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Wladimir Potanin

Der Spieler mit der Nummer 61 gleitet über das Eis, sucht Räume für sein zielgenaues Passspiel. Von seinen Vorlagen profitiert vor allem sein Teamkollege mit der Nummer 11, der auch in diesem Spiel wieder eine beachtliche Torquote vorweisen kann. Die beiden funktionieren nicht nur auf dem Eis harmonisch zusammen: Vorlagengeber Wladimir Potanin und Torjäger Wladimir Putin sind enge Vertraute. Ihre Mannschaft nennt sich „Legenden des Eishockey“, sie besteht aus Alt-Stars der russischen Profiliga und Angehörigen des engeren Machtzirkels. Potanin ist nicht nur Spieler, sondern zugleich Vorsitzender des Kuratoriums der sogenannten Nachthockeyliga in der sich die Legenden des Eishockey mit anderen Mannschaften messen. Sein Konzern Norilsk Nickel finanziert die Liga; beim jährlichen Gala-Match auf dem Roten Platz prangt auf beiden Trikotärmeln das Firmenlogo als einziger Sponsor.

Norilsk Nickel ist für den europäischen Handel so wichtig, dass die EU – anders als Großbritannien und die USA – noch davor zurückschreckt, Sanktionen gegen den Import von Nickel und andere durch das Unternehmen verarbeitete Metalle wie Palladium auszusprechen. Sie sind essentiell für die Autoindustrie. Auch Wladimir Potanin ist bisher ungestraft davon gekommen – obwohl er einer der größten Profiteure des Angriffskriegs gegen die Ukraine ist.

Die 1990er Jahre haben sich als Krisenjahrzehnt in das kollektive Gedächtnis der russischen Gesellschaft eingeprägt. In Moskau bemühte sich die Zentralregierung, den Übergang von der Plan- in die Marktwirtschaft zu schaffen. 

Um den Staatsbankrott zu vermeiden, wandte sich die Regierung 1995 für ein Darlehen an den Miteigentümer der ONEXIM-Bank, Wladimir Potanin. Dieser gewährte den Kredit und verlangte als Gegenzug ein Treffen mit Anatoli Tschubais, dem stellvertretenden Premierminister und Kopf der russischen Privatisierungskampagne. Potanin, der schon seit Längerem ein Auge auf das staatliche Rohstoffunternehmen Norilsk Nickel geworfen hatte, unterbreitete Tschubais einen Plan: Private Banken geben der Regierung Kredite und erhalten als Sicherheit Anteile an Staatsunternehmen. Wenn der Staat das Geld nicht zurückzahlen kann, können die Banken ihre Anteile versteigern.1 Das sogenannte „Aktien für Kredite“-Programm gilt als Geburtsstunde der russischen Oligarchie. Es erlaubte dem Staat, kurzfristig und risikoarm Einnahmen zu generieren – ohne Rücksicht darauf, was der Ausverkauf der wichtigsten Unternehmen in kritischen Sektoren wie Telekommunikation, Energie und Bergbau für die Zukunft des Landes bedeutete.2 Von dem schnellen Geld profitierten auch Präsident Boris Jelzin und sein Premierminister, Viktor Tschernomyrdin, die aufgrund der misslichen wirtschaftlichen Lage um ihr politisches Überleben kämpften. Jelzin ging dank massiver Unterstützung durch die Oligarchen und ihre Medien 1996 als Sieger aus der Präsidentschaftswahl hervor. Dafür nahm er eine große Abhängigkeit von den neuen, großen Business-Akteuren in Kauf. 

Geld und Macht

Auch Potanin gewann: Die ONEXIM-Bank erhielt im Herbst 1995 Mehrheitsanteile an Norilsk Nickel, das auch Gold, Platin und andere Edel- und Buntmetalle fördert. Zudem erhielt seine Unternehmensgruppe weitere Anteile an Konzernen in der Ölförderung und im Schiffbau. Im August 1996 machte Jelzin den damals 35-jährigen Unternehmer zum stellvertretenden Premierminister. Potanin blieb allerdings nicht einmal ein Jahr auf diesem Posten.
 

Seine persönliche Bindung zu Putin pflegt Wladimir Potanin über den Sport / Foto © Sergei Fadeichev/ITAR-TASS/imago-images

Seinen steilen Aufstieg ins Zentrum der Macht verdankte er zunächst den Kontakten seines Vaters. Potanins einflussreiche Moskauer Familie – die Mutter Ärztin, der Vater Diplomat und im Außenhandel tätig – ermöglichte ihm schon früh Zugang zu wichtigen politischen Akteuren. Nach dem Wirtschaftsstudium am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO), das als Kaderschmiede für das sowjetische Außenministerium galt, arbeitete der 1961 geborene Potanin bei Sojuzpromexport, der Außenhandelsorganisation des sowjetischen Handelsministeriums. Er entwickelte früh ein Gespür für wirtschaftliche Trends: Bereits 1990 legte er den Grundstein für seine Unternehmensgruppe Interros, die in den folgenden Jahren schnell in den neu entstehenden Finanzmarkt expandierte. 

