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Erziehung zur Ergebenheit

Die Repressionen in Belarus gehen ungebremst weiter: Journalisten, Aktivisten und normale Bürger werden weiterhin festgenommen, auch immer noch für ihre Teilnahme an den Protesten im Zuge des 9. August 2020. Auch das Unternehmen tut.by Media, einst das größte Nachrichtenportal des Landes, wurde von einem Gericht als „extremistische Vereinigung“ eingestuft. Wie schon in den Jahren zuvor gerät die dissidente Kultur wieder einmal ins Blickfeld der Silowiki. Mitte Mai wurde die Buchhandlung Knihauka des Januschkewitsch-Verlages in Minsk durchsucht, der Verleger Andrej Januschkewitsch festgenommen und zu zehn Tagen Haft verurteilt. Am Tag der Eröffnung hatte sich die staatliche Propaganda auf den neuen Buchladen eingeschossen. Ljudmila Gladkaja von der Staatszeitung SB. Belarus segodnja und andere Propagandisten waren zur Eröffnung erschienen. Sie beklagte vor laufender Kamera, dass die Behörden die Eröffnung der Buchhandlung überhaupt erlaubt hätten: „Wenn sich 2020 wiederholt, werdet ihr euch fragen, wie das nur passieren konnte.“ 

Auch der Roman Die Hunde Europas des Schriftstellers Alhierd Bacharevič wurde als „extremistisch“ und staatsfeindlich eingestuft. Bacharevičs Bücher werden von Januschkewitsch verlegt. Erst kürzlich tauchte zudem eine Liste im Internet auf, die vom Kulturrat in Belarus stammen sollte. Darauf die Namen von 33 Autoren und Autorinnen – darunter die von Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, von Schriftsteller Viktor Martinowitsch oder dem Philosophen Valentin Akudowitsch. Deren Bücher, so die mutmaßliche Anweisung der Behörden, sollten aus den Schulbibliotheken landesweit verbannt werden.

Machthaber Alexander Lukaschenko ist in vielerlei Hinsicht ein Sowjetnostalgiker, gerade hinsichtlich seiner Vorstellung einer eingehegten Kultur, die dem Staat dienen soll, und eines Bildungs- und Erziehungssystems, das loyale Diener für den autoritären Staat hervorbringen soll. Entsprechend gibt es an den Bildungseinrichtungen des Landes sogenannte Ideologie-Beamte, die dafür sorgen, dass sich keine nonkonformistischen und kritischen Haltungen unter Schülern und Studenten breit machen. Außerdem existiert die staatliche Jugendorganisation BRSM, deren Mitglieder an Paraden und anderen Propagandaaktivitäten mitwirken und Vergünstigungen für das Studium erhalten. 

In mehreren Artikeln beschäftigt sich der Journalist Alexander Klaskowski mit Lukaschenkos Wunsch, das Bildungssystem nach seinen Vorstellungen umzubauen. „Die traurige Ironie besteht darin”, schreibt er in einem Beitrag, „dass das Regime gegenwärtig Bereiche wahrer nationaler Kultur zerstört, die Geschichte aus Gründen politischer Opportunität einseitig interpretiert, die staatliche Souveränität zunehmend bedroht und die Menschen ihrer wahren Staatsbürgerschaft und ihres nationalen Geistes beraubt. Sie wollen die Menschen zu gehorsamen Robotern machen.” 

Wie realistisch aber ist Lukaschenkos Plan eines gleichgeschalteten Bildungssystems, das ausschließlich ergebene Bürger hervorbringt? Damit setzt sich Klaskowski in einer Analyse für das Online-Portal Naviny auseinander.

Source BelaPAN/Naviny.by

Lukaschenkos Treffen mit Pionier-Aktivisten am 20. Mai war gewissermaßen ein rituelles und von PR-Überlegungen diktiert: Es sollte der hundertste Jahrestag der Pionierbewegung begangen werden. Zudem war es ein günstiger Moment, den menschlichen Führer zu spielen, den Freund der Kinder. Lukaschenko äußerte sich dabei zu programmatischen Dingen, die ihn tatsächlich bewegen.

Lukaschenko ist wegen der Loyalität der jungen Generation offensichtlich beunruhigt. Der friedliche Aufstand von 2020, bei dem viele junge Menschen in den Kolonnen mit den weiß-rot-weißen Flaggen marschierten, hat bei Lukaschenko Eindruck hinterlassen.

