Im März 2019 hatte Alexej Miller, der Vorstandsvorsitzende des Gasunternehmens Gazprom, gute Nachrichten zu vermelden. Bei einem Treffen mit Wladimir Putin gab Miller bekannt, dass sein Unternehmen wieder einen Rekord gebrochen hat: Gazprom exportierte 2018 mehr als 200 Milliarden Kubikmeter Erdgas, rund vier Prozent mehr als im Jahr zuvor.
Mehr als die Hälfte davon ging nach Westeuropa. Deutschland ist mit über 58 Milliarden Kubikmeter Gazproms bester Kunde. Und der weltweit größte Erdgas-Exporteur geht davon aus, dass westeuropäische Länder künftig sogar noch mehr Gas aus Russland importieren werden: Schließlich wollen manche westeuropäische Staaten aus dem Atom- und Kohlestrom aussteigen, und die Gasproduktion in den Niederlanden und Großbritannien wird in den nächsten Jahren noch mehr nachlassen.
Kann diese optimistische Rechnung aufgehen?
Neue Gasfelder und Pipelines
Um die steigende Nachfrage zu befriedigen, investiert Gazprom in erster Linie in die neue Pipeline-Infrastruktur. So setzte es in den letzten Jahren neue Gaspipeline-Projekte wie Nord Stream 2 (NS2) und Turkish Stream in Gang, beide Rohrleitungen sollten ursprünglich Ende 2019 fertiggestellt werden. NS2 ist international höchst umstritten: Die Pipeline von Russland nach Deutschland werde unter anderem Europas Abhängigkeit von Russland erhöhen, die EU-Diversifizierungspolitik und das Ziel eines wettbewerbsfähigen und transparenten EU-Gasmarkts untergraben, so die Argumente der Kritiker.
Tatsächlich erfüllt NS2 bislang keine der Anforderungen der EU für den Gasbinnenmarkt: So ist die Pipeline eigentumsrechtlich nicht entflechtet, Netz und Vertrieb sollen vielmehr aus einer Hand kommen. Um diese Hürde zu überwinden, müsste Gazprom zunächst einen Pipeline-Betreiber schaffen, der auch von der Bundesnetzagentur als unabhängig (von Gazprom) eingestuft werden muss. Außerdem würde auch die Europäische Kommission die Einhaltung der EU-Vorschriften überwachen: unter anderem, ob Gazprom den Zugang zur Pipeline für Dritte garantiert und transparent arbeitet, insbesondere im Hinblick auf die Versorgungssicherheit.
Angesichts dieser Hürden bereitet sich Gazprom auf ein Worst-Case-Szenario vor: Dieses sieht eine mögliche Verzögerung der Inbetriebnahme vor, aber auch alternative Routen.
Dazu könnte auch TurkStream 2 gehören: Gazprom hält es für möglich, parallel zum ersten Strang eine zusätzliche 930 Kilometer lange Rohrleitung zu bauen.1 Sie soll am Grund des Schwarzen Meers jährlich 32 Milliarden Kubikmeter Gas transportieren. Neben türkischen Verbrauchern könnte sie auch die EU-Länder Süd- und Südosteuropas erreichen. Dabei bleibt es allerdings fraglich, ob das Projekt tatsächlich mit den EU-Richtlinien für den Gasbinnenmarkt vereinbar ist.
Neben dem Ausbau der Infrastruktur geht ein großer Teil der Gazprom-Investitionen in neue Erdgasfelder und in Flüssigerdgas (LNG)-Technik. So erschließt das Unternehmen derzeit Förderstätten auf der Halbinsel Jamal und auf dem Arktis-Schelf. Um diese Felder an das über 170.000 Kilometer lange Transportnetz in Russland anzuschließen, zieht Gazprom auch Transportkorridore im Norden und Fernen Osten des Landes.
Im Fernen Osten etwa plant und baut Gazprom eine Infrastruktur, die die Gasfelder in West- und Nordsibirien untereinander und mit der Sila Sibiri verbinden soll. Gestartet als „das größte Bauprojekt der Welt“, soll diese Pipeline ab Dezember 2019 Gas nach China pumpen und damit Russlands Abhängigkeit vom Westen verringern. In der Schublade ist außerdem noch der Plan, Sila Sibiri bis nach Chabarowsk zu verlängern, von wo Erdgas anschließend zu Gasverflüssigungsanlagen in Wladiwostok und auf der Pazifikinsel Sachalin transportiert werden soll. Während der Bau einer Verflüssigungsanlage in Wladiwostok erst für 2020 geplant ist, sind die Kapazitäten auf Sachalin allerdings noch viel zu klein, um LNG wie geplant exportieren zu können.
