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„Wer gehen will, geht leise“

Die Silowiki-Strukturen scheinen nach wie vor loyal zum Machtapparat von Alexander Lukaschenko zu stehen. Nur vereinzelt kündigen Leute der Spezialeinheit OMON, Milizionäre und andere ihre Arbeit auf. Häufig, weil sie die brutale Gewalt, die von den Sicherheitsleuten ausgeht, nicht mehr mittragen wollen.

Dass auch für sie die ständige Belastung und der psychische Druck hoch sind, zeigt dieses Interview, das das Medienportal tut.by mit einem ehemaligem Mitarbeiter der Truppen des Inneren geführt hat. Er bat darum, anonym zu bleiben. Das Gespräch mit ihm zeigt auch, welche Rolle Korpsgeist und ideologische Schulung in den Reihen der Silowiki spielen und mit welchen Folgen derjenige rechnen muss, der die Loyalität aufkündigt.

Source Tut.by – Zerkalo.io

N.N.: Die, die gehen, versuchen es leise zu tun, damit ihnen nichts Schlimmeres widerfährt.

Nach den Wahlen schrieb ich ein Entlassungsgesuch. Es dauerte mehrere Wochen, bis die Formalitäten abgewickelt waren und ich offiziell vom Dienst befreit war. Währenddessen wurde ich meines Amtes enthoben und war irgendwann bereits nicht mehr an Einsätzen beteiligt [Auflösung von Demonstrationen – Anm. der Redaktion]. Jetzt kann ich über mich sagen: Ich war in einer Führungsposition tätig. Ab dem 9. August wurden wir bei den Protesten eingesetzt. Natürlich waren wir immer darauf vorbereitet – schließlich waren wir Einsatzkräfte des Innenministeriums. Aber die Vorbereitung erfolgte im Rahmen der Gesetze. In den ersten Tagen waren das gesamte Innenministerium, die Einsatztruppen des Inneren und das Militär, das heißt die Offiziersschüler der Militärakademie, an der Auflösung der Demonstrationen beteiligt. Wir hatten sie schon vor der Wahl geschult und ganz gezielt vorbereitet. Aber niemand hätte gedacht, dass es so weit kommen würde. Am späten Abend des 9. August war ich auf der Nemiga Straße, wir waren in Uniform, trieben die Leute auseinander, nahmen aber niemanden fest. In den nächsten Tagen, als ich noch im Dienst war, war unsere Einheit in Bereitschaft, wir saßen im Zentrum von Minsk und warteten auf unseren Einsatz. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass es zu einem solchen Ausmaß an Gewalt kommen würde.

Wir erfuhren es einige Tage später, als Berichte darüber im Internet erschienen. Und ich hörte viel von meinen Kollegen, die an anderen Standorten eingesetzt waren. Nach dem Dienst kam ich gegen drei Uhr nachts ins Revier, schaltete das Telefon ein, sah mir alles an, analysierte die Lage. Und mir war sofort klar: Das war erst der Anfang. So viel ungerechtfertigte Gewalt! In dem Moment verlor das Ganze für mich seinen Wert, unsere Abzeichen waren mit Schande befleckt, und ich entschied, dass ich nicht länger Teil davon sein wollte. Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit war für mich die Grundlage meines Dienstes, aber, wie sich herausstellte, „ist manchmal nicht die Zeit für Gesetzmäßigkeit“. Ich habe das damals nicht verstanden und verstehe es bis heute nicht.

tut.by: Denken Sie, dass die Gewalt geplant war? Sind die Einsatzkräfte einem Befehl gefolgt oder geriet die Situation einfach außer Kontrolle?

Es kann sein, dass in der Okrestina Straße und an ähnlichen Orten die Leute absichtlich geschlagen und gedemütigt wurden. Was das Verhalten der Einsatzkräfte betrifft, so denke ich, dass das Verhältnis wohl 50 : 50 war. In jedem Fall gab die politische Führung ihr stillschweigendes Einverständnis und versuchte nicht, die Gewalt zu verhindern. Sogar als alles schon an der Öffentlichkeit war: Es war geschehen, und man verschloss davor die Augen. Und natürlich war die gesamte Miliz nun auf  der Seite der Regierung, von der man sich Schutz versprach. Sie sehen ja selbst, es gibt kein einziges Strafverfahren gegen Einsatzkräfte. Dazu kommt, dass viele über keinerlei juristische Bildung verfügen. Einige glauben allen Ernstes, dass sie sich in einer Kriegssituation befinden, dass die Proteste von Drahtziehern (aus dem Ausland) gesteuert werden und sie das Land verteidigen. Einer versicherte mir: „Du hast gar nichts verstanden, später wirst Du es verstehen.“

Sie können Eigentum beschlagnahmen oder ein Auslandsreiseverbot verhängen

Sie werden von Ideologen geschult. Die Soldaten befinden sich überhaupt in einer Informationsblase. Abends schauen sie im Fernsehen die Nachrichten. Man bringt ihnen bei, dass an allem die westlichen Drahtzieher Schuld seien. Einige verstehen einfach überhaupt nicht, was vor sich geht. Sie denken über ihre Versetzung in die Reserve nach und wie sie nach dem Wehrdienst leben werden. Alles andere kümmert sie nicht. Und selbst wenn es jemand versteht – wenn du rund um die Uhr in einer in sich abgeschlossenen Welt lebst, wirst du es kaum wagen, deine Meinung laut kundzutun, denn du weißt nicht, was dann mit dir passiert.