Eine Gruppe einflussreicher Bankiers, zu denen auch Potanin gehöre, erhielt 1996 den Spitznamen Semibankirschtschina (dt. „Sieben Bankiers“). Seine Beziehungen halfen Potanin, sich 1997 gegen die Oligarchen Wladimir Gussinski und Boris Beresowski im Wettstreit um den Kommunikationskonzern Svyazinvest durchzusetzen. Mehrfach ging er ohne Verurteilung aus Gerichtsverfahren wegen Betrugs und Veruntreuung von Staatsgeldern hervor. 1997 leitete die Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Potanin ein, weil in seiner Zeit als Vizepremier Mittel in Höhe von 237 Millionen Dollar aus der Staatskasse verschwunden waren. Das Geld war für den Bau von Kampfjets vorgesehen, die anschließend an Indien verkauft werden sollten. Es versickerte aber auf dem Weg zum Hersteller in undurchsichtigen Transaktionen, an denen Potanins ONEXIM-Bank beteiligt war. Die Ermittlungen blieben ohne Ergebnis. 

2007 trennte sich Potanin von seinem langjährigen Geschäftspartner Michail Prochorow, nachdem dieser ins Visier der französischen Justiz geraten war. Auf Druck des Kreml sollte Prochorow seine Anteile an Norilsk Nickel verkaufen. Weil Prochorow und Potanin sich auf keinen Übernahme-Deal einigen konnten, stieg der Aluminiumriese RUSAL des Oligarchen Oleg Deripaska in den Konzern ein.3 

Urlaub mit Wladimir Putin

Wladimir Putins Einzug in den Kreml beendete die Ära der Semibankirschtschina. Der neue Präsident versprach, das Kräfteverhältnis zwischen Privatwirtschaft und Staat zugunsten des Staates zu korrigieren sowie die Oligarchen unter Kontrolle zu bringen. Er sicherte zu, die Ergebnisse der Privatisierung nicht infrage zu stellen, solange die Unternehmer ihrerseits anerkennen, dass das Machtzentrum wieder im Kreml liegen werde. Mehrere politisch motivierte Gerichtsverfahren Anfang der 2000er Jahre verliehen Putins Worten Gewicht. Boris Beresowski etwa musste seine Anteile an Aeroflot und Sibneft an die Konkurrenz verkaufen, nachdem seine Fernsehsender und Zeitungen kritisch über den Tschetschenienkrieg und das Vorgehen der Regierung beim Untergang des U-Bootes Kursk berichtet hatten. Wladimir Gussinski musste seine Most-Medienholding an Gazprom verkaufen und floh ins Exil nach Israel, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Boris Beresowski beantragte Asyl in Großbritannien, 2013 fanden ihn Angestellte tot im Bad seines Hauses in Ascot. Michail Chodorkowskis Erdölkonzern YUKOS wurde zerschlagen, er selbst verbrachte zehn Jahre im Straflager, bis Putin ihn 2013 ausreisen ließ. 

Wladimir Potanin aber blieb. Nachdem er die turbulenten Umverteilungsprozesse der 1990er mitgestaltet hatte, musste er sich mit dem neuen Präsidenten gut stellen. Er engagierte sich, ohne das Regime herauszufordern, beispielsweise als Mitglied im Rat für Wettbewerbsfähigkeit und Unternehmertum, der die russische Regierung bis zu seiner Auflösung im Jahr 2019 beriet. Seine persönliche Bindung zu Putin pflegt Potanin über den Sport, beim Eishockey oder beim Skifahren. Bei einem gemeinsamen Urlaub in Österreich sei ihnen die Idee für ein Luxus-Skiresort in Sotschi gekommen, behauptete Potanin in einem Interview mit der BBC.4 Als die Kurstadt im Westkaukasus die Zusage erhielt, 2014 die Olympischen Winterspiele auszutragen, finanzierte Potanins Unternehmensgruppe Interros das Skigebiet Rosa Chutor. Für Putin waren die Olympischen Spiele ein Prestigeprojekt, bei dem er keine Kosten scheute. Er verpflichtete Kreml-nahe Oligarchen, in Objekte zu investieren, die sich wirtschaftlich nicht rechneten. Dafür wurde toleriert, dass die Investoren sich großzügig am bereitgestellten föderalen Budget bedienten. Die Kosten vervierfachten sich und die Winterspiele in Sotschi wurden zu den bis dato teuersten Spielen in der Geschichte.