Gasifizierung des Landes
Doch es wird keine leichte Aufgabe für Gazprom sein, seine Gasexporte nach Europa in Höhe von 200 Milliarden Kubikmeter Erdgas in den kommenden Jahren zu halten, geschweige denn zu erhöhen. Dafür gibt es mehrere kleinere und ein großes Problem:
Zu den vergleichsweise kleineren gehört, dass das Unternehmen in den vergangenen Jahren einen Produktionsrückgang verzeichnete, der durch verschiedene Faktoren verursacht wurde: durch natürliche Erschöpfung der Vorkommen in West- und Ostsibirien, aber auch durch verspätete Einführung neuer Produktionstechnologien und damit hohe Produktionskosten. Hinzu kommen interne strukturelle und finanzielle Probleme des Unternehmens, neue Konkurrenten im Inland, sowie Investitionsstau wegen westlicher Sanktionen, die auch den Zugang zu Krediten erschweren.
Außerdem erfordern staatliche Vorgaben hohe Investitionen: Gazprom wird seit 2005 vom Kreml in die Pflicht genommen, Russland zu gasifizieren. Laut offiziellen Angaben von 2018 sind in russischen Städten rund 68 Prozent der Haushalte an das Gasnetz angeschlossen, in ländlichen Gebieten sind es rund 59 Prozent. In den restlichen Haushalten wird immer noch mit Holz und Kohle geheizt – im Land mit den größten Erdgasressourcen der Welt.2 Die Gasifizierung Russlands geht sehr schleppend voran, auch weil Gazprom nicht die nötigen Investitionen aufbringen kann.
Nord Stream 2
Auch mit dem Prestigeprojekt Nord Stream 2 (NS2) gibt es anhaltende Probleme. Gegenwärtig exportiert Gazprom knapp die Hälfte seines Gases nach Europa durch die Ukraine. Dabei zahlt das Unternehmen rund zwei Milliarden US-Dollar jährlich an Transitgebühren. Der Liefervertrag zwischen Russland und der Ukraine läuft Ende 2019 aus. Gazprom hofft, durch die Inbetriebnahme von NS2 einen Großteil der Transitgebühren zu sparen.
Von Anfang an sorgte das Projekt allerdings für Unstimmigkeiten in der EU. Die USA haben bereits mit Sanktionen gedroht und die gesetzliche Grundlage dafür ausgearbeitet. Und Dänemark hat zunächst so lange die Entscheidung über den Verlauf der Pipeline in seinem Hoheitsgewässer hinausgezögert, dass Gazprom schon im Juni 2019 die Reißleine zog und eine Alternativroute beantragte.3 Schließlich erteilte Dänemark im Oktober die Genehmigung für eine andere Route. Dadurch wird die Pipeline nun teurer, und es bleibt fraglich, ob sie angesichts der erwarteten LNG-Schwemme sowie der Klimaschutz- und Energiesicherheitspolitik in der EU jemals rentabel sein wird.
Die Rentabilitätsfrage stellt sich ebenfalls bei dem geplanten neuen Strang TurkStream 2, und Sila Sibiri soll Expertenmeinungen zufolge 30 Jahre brauchen, um die Kosten für den Bau wieder einzuspielen.4
Damit Gazprom den Exportrekord von 200 Milliarden Kubikmeter Erdgas halten kann, muss schließlich auch das Wetter mitspielen: Der Winter muss kalt und der Sommer heiß sein. Wegen warmer Temperaturen in Westeuropa erlebte Gazprom Ende 2018 einen Nachfragerückgang.
Doch das alles sind kleine Probleme, im Vergleich zum eigentlichen Problem des Unternehmens. Und das ist das verflüssigte Erdgas, LNG.
LNG: Größter Gazprom-Konkurrent
Laut Einschätzung von Rohstoffexperten kann LNG in den nächsten Jahren zu einem ernsthaften Konkurrenzprodukt für konventionelles Pipeline-Gas werden.
Seit 2015 ist ein Rückgang der Gaspreise auf den Weltmärkten zu beobachten, verursacht durch ein Überangebot an LNG. Im Jahr 2018 stieg die weltweite LNG-Produktion um 22 Millionen Tonnen, 2019 soll sich dieses Volumen verdoppeln.