Ein Versuch, die kommunistische Matrix einzusetzen

Bei dem Treffen mit den Pionieren erklärte Lukaschenko, dass es „an der Zeit ist, mit dem Ausbau der Arbeit der Pionierorganisation und unserer gesamten Jugendorganisation ernst zu machen. Das größte Manko besteht darin, dass die Pioniere und die Pionierorganisation nur schwach an die Jugendorganisation, den BRSM [den Belarussischen Republiks-Jugendverband – dek], angebunden sind, und dass die BRSMler nicht besonders an eurem [dem Prionierleben – dek] Leben interessiert sind. Bei uns galt eisern: Die Komsomolzen sind der ältere Bruder. Die organisieren und nehmen einen an die Hand. Das heißt: Aus den Pionieren erwächst eine neue Generation von Jugendlichen“.

Im Grunde träumt Lukaschenko mit seiner unweigerlichen Nostalgie nach der „lichten Vergangenheit“ davon, ein System wiederaufleben zu lassen, das „Sowjetmenschen großzieht“, und das in kommunistischer Zeit damit schon im Kindergarten begann: Portraits von Großvater Lenin, Verse über den Feiertag des Großen Oktober, das Rote Banner usw. Erst wurde man bei den Oktjabrjata aufgenommen, dann bei den Pionieren, beim Komsomol und schließlich wurden die mit dem stärksten Bewusstsein Parteimitglieder. Es war ein Fließband intensiver Indoktrination.

Doch in der UdSSR basierte das alles auf einer ausgefeilten Ideologie, die in den Köpfen mitunter durchaus Wirkung zeigte. Der Sieg über Hitlerdeutschland, der erste Satellit im All, der Flug von Juri Gagarin, das alles hat viele geradezu beflügelt und dazu gebracht, an die „fortschrittlichste aller Gesellschaftsordnungen“ zu glauben.

Allerdings hat auch diese Ideologie den Realitätstest nicht bestanden, als das System vor sich hin rottete und bei den Massen keinen Enthusiasmus mehr entfachte. Viele wurden nur deshalb Komsomolzen, um auf die Hochschule zu gelangen, Karriere zu machen oder einfach um nicht als schwarzes Schaf dazustehen. In der Endphase der Sowjetunion traten die Leute massenweise (und oft demonstrativ) aus dem Komsomol und der KPdSU aus.
Abschließend ein handfestes Beispiel wie aus dem Lehrbuch: Von den Dutzenden Millionen Kommunisten und Komsomolzen ist keiner aus Protest auf die Straße gegangen, als durch das Belowescher Abkommen im Dezember 1991 das Ende der UdSSR besiegelt wurde. Als das System ein moralisches Fiasko erlebte und sich vollkommen selbst diskreditiert hatte, fand sich niemand, der bereit gewesen wäre, es bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. 

Noch etwas ist zu beachten: Lukaschenko will nicht einmal eine eigene Partei gründen, um seine eifernden Anhänger zu formieren. Zu sehr hat er das System auf sich zugeschnitten. In dieser Hinsicht waren selbst die Kommunisten flexibler.

Halt die Füße still und sei gehorsam – das ist die ganze Ideologie 

Lukaschenkos Gegner haben ihn 2020 mit einem Meme zum Thema 3 Prozent Rückhalt gedisst, was ihn sehr geärgert hat. Und mittlerweile sprechen die Oppositionsführer oft in einem vereinfachten Paradigma vom „Volk gegen Regime“. In Wirklichkeit ist das Stimmungsbild in der Gesellschaft natürlich sehr viel komplexer. Unabhängigen Meinungsforschungsinstituten zufolge besteht die Anhängerschaft Lukaschenkos ungefähr aus 20 bis 30 Prozent der Wahlberechtigten. Doch dürften dieser Bevölkerungsschicht nur wenige leidenschaftliche Anhänger zu finden sein, die zu Opfern bereit wären.

Die Menschen sind aus verschiedenen Gründen also der Ansicht, dass Veränderungen schlimmer wären als die gegenwärtige Lage der Dinge. Doch bei der massenweisen Indoktrinierung, bei der Erziehung von „wahrhaften Patrioten“, wie es die Führung gern nennt, gibt es große Probleme.

Lukaschenko verfügt aus Prinzip über keine Ideologie, was er mehrfach öffentlich zugegeben hat. Daher wird der Bevölkerungsmasse eine primitive Loyalität aufgenötigt: Halt die Füße still, halt den Mund und tu, was man dir sagt.

Diese Loyalität kann jedoch zutiefst vorgetäuscht sein, und insgeheim oft mit der Faust in der Hosentasche. Lukaschenko scheint das selbst zu spüren. Bei einem weiteren Personalkarussell am 13. Mai sprach Lukaschenko über die Stimmung in der Gesellschaft und betonte, dass es „genug Menschen gibt, die nicht einfach nur etwas anderes denken (denken ist ja nicht verboten), sondern auf den geeigneten Moment warten“. Wohlgemerkt: Es geht um den Moment eines Regimewechsels.

