Die Beweislage im Fall Skripal ist nach derzeitigem Stand der Veröffentlichungen sehr dünn. Dennoch entschlossen sich rund 25 Länder, über 140 russische Diplomaten auszuweisen. Für viele unabhängige Beobachter in Russland ist der Fall klar: Es sei dem Westen nicht so sehr um Skripal gegangen, sondern vielmehr darum, einen Schulterschluss zu demonstrieren. Dieser sei notwendig gewesen, weil der Westen nicht anders auf die ständigen Herausforderungen seitens Russlands zu reagieren wusste. Angliederung der Krim, Krieg im Osten der Ukraine, Abschuss der MH17, Krieg in Syrien, Einmischung in Wahlen und so weiter – dies seien die eigentlichen Ursachen; der Fall Skripal sei nur der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, so die Beobachter.
Auch der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew kann nachvollziehen, warum der Westen trotz dürftiger Beweislage solch drastische Maßnahmen ergreift. Auf Snob meint der kritische Intellektuelle, dass der russischen Außenpolitik eine der wichtigsten Eigenschaften abhanden kommt – ihre Rationalität.
Die kürzliche Ausweisung von 139 russischen Diplomaten aus 24 Ländern ist außergewöhnlich. Besonders wenn man bedenkt, dass es keine Reaktion auf Provokationen dieser Staaten war, sondern ein Zeichen der Solidarität mit Großbritannien, das Russland des Attentats auf den ehemaligen Spion Sergej Skripal beschuldigt.
Derzeit ist es Mode, die aktuellen Ereignisse als einen neuen Kalten Krieg zu bezeichnen – und ich sage schon lange, dass das für die veränderte Form der russischen Beziehungen zum Westen durchaus angemessen ist. Allerdings gehen die Ereignisse mittlerweile womöglich darüber hinaus (oder genauer gesagt, in eine etwas andere Richtung).
Die Ereignisse von 2014 und 2015 in der Ukraine haben den Westen sehr beunruhigt; Putins Auftritte von 2007 und 2008 in München und in Bukarest, der fünftägige Georgienkrieg sowie Moskaus Versuche, seinen Einfluss auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zu festigen und freundschaftliche Beziehungen mit einigen Staatschefs Mitteleuropas auszubauen – das alles passte, zusammen mit dem aggressiven Vorgehen Russlands, sehr gut zu dem früheren Bild.
Verständlich wirkten auch die unterschiedlichen [russischen – dek] Reaktionen: Distanziertheit, Unterstützung der Verbündeten, Konkurrenz und Rivalität an der globalen Peripherie. Über Putin hieß es gemeinhin, er verstehe nur die Regeln eines Nullsummenspiels: Wenn einer Verluste macht, macht der andere Gewinne.
Was hat der Kreml denn erreicht?
Schon seit Mitte der 2010er Jahre hat sich die Situation, wie mir scheint, allmählich verändert, auch wenn es nicht sofort zu bemerken war. Russlands Einmischung in die amerikanischen Wahlen, das Geschäker mit Europas radikalen Rechten, die offenkundige Unterstützung von Kriegsverbrechern wie Assad und der staatliche Terror gegen Regimegegner und Menschen, die Putin selbst oder sein Umfeld als Verräter betrachten – all das deutet nicht nur darauf hin, dass der Kreml keinerlei Regeln mehr anerkennt. Weit wichtiger ist, dass Moskau bei bestimmten Schritten seinen eigenen Nutzen überhaupt nicht mehr im Sinn hat.
Denn was hat der Kreml damit erreicht, dass er in der Geschichte der amerikanischen Wahlen 2016 eine schmutzige Spur hinterlassen hat? In Bezug auf Russland überhaupt nichts: Wer auch immer die Wahlen ohne die russische Einmischung gewonnen hätte – die Beziehungen zwischen beiden Länder wären wohl kaum schlechter, als sie es heute sind. Die einzigen Folgen sind eine übermäßige Anspannung im amerikanischen politischen System und die Verschärfung interner Kämpfe des Establishments in Washington.
Und was erreicht der Kreml in Europa, wenn er antieuropäische Kräfte unterstützt und finanziert? Offenbar wiederum eine Destabilisierung.
Der Großteil Europas wird antirussischer werden
Bezeichnend ist, dass allein das Aufkommen der Rechten, sollte es dazu kommen, Russland nichts bringen wird. Die EU wird nicht auseinanderbrechen, nur weniger effektiv werden. Und die proeuropäischen Kräfte werden einfacher argumentieren können, dass sich die Länder des Alten Europa verbünden sollten – wenn nicht für etwas, dann doch gegen jemanden.
Und sogar wenn die proputinschen Kräfte hier und da lokale Siege erringen sollten, ändert es nichts an der Gesamtsituation. Der Großteil Europas wird immer antirussischer werden.
Was hat Putin erreicht, indem er in Großbritannien allem Anschein nach mittlerweile etwa ein Dutzend seiner persönlichen Feinde ermorden ließ, die längst aller Möglichkeiten beraubt waren, Russland zu schaden? Man sollte doch meinen, es hätte niemand etwas davon, wenn Russland zum internationalen Outlaw wird.