In erster Linie handelt es sich dabei um LNG aus den USA. Schon von Juli 2018 bis Mai 2019 steigerte das Land seine LNG-Exporte in die EU um 272 Prozent.5 Laut Internationaler Energieagentur werden die USA bis 2024 Katar und Australien überholen und LNG-Exportweltmeister werden.6
Die Überschüsse auf dem US-Markt sowie weitere massive Investitionen in den Sektor werden dazu beitragen, dass die Bedeutung von starren Pipeline-Systemen in den nächsten Jahren abnimmt.
Und so kann die Entwicklung des LNG-Marktes dem Unternehmen, das in den vergangenen Jahren große Summen in Pipelines investierte, einen Strich durch die Rechnung machen. So gab ein Gazprom-Vertreter 2019 bekannt, dass LNG für Gazprom schon jetzt als größter Konkurrent gilt.7 Zwar wird das Pipeline-Gas für die Abnehmer zumindest kurzfristig kostengünstiger bleiben, die Diversifizierungs-Verpflichtungen der westeuropäischen Kunden von Gazprom werden aber dazu führen, dass die Marktanteile des Unternehmens in den EU-Ländern sinken werden.
Um die drohenden Verluste abzufedern, bleibt Gazprom nichts anderes übrig, als seine Präsenz auf den LNG-Märkten auszubauen und neue Abnehmer zu suchen. 2017 exportierte das Unternehmen rund 3,4 Millionen Tonnen LNG – ein Bruchteil der knapp 80 Millionen Tonnen, die der derzeitige LNG-Marktführer Katar exportiert.
Hauptabnehmer vom russischen LNG sind derzeit China, Indien und Spanien. Um den Kundenstamm auszuweiten, baut Gazprom unter anderem eine Verflüssigungsanlage in der Oblast Leningrad. Diese soll 2024 volle Kapazität entwickeln und jährlich 13 Millionen Tonnen LNG zum Export bereitstellen.
Mit dieser Exportmenge wird Gazprom 2024 allerdings zu den Leichtgewichten auf dem LNG-Markt gehören: Weitaus größere Investitionen, die beispielsweise die US-amerikanischen oder australischen Unternehmen tätigen, werden laut Schätzungen dazu beitragen, dass der weltweite Marktanteil von LNG aus Russland 2024 ähnlich gering bleiben wird wie heute.8
Hinzu kommen die in den letzten Jahren umgesetzten Liberalisierungsmaßnahmen auf dem russischen Gasmarkt. Diese haben die Monopolposition von Gazprom faktisch gebrochen: Der Marktanteil von unabhängigen russischen Gasanbietern auf dem Binnenmarkt ist dabei auf über 30 Prozent gestiegen.9 Darüber hinaus wurde 2013 Gazproms Exportmonopol im LNG-Bereich abgeschafft. Dies bewirkt einen intensiveren Wettbewerb zwischen den Gaslieferanten und damit eine erhöhte Gesamtproduktion von Erdgas in Russland. Laut Prognosen soll diese auch in den nächsten Jahren steigen, was zu einem Preisrückgang führen könnte. Dieser dürfte Gazprom aber am stärksten zusetzen, nicht zuletzt deshalb, weil Gazprom Exportzölle auf LNG zahlen muss, während unabhängige LNG-Produzenten in Russland davon befreit sind.
Dank neuer Technologien und eines Angebotsüberschusses wird LNG in absehbarer Zeit billiger. Für die folgenden Jahre plant die EU außerdem einen massiven Ausbau des LNG-Sektors. Investitionen in Milliardenhöhe werden in neue LNG-Terminals anderer LNG-Projekte fließen. Dies wird auch den Abnehmern in der EU die Entscheidung erleichtern, den politischen Vorgaben zu folgen und ihre Bezugsquellen zu diversifizieren.
Gazprom ist für diese Herausforderung nicht gewappnet, im Konkurrenzkampf mit LNG-Anbietern wird das Unternehmen mittelfristig schlechtere Karten haben.
Noch prosperiert Gazprom vor allem wegen der langjährigen Lieferverträge mit den westeuropäischen Abnehmern: 2019 feierte die Aktie ihren Fünfjahreshoch, das Unternehmen schüttete Rekorddividenden aus. Die Verträge werden in den nächsten Jahren allerdings nach und nach auslaufen. Und so spricht vieles dafür, dass die Glanzzeiten von Gazprom dann vorbei sein werden.