Heftige Debatten um ein neues Bildungsgesetz in der Ukraine: In Schulen soll ab der fünften Klasse Ukrainisch die Unterrichtssprache sein. Das betrifft in erster Linie die Schulen der Minderheiten, die dann ab der fünften Klasse nur noch die eigene Geschichte oder Literatur in ihrer jeweiligen Sprache lehren dürfen. So will es ein neues Bildungsgesetz, das derzeit für heftige Diskussionen sorgt – nicht nur in den Nachbarländern, sondern auch im Inland.
Hauptargument der Bildungsreformer ist, dass viele Absolventen der Minderheitenschulen nicht ausreichend gut Ukrainisch könnten, um dann an einer ukrainischen Hochschule zu studieren.
Doch vor allem Russisch ist in der Ukraine stark präsent: Je nach Fragestellung geben in unterschiedlichen Umfragen 30 bis 40 Prozent der Ukrainer das Russische als ihre Muttersprache an. Die Frage, ob man Russisch oder Ukrainisch spricht, ist allerdings mehr und mehr ein Politikum – angesichts von Ideen wie Russki MirDas Konzept der Russischen Welt (russ. russki mir) wurde in den Jahren 2006/07 entwickelt und hat seitdem an Popularität gewonnen. War es zunächst eher ein kulturelles Konzept, das die soziale Bindungskraft russischer Sprache und Literatur betonte (es existiert eine gleichnamige kulturpolitische Stiftung), so dient es heute auch zur Legitimierung außenpolitischer Aktionen, die den Einfluss Russlands im postsowjetischen Raum stärken sollten. Mehr dazu in unserer Gnose und spätestens seit der Angliederung der KrimAls Krim-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krim in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krim ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland. Mehr dazu in unserer Gnose an Russland und dem Krieg in der OstukraineDer Krieg im Osten der Ukraine ist eine militärische Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Die Ukraine wirft dem Nachbarland Russland vor, die Rebellen mit Personal und Waffen zu unterstützen, was Russland bestreitet. Der Krieg kostete bereits rund 13.000 Menschen das Leben. Eine anhaltende Waffenruhe konnte trotz internationaler Vermittlungsbemühungen bisher nicht erreicht werden. Mehr dazu in unserer Gnose .
Die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA NowostiBis zu ihrer Auflösung im Dezember 2013 auf Erlass des Präsidenten galt RIA Nowosti als die unabhängigste der großen russischen Nachrichtenagenturen. Sie wurde 2013 in den neu gegründeten staatlichen Medienkonzern Rossija Sewodnja integriert. RIA Nowosti war auch für die Berichterstattung im Ausland zuständig. Diese Rolle übernahm 2014 der ebenfalls zu Rossija Sewodnja gehörende Sender Sputnik. Innerhalb Russlands wird der Name RIA Nowosti noch für eine Nachrichtenplattform verwendet, die von Rossija Sewodnja betrieben wird. titelte sogleich „Russisch wird aus den Schulen vertrieben“, doch auch in anderen Nachbarländern wie Ungarn regt sich heftiger Protest. Der ukrainische Minderheitenbeauftragte Wadim Rabinowitsch postete einen Kommentar auf Facebook, in dem er Präsident Poroschenko bittet, das Gesetz nicht zu unterschreiben, da es die Rechte der Minderheiten untergrabe.
Auf Republic begreift Oleg KaschinOleg Kaschin (geb. 1980) ist ein bekannter russischer Journalist. Er schreibt für verschiedene unabhängige Medien und gibt sich in seinen Artikeln betont kremlkritisch. Mutmaßlich wegen dieser Haltung wurde er bereits mehrmals Opfer von Gewalttaten. So schlugen ihn 2010 drei Menschen brutal zusammen, Kaschin musste sich einigen Operationen unterziehen. 2015 gab der Journalist bekannt, dass Indizien gegen drei Täter vorliegen würden. Ein von ihm angestrebtes Gerichtsverfahren wegen versuchten Mordes wurde allerdings noch nicht eröffnet. das Gesetz als „Abschaffung russischsprachiger Schulen“. Theoretisch dürfen diese allerdings weiter bestehen, müssen aber ab der fünften Klasse hauptsächlich auf Ukrainisch unterrichten.