Ich hatte einen festen Vertrag, aber auch für mich war es riskant zu gehen, sie hätten mich durchaus schnappen können, oder alles durchsuchen. Die Jungs von der Direktion kamen zu mir, Untersuchungsbeamte, um mit mir zu reden. Auch andere Offiziere sprachen mit mir. Aber letztlich gaben sie mir ein paar Tage Bedenkzeit, und stimmten der Entlassung zu.

Ich wandte mich an Stiftungen und fand zunächst einen Mentor und dann einen Job. Auch ehemalige Kollegen halfen mir. Aber viele glauben nicht ernsthaft daran, dass ihnen irgendwelche unbekannten Menschen helfen können, daher trauen sie sich nicht zu gehen. Insgeheim beklagen sie sich untereinander über den Dienst und die Vorgesetzten, aber sie verlassen sich nur auf sich selbst und halten weiterhin aus. 

Wie viele Menschen haben wie Sie den Dienst quittiert? Und was hält die Übrigen davon ab?

Aus meiner Einheit sind nur wenige gegangen, die anderen sind nach wie vor im Dienst. Was sie am meisten hält, ist das Geld. Nehmen wir zum Beispiel einen jungen Offizier mit einem Fünfjahresvertrag. Hat er die Zeit nicht abgeleistet, muss er das Geld für die Ausbildung und seinen Unterhalt zurückzahlen. In welcher Höhe hängt davon ab, wann er geht. Der Betrag beläuft sich auf etwa 1000 Rubel für jeden Monat, den er nicht gedient hat. Von einem Bekannten, der einer anderen Abteilung angehörte, haben sie 80.000 Rubel [knapp 26.000 Euro – dek] verlangt. Das sind utopische Summen, man weiß nicht, woher man die nehmen soll. Aber bezahlen muss man innerhalb eines halben Jahres, dann schreitet das Gericht ein, und es kommt zu Zwangsvollstreckungen, sie können einem vorübergehend Rechte entziehen, Eigentum beschlagnahmen oder ein Auslandsreiseverbot verhängen. Einige Zeit später beginnt die Indexierung  [die Anpassung an die Inflation – dek] und die Summe steigt schneeballartig. Nicht jeder hat Verwandte und Freunde, die ihm helfen können. Deshalb halten die Leute still. Der zweite Grund liegt in der langjährigen Betriebszugehörigkeit. Gehst Du, verlierst du deine gesamten Arbeitsjahre [für spätere Rentenansprüche – dek]. Dann sagen sie: Ihr wusstet doch, worauf ihr euch einlasst. Wir wussten es nicht. Es ist immer noch eine Art Frondienst und nicht so rosig, wie es bei der Aufnahme in die Akademie dargestellt wird.

Wie viel haben Sie verdient?

Unsere Gehälter lagen zwischen 900 und 1100 Rubel [300 und 350 Euro – dek]. Bei mir gingen 400 Rubel [130 Euro – dek] für die Miete drauf, weitere 200 Rubel [gut 60 Euro – dek] für Sprit, um zur Arbeit zu kommen, da bleibt nicht mehr viel zum Leben. Es stimmt nicht, dass für die Arbeit bei den Protesten viel Geld gezahlt wurde. Ja, im August gab es einmalige Boni – 500 Rubel [rund 160 Euro – dek] zusätzlich zum normalen Gehalt. Aber selbst beim OMON verdient man keine exorbitanten Summen – viele machen es wirklich aus Überzeugung.

Wie pflichteifrig jemand bei den Verhaftungen ist, hängt weitgehend von der Person ab. Auch hier ist das Verhältnis meiner Meinung nach 50 : 50. Der eine glaubt an westliche Drahtzieher und ist besonders aktiv. Aber die Hälfte tut nur so. Sie denken, ich werde in der Kette stehen mit meinem Schild, aber ich werde nichts tun. Glauben Sie, dass unsere Verwandten nicht festgenommen werden? Doch, das werden sie. Eine Verwandte von mir wurde festgenommen, sie stand da mit Blumen in der Hand. Sie nahmen ihr den Schmuck, das Telefon und sogar den Ehering ab und erklärten, sie bekäme es zurück, wenn sie die Strafe bezahlt.

Wer gehen will, geht leise, damit es keine Probleme gibt

Wie ist es für die Sicherheitsbeamten, erkannt zu werden? Ist das ein schmerzhafter Moment?

