwung zu imitieren. 

Für das Regime ist es ein Kampf um Selbsterhalt

Parlaments- und Regionalwahlen riefen in der Vergangenheit auch in für Belarus entspannteren Zeiten keine große Politisierung der Gesellschaft oder Massenproteste hervor. Dennoch bereitete sich das Regime auf diese Wahlen vor, wie auf einen Krieg. Wahllokale und umliegende Bereiche wurden von Videokameras ins Visier genommen. Zudem wurden überall Milizeinheiten abgestellt, die zuvor eifrig trainiert hatten, potentielle Aufwiegler festzunehmen. Auch mobile Einsatzkommandos mit Maschinengewehren standen bereit. Der Kommandant der Inlandstruppen, Nikolaj Karpenkow, drohte damit, dass bei Bedarf auch Wagner-Söldner aktiviert werden könnten. 

Wenn du an Machtwechsel denkst, bist du ein Extremist

Die Silowiki wiederholten in Dauerschleife, man habe seine Lehren aus 2020 gezogen und würde nichts Vergleichbares zulassen. Überhaupt betrachtet das System Lukaschenko Wahlen nicht als legales Mittel zum Machtwechsel, sondern als Kampf um den Selbsterhalt. Wenn du an Machtwechsel denkst, bist du ein Extremist, ein Verbrecher, ein Angreifer auf die Verfassungsordnung. So sieht es aus: Die herrschende Klasse setzt ihre auf Fälschung und Gewalt beruhende Herrschaft mit der Verfassungsordnung gleich. 

Rumflennen wird der Herrscher nicht

Bis Sommer 2025 wird noch viel Wasser den Bach hinunterfließen. Es ist ungewiss, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt, wie es Wladimir Putin oder der belarussischen Wirtschaft bis dahin geht. Bei seinen Vorkehrungen für die Absicherung einer nächsten Amtszeit scheint Lukaschenko vom schlimmsten Szenario auszugehen, modelliert das Zusammentreffen negativer Umstände. Immer wieder betont er, „sie werden versuchen, die Lage ins Wanken zu bringen“. Die Feinde sollten bloß nicht darauf hoffen, dass „wir rumflennen und für Demokratie und eine flüchtige Freiheit kämpfen werden“.

Der belarussische Herrscher ist ein eher misstrauischer Mensch, der einen Hang zu Verschwörungstheorien hat und sich von Feinden umgeben sieht – in weiten Teilen glaubt er seine eigenen Schauergeschichten. Und er versteht, dass er keinen Ausweg hat: Zu viel hat sich angehäuft, zu viele wünschen ihm alle möglichen Leiden an den Hals. Und daraus folgt, dass das Regime noch härter durchgreifen wird als bisher.

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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