Kaschin kommentiert, dass die Ukraine mit dem neuen Gesetz nur nach der Logik ihres russischen Gegners handle – und mutmaßt gleichzeitig, ob alles nicht eventuell nur ein schlaues „Manöver“ für weitere Verhandlungen zwischen beiden Ländern sei.
Die angekündigte Abschaffung von russischsprachigen Schulen in der Ukraine – auf das entsprechende Gesetz hat Russland drei Jahre lang gewartet. Es hat darauf gewartet, damit es sagen kann: Seht her, diese Nazis, das ist ein Genozid, eine humanitäre Katastrophe, wir können nicht wegsehen, wir entsenden Truppen, und wenn wir keine entsenden, dann unterstützen wir jede Separatistenrepublik, die dort entsteht, oder helfen selbst, dass welche entstehen.
Russland hat drei Jahre lang auf dieses Gesetz gewartet – vergeblich. Man musste sich mit weniger bedeutenden Vorkommnissen zufriedengeben, darunter frei erfundenen (so die Geschichte vom „gekreuzigten“ JungenAm 12. Juli 2014 zeigte der russische Erste Kanal ein Interview mit einer Frau aus der Stadt Slawjansk in der Ostukraine. Sie erklärte, die ukrainische Armee habe nach der Rückeroberung der Stadt durch die Separatisten der Volksrepublik Donezk auf dem zentralen Platz der Stadt einen kleinen Jungen an einer Werbetafel festgenagelt. Obwohl angeblich hunderte Menschen zugegen waren, gibt es weder ein Foto von der Tat, noch konnte irgendjemand diese Aussage öffentlich bestätigen.).
Russland hat auf die Nazis geschimpft, mit Katastrophen gedroht, Separatisten unterstützt und ihnen dazu verholfen, ihre Republiken auszurufen, hat, wenn auch heimlich, Truppen entsandt, Soldaten beerdigt Anspielung auf zahlreiche Hinweise für Beerdigungen von Soldaten regulärer Streitkräfte Russlands, die im Donbass-Krieg starben. Offiziell nimmt Russland nicht an diesen Kampfhandlungen teil.– auch das heimlich. Wahrscheinlich ist es selbst darüber erschrocken, was es angerichtet hat. Und ist in diesen drei Jahren sehr viel zurückhaltender geworden. Hat das Wort NoworossijaAls Noworossija (dt. Neurussland) wird derzeit von russischer Seite häufig der Südosten der Ukraine bezeichnet. Der Begriff wird auf unterschiedliche Gebiete angewendet, meistens werden aber darunter Territorien verstanden, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter Katharina der Großen durch Russland erobert wurden. Im Zuge der Ukraine-Krise begannen die russischen Unterstützer der Separatisten diesen Begriff zu benutzen, um die sich abspaltenden Gebiete zu bezeichnen und diesen eine stärkere russische Identität zu verleihen. Read more in our Gnose hervorgeholt und wieder vergessen, und als jemandem das Wort MalorossijaAnspielung auf einen Vorstoß von Alexander Sachartschenko, Chef der sogenannten Donezker Volksrepublik, der im Juli 2017 den Staat „Kleinrussland“ (russ. Malorossija) ausgerufen hatte – als „Rechtsnachfolger“ der „gescheiterten“ Ukraine. Wenige Wochen später nahm Sachartschenko weitgehend Abstand von seinem Vorstoß. wieder in den Sinn kam, wurde er offenbar dermaßen zusammengestaucht, dass er es gleich wieder vergaß.