Der Westen versteht Russland überhaupt nicht mehr – was nicht überraschend ist
Die Reaktion des Westens in Form von einer Ausweisung russischer Diplomaten zeugt von einer neuen Wirklichkeit, die vor allem darin besteht, dass der Westen Russland überhaupt nicht mehr versteht. Was nicht überraschend ist, denn es ist heute tatsächlich völlig unklar, was Putin will. Zum Diktator im eigenen Land werden, das nicht einmal mehr den Anschein einer Demokratie wahrt? Daran hindert ihn der Westen nicht, er versucht es nicht einmal besonders nachdrücklich. Die Sowjetunion wiedererrichten? Nur zu – fraglich ist nur, ob die zentralasiatischen Khans und Bais das wollen, bislang sehen Moskaus Versuche der Integration nicht sehr vielversprechend aus. (Die Ukraine ist ein Sonderfall, hier wäre es allerdings zielführender gewesen, mit dem ukrainischen Volk zu verhandeln anstatt mit Brüssel oder Washington.) In Russland gestohlenes Geld in Europa und anderen Offshores waschen? Ich habe bislang nichts davon gehört, dass russisches Kapital eingefroren oder Eigentum beschlagnahmt worden wäre.
Weil der Westen Russland nicht versteht, geht er dazu über, Signale zu senden und anzudeuten, Putin möge doch zur Vernunft kommen: Er soll nicht einmal weniger antiwestlich werden, nur rationaler; vom Himmel auf die Erde zurückkehren, und nach Möglichkeit Chaos innerhalb der eigenen Grenzen anzetteln.
Russland ist deutlich verwundbarer
Der Kreml gibt vor, diese Signale nicht zu verstehen und handelt lieber nach dem Prinzip der „symmetrischen Reaktionen“. Doch was zu Zeiten des Kalten Krieges normal war, ist es heute nicht mehr. In den 1970ern hatten die Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei keine Villen in Südfrankreich und auch keine Firmenkonten in Luxemburg oder Delaware. Russische Betriebe waren nicht Teil von Unternehmen, die im Westen Kredite laufen hatten. Die heimische Industrie konnte die Bevölkerung mit dem Nötigsten versorgen und das, was fehlte, ließ sich über osteuropäische Satellitenstaaten beziehen. Heute ist alles anders. Russland ist deutlich verwundbarer, nicht mal so sehr durch amerikanische Atomraketen als vielmehr durch europäische Wirtschaftssanktionen.
Symmetrische Reaktionen waren brauchbar, als beide Seiten durch Interessen gelenkt waren. Handelt jedoch eine Seite aus einer banalen Kränkung heraus, werden sie kontraproduktiv. Moskau nimmt an, man würde es „hochnehmen“. Aber in Wirklichkeit bedeutet das Signal etwas anderes: Man hat mit dem Kreml nichts zu besprechen, allein die Vorstellung erscheint den meisten unangenehm. Wozu sollte man in dieser Situation in den Ländern der Gegner Botschaften haben, die stärker besetzt sind als die Auslandsvertretungen in den Ländern der treuesten Freunde?
Die Sanktionen sind quasi für immer
Will man auf Grundlage der letzten Schritte des Kreml Analogien finden, so erinnern sie weniger an die Handlungen von Chruschtschow oder Breshnew, als vielmehr an die Experimente aus der Stalinzeit: Als sowjetische Geheimdienste im Ausland [sogenannte – dek] Feinde der Revolution ausschalteten und der Kreml – trotz der nationalsozialistischen Gefahr – von den deutschen Kommunisten verlangte, nicht mit den Sozialdemokraten zu paktieren. Damals schien es, die maximale Destabilisierung der demokratischen Länder könne zu deren Kollaps und damit zur weltweiten Herrschaft des Proletariats führen.
Die Geschichte hat uns eines Besseren belehrt. Der Zusammenbruch der Weimarer Republik hat niemandem so sehr geschadet wie der Sowjetunion. Sollte die europäische Integration scheitern, wird Russland auch diesmal wohl kaum davon profitieren.
Vor kurzem noch freuten wir uns über den Brexit, erinnert ihr euch? Gingen davon aus, dass ein selbstständiges Großbritannien die EU-Bürokratie schwächen würde. Allerdings sieht es bisher eher danach aus, als würde die „größere Selbstständigkeit“ des Vereinigten Königreichs seine Entschiedenheit im Vorgehen gegen Moskau verstärken, und Europa (und nicht nur Europa) scheint durchaus geneigt, den „Abtrünnigen“ zu unterstützen.
Ich kann also nur meine frühere Annahme wiederholen: Die Sanktionen gegen Russland sind quasi für immer. Denn anstatt die Ereignisse rational zu betrachten, das Für und Wider abzuwägen und eine Entscheidung zu treffen, die auf Deeskalation zielt, fährt Russland fort zu provozieren, zu lügen und sich herauszuwinden.
Dem Westen fällt es schwer, mit militärischen Mitteln darauf zu reagieren, und das möchte auch niemand, deswegen werden die Zeichen der Ächtung immer weiter zunehmen. Darauf sollte sich Russland einstellen – oder anfangen sich zu verändern. Aber damit ist offensichtlich nicht zu rechnen.