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Maximal abenteuerlich

„Je kürzer die Raketen, desto toter die Deutschen“, so lautete einer der bekanntesten Slogans der westdeutschen Friedensbewegung der 1980er Jahre. Hunderttausende Menschen gingen damals auf die Straße, um friedlich gegen Atomwaffen zu demonstrieren. Am 8. Dezember 1987 atmeten sie auf: Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichneten in Washington den INF-Vertrag, auf dessen Grundlage in den Folgejahren tausende Kurz- und Mittelstreckenraketen verschrottet wurden. 

Am 2. Februar läuft nun die Frist ab, die die USA Russland gesetzt hatten, um Beweise zu erbringen, dass die neuen 9M729-Marschflugkörper nicht gegen den INF-Vertrag verstoßen. Russland betont, dass sie eine Reichweite von 480 Kilometern hätten – also 20 Kilometer weniger, als im INF-Vertrag abgemacht. Die USA drohen dennoch, aus dem Vertrag auszusteigen.

Droht nun wieder ein nukleares Wettrüsten? Und worin würden sich dann der neue Kalte Krieg von dem alten unterscheiden? Diese Frage stellt der russische Militärexperte Alexander Golz auf Otkrytyje Media und im Blog auf Echo Moskwy.

Source Open Media

Beim letzten Kalten Krieg sprach man von der Konfrontation zweier sozialer und politischer Systeme. Entsprechend kann man den Krieg heute als Ergebnis einer anderen Konfrontation sehen: nämlich der zwischen der aktuellen politischen Praxis des Westens und den Vorstellungen von Wladimir Putin darüber, wie die Welt so tickt – und diese Vorstellungen werden von der erdrückenden Mehrheit der russischen Bürger geteilt. Und sie sind mehr als nur ein Irrglaube. Sie sind eine vollkommen klare Ideologie.

Coole Kerle spielen ein endloses Nullsummenspiel

Diese Welt hat nur sehr indirekt etwas mit der Realität zu tun. Diese Welt ist Realpolitik. Nur ist es nicht die feingeistige Welt eines Henry Kissinger, wo das Interessengleichgewicht der führenden Weltmächte nicht nur in einem komplizierten Abgleich militärischer, sondern vor allem wirtschaftlicher Interessen besteht. Nein, das hier ist die einfache, um nicht zu sagen primitive Realpolitik eines Bismarck, Metternich und … Stalin. Schlicht gesagt, coole Kerle sitzen zusammen an einem Tisch a là Jalta und spielen miteinander ein endloses Nullsummenspiel. 
Putins Auftritt auf der UN-Vollversammlung im Jahr 2015 wurde zu einer wahren Hymne an das System Jalta. Und richtig offen war der Präsident schließlich bei dem Treffen mit den Obersten der Streitkräfte und des militärisch-industriellen Komplexes im November 2016: „Durch das strategische Kräftegleichgewicht, das sich Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre herausgebildet hat, wurde die Welt vor großen militärischen Konflikten verschont.“

In diesem System spielen die – vornehmlich in militärischer Hinsicht – schwächeren Länder die Rolle von Figuren auf einem Schachbrett. Sie sind dazu verdammt, sich den Großmächten unterzuordnen. Es ist kein Zufall, wenn der russische Leader in der Absicht, die europäischen Staaten zu kränken, in gewissen Abständen von ihrer „eingeschränkten Souveränität“ spricht. Es waren genau diese Vorstellungen Putins, die zur Ukraine-Krise und zur Angliederung der Krim führten. Der russische Präsident ist der festen Überzeugung, dass jede Art von Volksbewegung das Ergebnis von Verschwörungen ausländischer Geheimdienste ist. Deswegen hat er im Kiewer Maidan den Versuch des Westens gesehen, ihn vom Jalta-Tisch zu verjagen, an dem die Lenker des Schicksals der Welt tagen. Und hat auf seine Art reagiert.

Einen derartigen Konflikt auf diplomatischem Wege zu lösen ist unmöglich. Putin wird seinen westlichen Counterpartnern niemals glauben, wenn die ihm zu erklären versuchen, dass die Zeiten, als Churchill und Stalin die Grenzen anderer Länder nach eigenem Ermessen zuschnitten, unwiederbringlich vorbei sind. Solche Erklärungsversuche hält er für Heuchelei mit dem Bestreben, ihn von der Mitgestaltung der Weltpolitik auszuschließen.  