Das Motiv des ,Russki Mir‘ hat sich in der offiziellen Rhetorik erschöpft und ist versickert
Das Motiv des Russki Mir (dt. Russische Welt) hat sich in der offiziellen Rhetorik erschöpft und ist versickert. Über die BanderowzyAls Banderowzy wurden ursprünglich die Mitglieder der von Stepan Bandera 1940–1959 angeführten Partei der ukrainischen Nationalisten bezeichnet. Stepan Bandera (1909–1959) war ein bekannter ukrainischer Nationalist und Partisan. Er schloss sich bereits früh der Organisation Ukrainischer Nationalisten an, die im Zweiten Weltkrieg teilweise mit der Wehrmacht zusammenarbeitete. Die Person Bandera ist umstritten: Im Osten der Ukraine und in Russland gilt er zum Teil als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher. Im Westen der Ukraine wird er oft als Nationalheld verehrt, da er die Unabhängige Ukraine ausrief und dafür von den Nazis verhaftet und ins KZ Sachsenhausen verschleppt wurde. Der Begriff Banderowzy beziehungsweise Bandera-Faschisten ist in staatsnahen Medien Russlands oft pauschal als Schmähformel für kremlkritische Ukrainer in Gebrauch. berichtet nicht mal mehr die Komsomolskaja PrawdaKomsomolskaja Prawda ist eine russische Tageszeitung mit Sitz in Moskau mit einer verkauften Auflage von rund 655.000 Exemplaren. Sie gilt als ein Kreml-nahes Boulevardblatt.. Das Thema Russisch in der Schule ist mittlerweile in Russland selbst ein wunder Punkt – gerade erst wurde ein weiterer Sprachenstreit zwischen Moskau und KasanKasan ist die Hauptstadt Tatarstans – ein Föderationssubjekt Russlands, etwa 600 Kilometer östlich von Moskau. Tatarisch, das zu den Turksprachen gehört, ist hier – gleichwertig neben dem Russischen – sowohl offizielle Amtssprache als auch Pflichtsprache an den Schulen. Laut einer Entscheidung aus dem September 2017 soll der Unterrichtsumfang für Russisch ab 2018 ausgeweitet werden. Neuesten Pressemeldungen zufolge kann Tatarisch mittelfristig vom Pflichtunterricht ausgenommen werden. durch einen Kompromiss beigelegt, und es war sicher nicht der letzte.
Vor drei Jahren wäre ein Verbot russischsprachiger Schulen in der Ukraine für Russland das Ereignis des Jahres gewesen, ein zweiter Brand von OdessaAm 2. Mai 2014 kam es im ukrainischen Odessa zu Zusammenstößen zwischen Anhängern des Euromaidan und der prorussischen Gegenbewegung Anti-Maidan. Ein Protestcamp der prorussischen Aktivisten wurde niedergebrannt, beide Lager bewarfen sich mit Brandsätzen. Die Aktivisten des Anti-Maidan verschanzten sich schließlich im Gewerkschaftshaus, das in Brand geriet. Es starben mindestens 42 Menschen, mehrheitlich Angehörige des Anti-Maidan., und die Propaganda hätte es nicht besonders schwer gehabt, bei den Russen echte und aufrichtige Empörung auszulösen. Wahrscheinlich haben sich die Ukrainer deshalb drei Jahre lang zurückgehalten, damit Russland diese grundlegend verstörende Nachricht mit einer in dieser Situation maximal möglichen Gleichgültigkeit aufnimmt.
In der Ukraine gibt es Landstriche mit einer ungarischen MehrheitDer letzten Volkszählung aus dem Jahr 2001 zufolge lebten damals rund 156.000 ungarisch-sprechende Menschen in der Ukraine. Am meisten verbreitet ist Ungarisch in der ukrainischen Oblast Transkarpatien, die an der Grenze zu Ungarn liegt. Hier beherrschten 2001 rund 12,5 Prozent der befragten diese finno-ugrische Sprache., aber künftig soll nur noch Ukrainisch als Unterrichtssprache erlaubt sein. Das ungarische Außenministerium reagierte mit einem empörten Statement, das rumänische Außenministerium zumindest mit einem Statement, Russland reagierte nicht einmal damit, denn was sollte in diesem Statement auch stehen?
