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„Putin versucht mit aller Kraft, ein neues Russland zu verhindern“

Die einen würden am liebsten eine gigantische Mauer um Russland bauen, während andere insgeheim darauf hoffen, dass alles möglichst bald wieder so weiter gehen möge wie vor dem russischen Überfall auf die Ukraine vor einem Jahr. Wie kann ein Miteinander in Europa aussehen, wenn nach Putin womöglich der nächste Putin kommt? Wie kann die russische Gesellschaft Angst und Hilflosigkeit überwinden und welche Rolle spielt dabei die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur? Darum geht es im zweiten Teil des großen Meduza-Interviews mit dem Moskauer Soziologen Grigori Judin, der darin auch leise Hoffnungen auf ein „unausweichliches neues Russland“ äußert.

Hier geht es zum ersten Teil des Interviews.

Source Meduza

Margarita Ljutowa: Wie hat sich im vergangenen Jahr das Bild von Putin und Russland im Westen verändert? Meinen Sie, man hat jetzt das Ausmaß der Bedrohung begriffen, das bis 2022 wohl unterschätzt wurde?

Grigori Judin: Bisher wurde zugegeben, dass die vormals herrschenden Vorstellungen [über Russland] grundfalsch waren. Was daraus folgt, muss sich erst noch zeigen. Wir müssen bedenken, dass niemand auf diese Entwicklung vorbereitet war und daher noch immer ein reaktives Verhalten überwiegt. 

Es gibt eine unübersehbare „Partei des 23. Februar“: Das sind Leute, die die Aggression verurteilen, sich aber wünschen, dass das alles irgendwie vorbeigeht und man dann wieder weitermachen kann wie früher. Das ist in erster Linie das globale Kapital, das nicht versteht, wieso es wegen irgendeiner Ukraine Geld verlieren soll. Ein beachtlicher Teil der westeuropäischen Geschäftswelt macht keinen Hehl daraus, dass das ein optimales Szenario wäre, und erwartet, dass die Ukraine endlich einen Teil ihres Territoriums abgibt. 

Aufrufe zu Verhandlungen sind momentan aussichtslos, weil Wladimir Putin der Meinung ist, diesen Krieg zu gewinnen

Die einen versuchen, die Ukraine offen unter Druck zu setzen (solche Initiativen gibt es, wenn auch nicht vorherrschend, in Deutschland), die anderen warten einfach darauf, dass die Widerstandskraft versiegt. Aufrufe zu Verhandlungen sind momentan aussichtslos, weil Wladimir Putin der Meinung ist, diesen Krieg zu gewinnen, und er nicht vorhat, mit jemandem zu reden. Wenn für ihn jedoch die Zeit kommt, seine Eroberungen abzusichern, dann wird die Situation eine andere Wendung nehmen – und er weiß von diesen Stimmungen [im Westen – dek], er weiß, dass er sie bei Bedarf jederzeit für sich nutzen kann. 

Putin weiß von diesen Stimmungen, er weiß, dass er sie bei Bedarf jederzeit für sich nutzen kann

Viele Politiker sehen das anders und wissen um die Gefahren eines solchen Szenarios. Um ihm jedoch eine Alternative anzubieten, bräuchte man eine Art Zukunftsvision, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland und den gesamten Kontinent. Und da kommt es zu Schwierigkeiten. Der am stärksten in den Krieg involvierte Teil Europas besteht darauf, dass Russland keine andere Zukunft haben kann – es ist für sie ein „genetisch geschädigtes“ Land, das dazu verdammt ist, eine Gefahr darzustellen. Nach Putin kommt wieder Putin – in dem Punkt stimmen die Vertreter dieser Position mit [dem Sprecher der Staatsduma] Wjatscheslaw Wolodin überein. Die Bilder von der bestialischen Brutalität der russischen Soldaten verstärken solche Sichtweisen. 

Aber was folgt daraus? Natürlich könnte man rund um Russland eine Mauer bauen und sie mit Maschinengewehren bewachen. Dann wäre es aber in der gesamten Region vorbei mit der Sicherheit, denn das Ergebnis wäre entweder ein unvermeidlicher Revanchismus oder ein langwieriger Bürgerkrieg, und man kann nicht abschätzen, was davon für alle schlimmer ist. 