Was bleibt? Ein gigantisches Atomarsenal

Russland hat keine derartigen Ressourcen wie die UdSSR im ersten Kalten Krieg. Es hat quasi keine Verbündeten. Die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) zeigt keinerlei Tendenzen zu einem Warschauer Pakt II zu werden. Gleichzeitig sind die meisten europäischen Staaten Mitglieder der NATO. Russland hat eine alternde Bevölkerung, aus der man beim besten Willen keine Fünf-Millionen-Armee nach sowjetischem Muster schaffen kann. War die sowjetische Armee nur effektiv, solange sie mit gigantischer Heeresmasse operiert hat, so ist die derzeitige russische Armee nur solange effektiv, wie sie mit geringer Truppenstärke auskommt. Russlands Wirtschaft ist schwach. Die Industrie ist eindeutig nicht dazu in der Lage, die Serienproduktion des gesamten Waffenspektrums abzudecken.

Was also bleibt für das Kräftemessen mit dem Westen? Ein gigantisches Atomwaffenarsenal. Und genau aus diesem Grund betreibt der Kreml forciert die atomare Wiederaufrüstung. Jedoch: Auch wegen des Besitzes von Atomwaffen bekommt Putin bei weltpolitischen Entscheidungen kein solches Gewicht, wie er gerne hätte. Das atomare Potential kann nur zu einem politischen Instrument werden, indem man dem Westen glaubhaft macht, dass im Kreml Menschen sitzen, die nicht ganz zurechnungsfähig sind. Menschen, die fähig sind, „den Knopf zu drücken“, und zwar nicht nur als Antwort auf einen atomaren Angriff. In diese Richtung gingen während der Angliederung der Krim provokative Erklärungen, man würde beabsichtigen, „die Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen“, und an anderer Stelle Kampfpatrouillen strategischer Bomber über dem Golf von Mexiko aussenden.

Russland ist erheblich schwächer als der mögliche Feind. Da bleibt dem Kreml nur, maximal abenteuerlich vorzugehen, ständig höher zu pokern und auf dem schmalen Grat militärischer Konfrontation zu balancieren. Und jedes neues Abenteuer wird abgesichert durch atomare Bedrohungen. Unter solchen Bedingungen kann sich jeder beliebige Vorfall zu Wasser oder in der Luft zu einer Katastrophe auswachsen – und diese Vorfälle werden sich unwillkürlich mehren, je nach Ausmaß des NATO-Truppenzuwachses in der Ostsee und der Schwarzmeerregion. Und bei einem Konflikt im Stil der Korеa- und Kubakrise, kann der Planet abgefackelt werden.

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Sergej Lawrow

Auf kaum einen russischen Politiker wird so unterschiedlich reagiert wie auf den Außenminister Sergej Lawrow. Die ehemalige Sprecherin des US State Department Jennifer Psaki überschritt geradezu eine rote Linie des diplomatischen guten Tons, als sie in harscher Manier im April 2014 Lawrows Vorwurf kommentierte, die USA würden Handlungen der ukrainischen Regierung steuern – dies sei, sagte sie, lächerlich.

Wie ist dieser Affront zusammenzubringen mit den Elogen, die sonst auch von westlicher Seite oft auf Lawrow gesungen werden?

Der britische Historiker Mark Galeotti etwa schrieb in der US-Zeitschrift Foreign Policy, Lawrow sei „einer der weltweit härtesten, klügsten und erfahrensten Außenminister“, eine „enorme Ressource des Kreml“ – die leider einfach nicht genügend eingesetzt werde.1 Auch der deutsche Historiker Michael Stürmer brach für ihn eine Lanze2, und sogar unter den russischen Regimekritikern finden sich einige, die etwas für Lawrow übrig haben. Es scheint, Lawrow ist eine durchaus widersprüchliche Figur.

Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen umweht Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans / Foto © kremlin.ru

Für den Studenten des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO) – der Kaderschmiede der sowjetischen und später russischen Diplomatie – war die diplomatische Karriere vorgezeichnet. Sie führte den 22-jährigen Lawrow (geb. 1950), der seitdem durchgehend im diplomatischen Dienst tätig ist, erst in die sowjetische Botschaft auf Sri Lanka, vier Jahre später in die Abteilung für internationale Wirtschaftsorganisationen beim Außenministerium und von 1981 bis 1988 zur sowjetischen Vertretung bei der UNO. Nach einem Intermezzo im Außenministerium der  UdSSR beziehungsweise Russlands kam er 1994 zurück nach New York, wo er ein Jahrzehnt lang als UN-Botschafter agierte. Seit 2004 ist Lawrow Außenminister. Neben den UNO-Sprachen Englisch und Französisch spricht er Singhalesisch und Dhivehi.3

Ein distinguierter „Mister Njet“

Mit seiner geschliffenen Ausdrucksweise und seinen tadellosen maßgeschneiderten Anzügen umweht den hochgewachsenen Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans. Ihm wird ein kluger – zuweilen herber – Humor nachgesagt. Er habe, heißt es außerdem, Sinn für guten Whisky, sei mit seiner Rafting-Leidenschaft risikofreudig und im Umgang mit Damen betont charmant. Sein Pokerface und der Spitzname „Mister Njet“ („Mister Nein“) tun das Übrige für den Nimbus eines Mannes, der sich stets tatkräftig und perfekt informiert gibt und in Verhandlungen äußerst durchsetzungsstark ist.  