Hätte die Ukraine russischsprachige Schulen vor drei Jahren verboten, wäre es für Russland das Ereignis des Jahres gewesen
Die Beziehungen werden leiden? Bereits geschehen. Wir werden Separatisten unterstützen? Schon passiert. Wir werden Truppen schicken? Sind längst da. Alle möglichen Worte sind bereits gesagt, manches Gesagte ist sogar schon wieder zurückgenommen.
Russland hat das moralische Recht verspielt, die Ukraine für das verabschiedete Gesetz zu kritisieren, mehr noch – Russland scheint dieses Recht nicht einmal mehr für sich zu beanspruchen, dessen Notwendigkeit teils schon vor drei Jahren erschöpft war, teils durch andere außenpolitische Bedürfnisse von Syrien bis MyanmarWas hat Myanmar mit dem Nordkaukasus zu tun? In Grosny und in Moskau folgten Tausende dem Aufruf von Tschetschenien-Chef Kadyrow und demonstrierten gegen die Verfolgung von Muslimen in Myanmar. Was hat die Situation in dem südostasiatischen Land mit dem russischen Nordkaukasus zu tun? Was will Kadyrow erreichen? Und welche innenpolitische Lehre sollte Moskau aus den Protesten ziehen? Eine Analyse des Nordkaukasus-Experten Sergei Markedonov. ersetzt worden ist.
Die Ukraine wiederum hat das moralische Recht auf eine Entrussifizierung der Schulen bekommen und gefestigt – das Verbot russischsprachiger Schulen wird heute als Selbstverteidigungsmaßnahme wahrgenommen, denn die letzten drei Jahre haben gezeigt, dass die russische Sprache, wenn sie nicht eingedämmt wird, Volksrepubliken, Burjatische PanzerfahrerIm März 2015 veröffentlichte die unabhängige Novaya Gazeta ein Interview mit Dorshi Batomunkujew – einem Panzerfahrer aus Burjatien, Föderationssubjekt Russlands an der Grenze zur Mongolei. Batomunkujew behauptete, als ein Soldat der regulären Streitkräfte Russlands am Donbass-Krieg teilgenommen zu haben. Der mutmaßlich in Kampfhandlungen verletzte Batomunkujew gilt für Kiew damit als ein Beweis für Russlands Teilnahme am Krieg in der Ostukraine – was der Kreml stets abstreitet. Wegen einiger Unschlüssigkeiten des Interviews wurde der Fall von russischer Propaganda als Fake dargestellt. Burjatische Panzerfahrer wurde sowohl in Russland als auch in der Ukraine zu einem Internet-Mem – je nach Standpunkt mit gegensätzlichen Bedeutungsinhalten. und in persona den toten MotorolaArsen Pawlow (1983–2016) war vor allem unter seinem Spitznamen Motorola bekannt. Er war russischer Staatsbürger und ein hochrangiger Milizen-Offizier der sogenannten Donezker Volksrepublik. Mehrere russische TV-Reportagen berichteten über ihn, dadurch erlangte er in Russland eine gewisse Bekanntheit. Zeugenaussagen zufolge soll Pawlow mehrere Kriegsverbrechen verübt haben. nach sich zieht.