Im August 2020, als das Regime wankte, haben sich die regimefreundlichen Organisationen nicht sonderlich ins Zeug gelegt. Lukaschenko hat rückblickend mehrfach geklagt, dass viele Funktionäre sich seinerzeit „in Mauselöchern verkrochen“ hätten.

Für die Masse der Durchschnittsbürger ist die Mitgliedschaft in Organisationen wie dem Gewerkschaftsbund oder dem Jugendverband BRSM reine Formsache. Damit es keine Scherereien oder Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten gibt. Die Hoffnung, dass diese „Säulen der Zivilgesellschaft“, als die Lukaschenko sie hinzustellen versucht, ihm in einer schweren Stunde Rückhalt bieten, ist illusorisch.

Ein Informationsmonopol lässt sich nicht mehr durchsetzen

Bei dem Treffen mit den Pionieren versprach Lukaschenko eine Geschichtsstunde für Schüler und Studierende im Minsker Museum des Großen Vaterländischen Krieges. Außerdem „befürwortete [er] die Aktivitäten von Pionieren und jungen Menschen zur Wahrung der historischen Erinnerung, unter anderem an die Heldentaten des Volkes und einzelner Helden in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges“. Und er unterstützte die Initiative zur Schaffung der Fernsehsendung „Erinnerung des Herzens“.

Mit dem Kult um den Großen Vaterländischen Krieg versucht die belarussische Führung offensichtlich, das Fehlen einer in sich geschlossenen ideologischen Doktrin zu kompensieren. Bezeichnend ist, dass versucht wird, den Begriff „Zweiter Weltkrieg“ zu vermeiden. Sonst würden ja Dinge wie die sowjetisch-hitlerdeutsche Parade 1939 in Brest hochkommen, was sich nicht mit der offiziellen manichäisch elitären Mythologie vertragen würde.

Die belarussische Regierung kopiert hier in vielem Russland. Der Unterschied ist jedoch, dass sich dort die Instrumentalisierung des Themas Großer Vaterländischer Krieg und Sieg stark mit dem in der Gesellschaft weit verbreiteten imperialen Denken und den gekränkten Großmachtambitionen verbindet (wir wurden erniedrigt, aber wir „können es wiederholen“). Die Belarussen haben eine andere Mentalität. Hier lautet das Leitmotiv: „Nie wieder!“

Durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine ist das staatliche Geschwätz der belarussischen Führung über den vergangenen Krieg („wir haben für unsere Friedfertigkeit büßen müssen“ usw.) besonders unglaubwürdig geworden: Schließlich haben wir de facto den Überfall auf ein Nachbarland mit den revanchistischen Parolen des Kreml unterstützt!
Die Dienst-Rhetorik zur historischen Erinnerung (die einseitig und unbefriedigend interpretiert wird) wird für Lukaschenko kaum die doktrinäre Leere füllen oder zu einem starken Mobilisierungsfaktor werden können.

Es ist sogar so, dass das derzeitige Regime gar keine echte politische Mobilisierung oder ein wahrhaftiges bürgerliches Engagement benötigt; mehr noch: Diese wären für das Regime gefährlich. Also wird sich in der Praxis banale Unterwürfigkeit breit machen.

Einen aufrichtigen Glauben an die Vorteile der im Land geschaffenen Ordnung (der zu gewissen Zeiten vielen Sowjetbürgern hinter dem eisernen Vorhang eigen war) wird die belarussische Regierung ihrer Gesellschaft nicht aufnötigen können. Unter anderem, weil es selbst mit immer heftigeren Verboten (die irrwitzig angewachsene Liste „extremistischer Materialien“, die Sperrung nicht genehmer Internetseiten usw.) heute unmöglich ist, ein Informationsmonopol herzustellen. Besonders, wenn es um junge Menschen geht, die permanent an ihren Geräten hängen (worüber sich Lukaschenko ebenfalls beklagte).

Durch die Totalitarisierung des Staates können andere junge Köpfe zweifellos verkrüppelt werden. Doch insgesamt ist die Hoffnung der hohen Führung, der heranwachsenden Generation massenhaft das Hirn zu waschen und sie für das Regime gefügig zu machen, zum Scheitern verurteilt

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Swetlana Tichanowskaja

Faire freie Wahlen – mit diesem Ziel ging das Wahlbündnis um Swetlana Tichanowskaja in den politischen Kampf gegen den belarussischen Machthaber Lukaschenko. Seit sie ins Exil musste, entwickelte sich Tichanowskaja zur wichtigsten politischen Stimme ihres Landes. Anfang März 2023 wurde sie in Abwesenheit zu 15 Jahren Straflager verurteilt. Das Porträt einer Politikerin, die nie eine sein wollte.

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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