Natürlich könnte man um Russland eine Mauer bauen. Das Ergebnis wäre entweder ein unvermeidlicher Revanchismus oder ein langwieriger Bürgerkrieg

Rational denkende Menschen wie [der französische Präsident] Emmanuel Macron verstehen, dass man Sicherheit nicht erzielen kann, ohne Russlands Interessen zu berücksichtigen. Weil aber Macron auch davon überzeugt ist, dass Russland immer einen Putin haben wird, kommt er zu dem logischen, aber absolut aussichtslosen Schluss, dass man mit Putin verhandeln muss. Und tatsächlich, solange niemand Russland von der Landkarte tilgen will und zwischen Russland und Putin ein Gleichheitszeichen steht, wird man Putin entgegenkommen müssen. Jene Menschen, die mit Schaum vorm Mund allen einzureden versuchen, dass Russland zum ewigen Putin verdammt ist, bekommen am Ende konsequenterweise Spitzenpolitiker, die Verhandlungen mit Putin anstreben – obwohl sie allem Anschein nach das genaue Gegenteil erreichen wollen. 

Diesen Knoten wird man nicht lösen können, solange die Frage nach der Vertretung von Russlands Interessen im Raum steht. Russland hat wie jedes andere Land auch ein Recht auf Sicherheitsgarantien – alles andere führt zu Instabilität. Es ist natürlich sinnlos, dieses Thema mit Putin zu besprechen. Um also zu einer Strategie zu finden, muss man sich ein Russland ohne Putin klar vor Augen führen – ein Russland, mit dem man Gespräche führen kann, wie es Wolodymyr Selensky nüchtern formuliert.   

Um zu einer Strategie zu finden, muss man sich ein Russland ohne Putin klar vor Augen führen – ein Russland, mit dem man Gespräche führen kann

Das wird übrigens endlich die Voraussetzung dafür schaffen, dass die feigen russischen Eliten aktiv werden. Gerade die müssen sich vergegenwärtigen, dass ihre Zukunft nicht von einem Menschen allein abhängt, dass Russland irgendwann auch ohne Putin weiterbestehen wird. Solange Russland mit seiner jetzigen Regierung gleichgesetzt wird (oder genauer gesagt, nicht einmal mit der Regierung, sondern mit dem einen Menschen, der seinen Sicherheitsrat mit dem Angriff auf die Ukraine in einen totalen Schock versetzt hat), ist kein Ausweg in Sicht. Im Interesse aller muss man das eine vom anderen trennen. Der einzige Mensch, der ein Interesse an dieser Gleichsetzung hat, ist Wladimir Putin. 

Was kann man machen, um diese Gleichsetzung aufzuheben? Man denkt da sofort an Belarus, das nach den Massenprotesten wohl von niemandem mehr mit Lukaschenko gleichgesetzt wird. Braucht es also Massenproteste? Oder irgendeine Exilregierung, die der Welt den Entwurf eines neuen Russland präsentiert?

Diese beiden Dinge schließen einander nicht aus. Sicherlich würde eine ernstzunehmende Bewegung wie in Belarus, die endlich den tyrannischen Charakter dieser Regierung aufdeckt, zweifellos helfen. Eine solche Bewegung kann aber auch angeregt werden, indem man ein alternatives Russland skizziert. Zumal die Voraussetzungen dafür, wie mir scheint, gar nicht so schlecht sind: Wladimir Putin repräsentiert mit seinem absolut weltfremden, seltsamen, paranoiden Blick auf die Geschichte natürlich nicht ganz Russland. Russland ist ein ziemlich großes Land, es verfügt über genügend Ressourcen, junge, aktive Schichten, die die Welt mit ganz anderen Augen sehen. Putin versucht mit aller Kraft, das unausweichliche neue Russland zu verhindern, in dem für ihn kein Platz sein wird. 