Russland hat das moralische Recht verspielt, die Ukraine für das verabschiedete Gesetz zu kritisieren
Der Zusammenhang von Sprache und Krieg erscheint derart unbestreitbar, dass sicher auch unter den russischsprachigen Bürgern der Ukraine viele sind, die es gut finden, wenn in den Schulen ihrer Kinder sämtliche Sätze des Pythagoras und Ohmschen Gesetze, jegliche Blütenstempelchen und -fädchen ins Ukrainische übersetzt werden, auch wenn sie es selbst gar nicht können. Sogar in der ATOAls ATO (Abkürzung für Anti-Terror-Operation) bezeichnet die ukrainische Seite ihr Vorgehen gegen die prorussischen Separatisten im Osten der Ukraine. war die Beteiligung russischsprachiger Ukrainer bekanntlich relativ hoch, und das Thema Schule wiegt, so wichtig es auch sein mag, immer noch weniger als der Krieg.
Selbst wenn die Entrussifizierung der Schulen in Wirklichkeit lange vor dem Krieg geplant war – beweisen kann das heute niemand mehr: Das Gesetz wurde 2017 verabschiedet, der Krieg begann 2014Krieg in der Ukraine .
Und hier ist das Paradoxe an der ukrainischen Schulreform: Deren Initiatoren gehen quasi davon aus, dass die Frage der russischen Sprache in der Ukraine eine Frage der russisch-ukrainischen Beziehungen ist. Das heißt: Nun ist es die ukrainische Seite, die die alten Kreml-Losungen von dem Russki MirDas Konzept der Russischen Welt (russ. russki mir) wurde in den Jahren 2006/07 entwickelt und hat seitdem an Popularität gewonnen. War es zunächst eher ein kulturelles Konzept, das die soziale Bindungskraft russischer Sprache und Literatur betonte (es existiert eine gleichnamige kulturpolitische Stiftung), so dient es heute auch zur Legitimierung außenpolitischer Aktionen, die den Einfluss Russlands im postsowjetischen Raum stärken sollten. Mehr dazu in unserer Gnose aufgreift, wonach Russland überall, wo russischsprachige Menschen leben, besondere Interessen hat.
Vor drei Jahren hat Russland versucht, ein Monopol auf die russische Sprache für sich zu beanspruchen, und genau das war die größte Schwachstelle der ganzen Russki-Mir-Rhetorik. Kein Staat der Welt hat die Exklusivrechte an irgendeiner Sprache. Es fällt ja auch, sagen wir mal, Großbritannien nicht ein, die USA zu seinem Interessenbereich zu erklären, nur weil die Amerikaner Englisch sprechen.
Kein Staat der Welt hat die Exklusivrechte an irgendeiner Sprache
Auf einmal ist es nun die Ukraine, die ein Monopol Russlands auf die russische Sprache postuliert. Versteht man die Entrussifizierung als ein Mittel der Verteidigung gegen Russland, dann bedeutet das, dass die Ukraine dem russischen Staat Exklusivrechte auf das Russische zuspricht und Russland als Vaterland all derer anerkennt, die auf Russisch sprechen und denken. Übersetzte man das in die Sprache der Losungen, lautete die getreue Übersetzung: „Russland den Russen“ – etwas, das Russland selbst nie laut aussprechen würde und das Artikel 282Bis 2013 galt die „Verletzung religiöser Gefühle“ als eine Ordnungswidrigkeit. Nach dem Verfahren gegen Pussy Riot – Kunstaktivistinnen, die 2012 wegen ihres Punk-Gebets in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale verurteilt wurden – wurde diese Verletzung von Rechtsregeln als Artikel 148 in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Dieser Straftatbestand kann auch nach dem Artikel 282 des Strafgesetzbuchs geahndet werden. Offiziell richtet sich der Artikel gegen das „Schüren von Hass und Feindschaft sowie Erniedrigung von Individuen oder Gruppen“. In der Praxis folgt er einer breit gefassten Logik von Extremismus und gilt daher als ein Gummi-Paragraph. Während die Anwendung des Artikels 282 im Jahr 2016 gegenüber 2015 nachließ, gab es im entsprechenden Zeitraum mehr Verurteilungen nach Artikel 148. des russischen StGB unter Strafe stellt.