Erneuter Krisen-Profiteur

Angewiesen wäre Potanin auf solche zusätzliche Einnahmen eigentlich nicht: Forbes schätzte sein Vermögen im Jahr 2022 auf 17,3 Milliarden US-Dollar. Schon 2018 nannte der CAATSA-Report des US-Finanzministeriums zur Vorbereitung möglicher Sanktionen Potanin als eine von 210 Personen, die eine tragende Rolle im System Putin spielen.5 Bis heute ist er nur von den USA, Kanada und Großbritannien sanktioniert. Obwohl Potanin zu den größten Profiteuren des Angriffskriegs in der Ukraine gehört, sind Geschäfte mit dem „Nickel-König“ für die EU offenbar alternativlos.

Er und andere Oligarchen verzeichneten 2022 aufgrund der Sanktionen zwar zunächst deutliche Verluste. Doch 2023 bezifferte Forbes sein Vermögen bereits auf 23,7 Milliarden US-Dollar. Kaum ein Milliardär äußerte sich bisher kritisch zum Krieg, auch wenn einige Russland stillschweigend verließen. Eine Ausnahme bildet der Gründer der Tinkoff Bank, Oleg Tinkow, der sich wegen einer Krebserkrankung allerdings seit Längerem im Ausland aufhält. Er kritisierte öffentlich das „Massaker in der Ukraine“ und die Entscheidungen der russischen Regierung.6 Im Oktober 2022 gab er die russische Staatsbürgerschaft auf. Angesichts der Drohung, die Tinkoff Bank zu verstaatlichen, verkaufte er seine Anteile nach eigenen Aussagen „für einen Centbetrag“. Der Käufer: Wladimir Potanin. Medienberichten zufolge soll er für das Aktienpaket mit einem Börsenwert von 3,1 Milliarden US-Dollar lediglich 230 Millionen US-Dollar bezahlt haben.7

Echte Schnäppchen machte Potanin auch mit dem Erwerb von Anteilen westlicher Unternehmen, die nach Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine ihr Russland-Geschäft aufgaben – aus Überzeugung, aus Angst vor schlechter PR oder aufgrund des schwierigen Geschäftsumfelds in einem Land, das zunehmend totalitäre Züge annimmt. Auch wenn nicht alle Firmen ihre Ankündigungen tatsächlich umsetzen,8 ist zum Beispiel das Fehlen beliebter Konsummarken wie Ikea, McDonald’s oder Coca Cola deutlich im Alltagsleben der russischen Bevölkerung spürbar. 

Die russische Regierung bemüht sich, die negativen Konsequenzen dieser Abwanderung abzufedern. Schon am 6. März 2022 führte sie strikte Regeln ein, um „die finanzielle Stabilität des Landes unter den Bedingungen ausländischen Sanktionsdrucks sicherzustellen“.9 Will ein Unternehmen aus den sogenannten „unfreundlichen“, sprich: westlichen, Staaten Unternehmensanteile verkaufen, so muss eine zu diesem Zweck eingerichtete Regierungskommission den Deal vorher prüfen. Die erforderliche Genehmigung erfolgt nur, wenn der Verkauf mit einem Preisnachlass von mindestens 50 Prozent für die russischen Käufer einhergeht. 2023 verschärfte die Regierung den vorgeschriebenen Preisnachlass auf bis zu 90 Prozent. Unternehmen, die dennoch entschlossen sind, ihren russischen Betrieb aufzugeben, erhalten somit nur noch einen symbolischen Preis.

Für Potanin ist das ein gutes Geschäft: Vor Tinkoff kaufte seine Unternehmensgruppe Interros schon im Frühjahr 2022 die Rosbank von der französischen Société Générale. Potanin gehört damit zu den größten Käufern im neuerlichen Umwälzungsprozess10, den der Kreml mit seinem Angriff auf die Ukraine ausgelöst hat. 


1.novayagazeta.ru: «Davaĭte my čem-nibud' poupravljaem» 
2.Yakovlev, Andrei (2006): The evolution of business – state interaction in Russia: From state capture to business capture? In: Europe-Asia Studies 58-7, S. 1033-1056 
3.economist.com: The Meaning of Norilsk 
4.bbc.com: Putin’s Olympic steamroller in Sochi 
5.U.S. Department of The Treasury: Treasury Releases CAATSA Reports, Including on Senior Foreign Political Figures and Oligarchs in the Russian Federation 
6.vDud’ (YouTube): Tin'kov – bolezn' i vojna 
7.rbc.ru: Tin'kov zajavil, čto ego zastavili prodat' bank 
8.b4ukraine.org: The lucrative business of Staying: Corporate Foreign Enablers of the Kremlin’s War 
9.government.ru: Pravitel'stvo utverdilo pravila sdelok s inostrannymi kompanijami iz nedružestvennych Rossii 
10.novayagazeta.eu: «Matuška, neuželi my ėto poglotim?» 
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