Wladimir Putin repräsentiert mit seinem absolut weltfremden, seltsamen, paranoiden Blick auf die Geschichte natürlich nicht ganz Russland

Nach zwei Jahrzehnten unter Putin verlieren die Russen natürlich die Fähigkeit, sich etwas anderes vorzustellen. Aber das Leben wird dafür sorgen, dass wir unsere Phantasie ein bisschen mehr anstrengen. Unser Land ist in eine Sackgasse geraten, mit der Zeit werden wir nicht umhinkommen, das zu begreifen. Wir haben einfach noch ein paar Meter vor uns, also bewegen wir uns weiter. Aber es ist eine Sackgasse, sie führt nirgendwohin. 

Als wir vor diesem Interview unsere Gesprächsthemen festlegten, sagten Sie zur Frage des aktuellen Zustands der russischen Gesellschaft, zu ihrer Atomisierung, zur kollektiven Handlungsunfähigkeit, dass das Reden über das Gefühl der erlernten Hilflosigkeit nur noch verstärken würde, was Sie aber vermeiden wollen. Gibt es Methoden, zu der Gesellschaft zu sprechen, ohne dieses Ohnmachtsgefühl zu nähren?

Während die primäre Emotion in Russland Kränkung ist, ist der stärkste Affekt, um den sich heute alles dreht, die Angst. Existenzielle Angst – Angst vor dem Zorn eines konkreten Menschen oder Angst vor dem Krieg, und eine abstraktere Angst vor dem Chaos. Angst, multipliziert mit der Gewissheit, dass der Tyrann allmächtig ist und auf jeden Fall bekommt, was er will: Bisher hat er es immer bekommen, also wird es auch weiterhin so sein. Diese mit Hoffnungslosigkeit multiplizierte Angst, die braucht eine Antwort. 

Die mit Hoffnungslosigkeit multiplizierte Angst braucht eine Antwort

Angst treibt man mit Hoffnung aus. Das ist der gegenteilige Affekt. Man muss den Menschen Hoffnung geben. Insofern sind die nachvollziehbaren, begründeten Vorwürfe [gegen die Menschen in Russland] politisch perspektivlos. Noch mal: Sie sind verständlich, begründet und legitim, aber politisch aussichtslos. Wir haben es mit Menschen zu tun, die von ihrer eigenen Machtlosigkeit überzeugt und verängstigt sind, und Sie wollen ihnen noch zwei Kilogramm Schuld aufladen. Was soll dabei herauskommen?

Die Frage ist, wie man in dieser Situation Hoffnung gibt. Die Hoffnung besteht gerade darin, zu zeigen, dass die Dinge anders sein, dass Russland anders aussehen könnte. Und die Wahrheit ist: Solange die Menschen in Russland nicht begreifen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, haben sie keine Motivation, etwas darüber zu hören – denn das macht ja Angst, dann müssten sie etwas am Status quo ändern. Und der ist bedrohlich genug, um sich nicht mit ihm anzulegen.

Solange die Menschen in Russland nicht begreifen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, haben sie keine Motivation, etwas darüber zu hören, dass die Dinge anders sein, dass Russland anders aussehen könnte

In Russland ist jeder normative Diskurs längst im Keim erstickt: Es ist schon lange so gut wie unmöglich, danach zu fragen, wie man eine Gesellschaft aufbauen sollte, wie das auf gerechte, ehrliche und gute Weise gelingt. Schon vor Jahren haben mir Menschen [bei Umfragen] auf solche Fragen geantwortet: „In Russland? Gar nicht.“ Das zeigt, dass der normative Diskurs unterdrückt ist, aber die Nachfrage danach wird unweigerlich steigen, je mehr den Menschen diese Sackgasse bewusst wird. Dann ist es wichtig, dass sie Hoffnung haben.

Gibt es in diesem Leben in Angst multipliziert mit Hoffnungslosigkeit einen Point of no Return, einen Moment, nach dem die Hoffnung die Menschen nicht mehr erreicht? Wenn einer, der einen Plan für eine „wundervollen Zukunft“ vorlegt, nicht mehr gehört wird?

Das weiß ich nicht. Wenn wir von Affekten sprechen – die sind nie für die Ewigkeit. Aber können wir uns vorstellen, dass ein Affekt, wenn er auf die absolute Spitze getrieben wird, das soziale Umfeld dermaßen zerstört, dass man daraus nichts mehr bauen kann?