Millionen künftiger Opfer der Entrussifizierung drohen durch eine Lücke zu fallen: zwischen der ukrainischen Vorstellung von Russland als Nationalstaat und dem, was Russland tatsächlich ist. Sie werden sich entweder gezwungen sehen, nach Russland zu gehen, wo niemand auf sie gewartet hat, oder – und das ist wahrscheinlicher – sich damit abfinden müssen, dass die primäre Sprache ihrer Kinder und Enkel Ukrainisch sein wird.
Wieder einmal müssen Menschen, die auf Russisch sprechen und denken, feststellen, dass sie keine Heimat haben und dass die Bewahrung der eigenen Identität ihre Privatsache ist, mehr noch – ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann und den die Mehrheit nicht braucht. Prorussische Kommentatoren (allen voran ehemalige ukrainische „Regionale“ [Anhänger der Partei der Regionen – dek]) drohen mit gesellschaftlichen Ausbrüchen und Protesten, doch das klingt nicht sehr überzeugend – die Wahrscheinlichkeit russischsprachigen Protests ist in der Ukraine momentan ziemlich gering. Der Russki Mir ist und bleibt eine Propaganda-Mär, die nur bei politischer Notwendigkeit aus den staubigen Schränken hervorgeholt wird, so wie es vor drei Jahren geschehen ist. Aber die Russen jenseits der russischen Staatsgrenze werden mithilfe eines still und leise verabschiedeten Gesetzes zu unglücklichen Geiseln gemacht.
Nur ein gewaltiges Мanöver?
Womöglich ist aber gerade diese demonstrative Geiselhaft als Zeichen der Hoffnung zu sehen. Einer riesigen nationalen Minderheit (zwischen einem Drittel und der Hälfte der Bevölkerung des Landes) ein grundlegendes Menschenrecht zu entziehen, das ist ein allzu gewaltiges, allzu monströses Projekt – und allzu fragwürdig in Bezug auf seine Realisierbarkeit. Es wirkt mehr wie ein Instrument im Gefeilsche mit Russland, und Anlass für solche Händel hat die Ukraine immer genug.
Mit diesem gewaltigen Manöver hat Kiew sich neuen Raum für Zugeständnisse geschaffen: Bei den nächsten Verhandlungen in MinskUnterzeichnet am 12. Februar 2015 von Vertretern der OSZE, Russlands, der Ukraine sowie der Separatisten aus Donezk und Lugansk, sieht das zweite Abkommen von Minsk unter anderem einen sofortigen Waffenstillstand sowie den Abzug schwerer Waffen von der Frontlinie vor. Es verpflichtet die Ukraine auch zu einer Verfassungsreform, die einigen Regionen im Donbass einen Sonderstatus einräumt, und sichert der Ukraine die Kontrolle über ihre Grenze nach Russland zu. Weite Teile des Abkommens sind bisher nicht umgesetzt. könnte das Thema der russischen Schulen leicht gegen ein Entgegenkommen von russischer Seite eingetauscht werden. Und vielleicht werden wir dann schon morgen offizielle Stimmen aus Russland hören, die von einem weiteren Triumph des Russki Mir sprechen: Die Ukraine nimmt das Verbot russischsprachiger Schulen zurück, und dafür werden die Grenzen in den DonezkerDie Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee. Mehr dazu in unserer Gnose und LuhanskerDie Volksrepublik Luhansk wurde wie auch die Volksrepublik Donezk im Frühjahr 2014 nach dem Machtwechsel in Kiew infolge des Euromaidans von bewaffneten Separatisten im Osten der Ukraine ausgerufen. Die Regionen sind international als Staaten nicht anerkannt. Der im Zuge ihrer Entstehung entbrannte Krieg mit der ukrainischen Armee dauert noch immer an. Gebieten wiederhergestellt – so oder so ähnlich.