Einige schämen sich, andere haben Angst um ihre Familien. Diejenigen, die sich im Recht fühlen, werden einfach wütend. Aber es gibt sicherlich niemanden, dem es egal ist. Das ist echt belastend. Das weiß ich von mir selbst: Ich wollte die Maske nicht abnehmen, und wir haben immer gegenseitig darauf geachtet, dass unsere Gesichter bedeckt waren. Viele haben Angst zu gehen, weil sie nicht wissen, was sie dann tun sollen. Wenn einer nach der Schule zur Militärakademie geht oder sich nach dem Wehrdienst verpflichtet, hat er nichts anderes gelernt. Natürlich hat er dann Angst, etwas Neues anzufangen und sein Leben von Grund auf zu verändern. Viele haben Familie, Kinder, Kredite, Staatsbedienstetenwohnungen – und wo sollen sie dann hin?

Wer gehen will, geht leise, damit es keine Probleme gibt. Für die Hälfte meiner Kollegen bin ich ein Verräter, vor allem für die Führung. Sie werden bis zum Ende für dieses Regime ihren Kopf hinhalten. Viele von ihnen sind über 40. Die haben durch den Dienst vieles erreicht, warum sollten sie es aufs Spiel setzen?

Die Armee wurde geschaffen, um äußere Feinde zu bekämpfen. Nach der Logik derer, die dem System besonders treu ergeben sind, kämpft sie auch jetzt gegen westliche Drahtzieher, die die Leute für ihre Teilnahme an Protestaktionen bezahlen. Ein Teil von ihnen denkt, dass Lukaschenko eine starke Führungspersönlichkeit ist und an der Macht bleiben wird. Der andere Teil glaubt, dass Russland uns bezwingen wird. Aber diese Option ist ihnen auch recht. Wie mir einmal ein Kommandant sagte: „Na und? Führen die Offiziere in Russland etwa ein schlechtes Leben?“

Stimmt es, dass wegen der ständigen Proteste die Einsatzkräfte in Kasernen leben?

Am Anfang lebten wir, das heißt die, die unter Vertrag standen und die Offiziere, tatsächlich in Kasernen. Jetzt sitzen sie hauptsächlich an den Wochenenden in den Kasernen, weil die Proteste am Samstag und Sonntag stattfinden. Und die freien Tage wurden auf Mitte der Woche verlegt, wenn keine Demos stattfinden. Die Kollegen sind sehr müde, sie sehen ihre Familien nicht und können sich nicht wirklich ausruhen. Niemand hatte damit gerechnet, dass sich das Ganze Monate hinziehen würde. Am 10. und 11. August, als es zu größeren Gewaltausbrüchen kam, waren wir in Bereitschaft, aber wir hörten die Explosionen um uns herum. Als ich später all diese Bilder sah, diese Lawine von Gewalt, war ich mir sicher, dass es niemals enden würde. Ich dachte, Lukaschenko würde das Kriegsrecht einführen und alles würde noch schlimmer. Und das war der Moment, an dem ich anfing, darüber nachzudenken, dass ich aussteigen muss.

Haben Sie die Videos im Internet gesehen, in denen die Leute den Einsatzkräften zurufen: „Miliz mit dem Volk“​? Wie wird das wahrgenommen?

Mir selbst haben die Leute das entgegengerufen. Aber in dieser Situation funktioniert das überhaupt nicht. Die Stimmung ist sehr angespannt, man passt auf, dass niemand etwas wirft, und dann schreien sie einem ins Gesicht. Jeder muss selbst erkennen, was er tut, und für sich eine Entscheidung treffen. Das kritische Denken muss an das Gewissen appellieren und die Scheuklappen öffnen.

Vor jedem Einsatz stellen sie die Frage: „Wer ist nicht bereit? Vortreten“. Niemand tritt vor. Vortreten ist das Schlimmste. Was kommt dann? Man wird bestraft oder gefeuert oder wer weiß, was passiert. Lieber man fährt mit, irgendwie wird man den Einsatz schon überleben.

Als wir nach Minsk fuhren, hupten uns alle zu. Ich erinnere mich, wie ein Kollege sagte: „Wie sie uns alle hassen“. Aber man denkt: Ich bin ja ein normaler Mensch, ich habe niemanden geschlagen, und dann siehst du die Bilder von der Okrestina … Jetzt verstehe ich, warum die Leute uns so hassen, weil wir die Grenze des Gesetzes übertreten haben, denn das Gesetz gilt jetzt nur noch in eine Richtung, und wenn Du Dich gegen die Herrschenden stellst, hast Du keinerlei Schutz. Und das ist schlimmer als im Krieg. Du lebst und denkst, dass sie jeden Moment kommen und dich für irgendeine abfällige Bemerkung mitnehmen können. Und das Gefühl dieser permanenten Ungerechtigkeit raubt dir nachts den Schlaf.

Die, die dem System treu bleiben, glauben nicht, dass Lukaschenko geht, und sollte er doch gehen, sind sie überzeugt, dass die Armee unter jeder Regierung gebraucht wird. Sie denken, ach, das sitzen wir aus, und dann wird es wie vor der Wahl. Ich glaube, die Regierung wird sich noch ein, zwei Jahre halten. Und dann ist Zahltag.

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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