Ich glaube daran, dass die russische Kultur Rezepte enthält, um diese existenzielle Krise zu überwinden

Ich glaube an Russland. Ich glaube an die russische Kultur im konkreten Sinn – ich glaube daran, dass sie Rezepte enthält, um diese existenzielle Krise zu überwinden. Darin liegt ihre Stärke. Nicht darin, dass Puschkin ein großer Dichter war. Sondern darin, dass sie eine Fundgrube für Weisheiten und Ratschläge ist, für Antworten auf die Fragen, die uns heute beschäftigen. Ich glaube, dass die russischen Denker, Schriftsteller, die intellektuellen Ressourcen, die wir haben, unsere Traditionen und Gewohnheiten, Antworten auf diese Herausforderung enthalten.

Sie haben sicher den Diskurs vor Augen, der im Moment in Verbindung mit der russischen Kultur meistens geführt wird: dass sie imperial ist, eine Sklavenmentalität herangezüchtet und genährt hat usw. …

Ich glaube, dass es in der russischen Kultur tatsächlich ein starkes imperiales Element gibt, und dass es an der Zeit ist, sich damit auseinanderzusetzen. Der Zusammenbruch des Imperiums ist ein guter Moment dafür. Erschöpft sich die russische Kultur darin? Nein, das tut sie nicht. Dasselbe gilt auch für [das Werk eines] konkreten Autors. Kann man bei einem konkreten Autor imperiale Ideen finden? Man kann und man sollte. Aber muss man ihn deswegen im Ganzen verschmähen oder gutheißen? Man muss diese Person ja nicht mit all ihren Fehlern heiraten.

Ich glaube, dass es in der russischen Kultur tatsächlich ein starkes imperiales Element gibt, und dass es an der Zeit ist, sich damit auseinanderzusetzen

Kultur entwickelt sich weiter, indem sie sich selbst verarbeitet, auch indem sie sich selbst kritisiert. Aber Kritik darf keine Selbstverleugnung sein. Dann weißt du ja schlichtweg nicht mehr, wer du bist und was du kritisierst: Wenn man sich selbst verleugnet, von welchem Standpunkt aus übt man dann Kritik? Eine Kultur kann nicht ausschließlich imperial sein, sonst gäbe es auch keine Imperialismuskritik – es muss ja etwas vorhanden sein, was diese Kritik hervorbringt.

Die Kultur schafft selbst die Standpunkte für Selbstkritik. Daran ist nichts demütigend, es ist kein Problem, sie [die imperialen Ideen] in der russischen Kultur aufzuspüren, sie herauszustellen und zu analysieren, wie sie mit anderen Elementen zusammenhängen. Nein, sie erschöpft sich nicht darin. Genauso wie sich die deutsche Kultur nicht im deutschen Imperialismus erschöpft oder die britische Kultur im britischen.

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Krim-Annexion

Als Krim-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krim in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krim ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland.

Nur wenige Tage nach dem Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch als Resultat der Proteste auf dem Maidan setzten auf der Krim mehrere richtungsweisende Ereignisse ein: Am 27. Februar besetzten bewaffnete Personen, die sich als „Selbstverteidigungskräfte der russischsprachigen Bevölkerung der Krim“ bezeichneten, das Parlament sowie das Regierungsgebäude der Autonomen Republik Krim in Simferopol. Parallel okkupierten russische Spezialeinheiten, die aufgrund ihrer fehlenden Hoheitszeichen in der Ukraine sarkastisch als grüne Männchen bezeichnet wurden, ukrainische Verwaltungs- und Militärstandorte sowie sämtliche Verkehrswege der Halbinsel. Moskau leugnete dies zunächst vehement, später brüstete sich Putin jedoch damit, dass reguläre russische Soldaten im Einsatz gewesen sind.1