Gewandte Syrien-Diplomatie

Ein Beispiel seiner diplomatischen Rafinesse präsentierte der erfahrene Politiker im September 2013 im Rahmen des Syrienkonflikts. Geschickt zog er aus einem – möglicherweise recht unbedachten – rhetorischen Argument seines amerikanischen Amtskollegen John Kerry Nutzen und schuf politische Fakten. Kerry hatte bei einer Pressekonferenz gesagt, die syrische Führung könne nur dann einem bevorstehenden Militärschlag entgehen, wenn sie alle Chemiewaffen an die internationale Staatengemeinschaft übergebe – davon ausgehend, dass ein solches Szenario sowieso gänzlich außerhalb des Möglichen liege. Lawrow machte aus Kerrys Worten jedoch umgehend bare Münze: „Wir greifen den Vorschlag von Kerry auf. Wenn sich damit ein Militärschlag abwenden lässt, wollen wir helfen, dass Damaskus die Chemiewaffen abgibt“4, ließ er in einer eilig einberufenen Pressekonferenz verlauten. Und in der Tat begann kurz darauf eine von Russland überwachte Aktion zur Vernichtung syrischer Chemiewaffen. Nach einiger Zeit wurde jedoch klar, dass sie nur zu einer teilweisen chemischen Entwaffnung Syriens führte. Zugleich wurde so der Grundstein für Russlands militärisches Engagement in Syrien gelegt. Mit diesem Coup ließ Lawrow den US-Außenminister wie einen Schuljungen dastehen.

Münchner Sicherheitskonferenz: fast ein Eklat

Es bleibt verborgen, weshalb Kerry seinen russischen Partner schon wenige Tage nach dem Vorfall „my friend Sergey“ nannte5 – die diplomatische Welt hat ihre eigenen Codes. Sicherlich gehört jedoch eines nicht dazu: dass man über einen Diplomaten öffentlich lacht. Diesem Skandal wurde Lawrow bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 ausgesetzt. Es war zunächst wie üblich bei solchen Veranstaltungen: Der Außenminister stimmte ein US-kritisches Lamento über die Hegemonie-Bestrebung und den Revolutionsexport an, ganz im Einklang mit dem Whataboutismus der sowjetischen Diplomatenschmiede. Als er aber darauf kam, die Angliederung der Krim als UN-Charta-konform zu erklären und darauf verwies, dass im ähnlichen Fall der deutschen Wiedervereinigung nicht einmal ein Referendum stattgefunden habe, brachen viele Diplomaten in offenes Lachen aus. Ein unerhörter Vorgang in der diplomatischen Welt, die sich meistens hinter der Fassade der Höflichkeit verbirgt.

Souveräne Verkörperung der politischen Unberechenbarkeit

In dieser Situation trafen gleich mehrere Unberechenbarkeiten aufeinander: Die des Publikums, das seine diplomatische contenance verlor, und die der russischen Außenpolitik selbst, von der es oft heißt, sie schlage – vor allem seit der Angliederung der Krim – immer wieder gezielt taktische Volten.6 Ihr Gesicht Sergej Lawrow verkörpert dies: Mal gibt er sich weltmännisch, mal – wie bei einer Pressekonferenz im August 2015, bei der er leise Unflätiges ins Mikro fluchte – hemdsärmelig, mal konziliant und dann – wie im Fall Lisa – aufwieglerisch. Lawrows souveräner Umgang mit diesen Wandlungen macht vermutlich auch sein Faszinosum aus.


1.Foreignpolicy.com: Free Sergey Lavrov!
2.Die Welt: Die Sphinx in der eiskalten Luft des Kreml
3.Singhalesich ist eine der Amtssprachen auf Sri Lanka. Dhivehi ist Amtssprache auf den Malediven, mit denen die sowjetische Botschaft auf Sri Lanka Kontakte unterhielt.
4.zitiert nach: Tagesanzeiger: Der Manipulator
5.State.gov: Remarks With Russian Foreign Minister Sergey Lavrov
6.Stiftung Wissenschaft und Politik: Denkbare Überraschungen. Elf Entwicklungen, die Russlands Außenpolitik nehmen könnte

 

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