In einer höchst umstrittenen Sondersitzung des Parlaments der Autonomen Republik, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, wurde Sergej Axjonow, Vorsitzender der Splitterpartei Russische Einheit, zum Ministerpräsidenten der Krim ernannt. Zeitgleich stimmte das Parlament der Abhaltung eines Referendums über die Unabhängigkeit der Krim zu. Igor Girkin, ein russischer FSB-Offizier, der später unter dem Kampfnamen Strelkow (dt. „Schütze“) als Separatistenführer im Donbass in Erscheinung trat und nicht nur maßgeblich an den ersten bewaffneten Kampfhandlungen des dortigen Krieges beteiligt war, sondern auch an der Okkupation der Krim, räumte Monate später ein, dass die Abgeordneten von der Volksmiliz zur Abstimmung getrieben wurden.2

Das Referendum wurde nach mehrfacher Vorverlegung am 16. März 2014 abgehalten. Knapp 97 Prozent der Abstimmenden sollen sich bei einer angeblichen Wahlbeteiligung von rund 83 Prozent für den auf den Stimmzetteln als „Wiedervereinigung“ bezeichneten Beitritt der Krim in die Russische Föderation ausgesprochen haben. Das Krim-Parlament hatte zuvor bereits für eine Unabhängigkeitserklärung der Krim gestimmt. Die offizielle Aufnahme der Krim in die Russische Föderation erfolgte wenige Tage später. Das Referendum sowie sämtliche von Parlament und Regierung der Krim beschlossene Maßnahmen zur Herauslösung der Krim stehen im eindeutigen Widerspruch zum Staats- und Verfassungsrecht der Ukraine und wurden von Kiew nicht anerkannt.3

 

Auch die internationale Staatengemeinschaft erkennt die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation nicht an und sieht in ihr eine Verletzung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine sowie mehrerer internationaler Verpflichtungen durch Russland.4 Die EU, die USA sowie weitere Staaten reagierten mit Sanktionen gegen Russland. Moskau betrachtet indes unter Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker die Eingliederung der Krim als rechtmäßig. Abgesehen von der Illegalität des Referendums nach ukrainischer Gesetzgebung und unabhängig von der völkerrechtlich umstrittenen Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein Recht auf Sezession umfasst, ist das Referendum jedoch auch deshalb als nichtig zu werten, weil erst die völkerrechtswidrige militärische Intervention, das heißt die Anwendung von Gewalt, das Referendum ermöglichte.

Umstritten ist, welche Zustimmung eine Sezession in der Bevölkerung der Krim tatsächlich genossen hat. Politische Kräfte, die eine Loslösung der Krim von der Ukraine anstrebten, waren in den letzten Jahren marginalisiert. Der Historiker Jan Zofka verweist allerdings auch darauf, dass das russische Militär in einer politisch feindlichen Umgebung nicht derart ungestört hätte agieren können. Die Russland-Orientierung breiter Teile der Krim-Bevölkerung, Institutionen der Autonomie und Überreste der Unabhängigkeitsbewegung der 1990er Jahre sieht er als begünstigende Faktoren der Annexion als Folge der militärischen Intervention.5  Die massive russische Propaganda im Zuge der Ereignisse auf dem Maidan hat zudem Ängste und Unsicherheit bei Teilen der Bevölkerung der Krim geschürt. In Opposition zur Angliederung an Russland stehen indes große Teile der etwa 300.000 Krimtataren, die das Referendum boykottierten.6


1.Frankfurter allgemeine Zeitung: Putin rechtfertigt Annexion. „Krim-Operation war Reaktion auf Nationalismus“
2.Neue Zürcher Zeitung: Wie die Krim annektiert wurde. «Wir haben sie zur Abstimmung getrieben»
3.Luchterhandt, Otto (2014). Die Krim-Krise von 2014: Staats- und völkerrechtliche Aspekte, in: Osteuropa, 2014 (5-6), S. 61-86
4.United Nations: Resolution adopted by the General Assembly on 27 March 2014, 68/262. Territorial integrity of Ukraine
5.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ukraine. Zurück zum Mutterland
6.Mejlis of the Crimean Tatar People: Statement of Mejlis of the Crimean Tatar People as Regard to Announcement of “Crimean Referendum” by Verkhovna Rada of Autonomous Republic of Crimea
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