Bereits Ende Januar 2024 feierte die russische Neuverfilmung des Romans Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow Premiere in Russlands Kinos. Dort kam der Film beim Publikum gut an, manche Moskauer Kinos zeigten ihn quasi in Dauerschleife. Michail Lockschin – ein in den USA geborener und auch in Russland aufgewachsener Regisseur – hatte den Film 2021 in Moskau gedreht, gefördert unter anderem mit staatlichen russischen Geldern. Doch im Februar 2022 startete Russland den vollumfänglichen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Bulgakows vielschichtiger Roman spießt mit den Mitteln der Satire Stalins Zensur- und Denunziationssystem auf, der Autor wurde selbst Opfer der Repressionen, das Buch konnte vollständig erst 1973 in der Sowjetunion erscheinen. Genug Stoff also, um in der Neuverfilmung auch potenzielle Kritik am System Putin unterzubringen. Und entsprechend traten nationalistische Autoren und sogenannte Z-Blogger eine Denunziationskampagne gegen Lockschin los, weil der den Krieg gegen die Ukraine öffentlich verurteilt hatte.
Seit Anfang Mai 2025 läuft der Film in deutscher Fassung in hiesigen Kinos. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir diesen Text von Sabina Brilo vom Februar 2024 für das Online-Portal Media_IQ. Vor dem Hintergrund der monströsen Repressionen in ihrer Heimat und der drohenden Kriegsgefahr fragt sich die belarussische Autorin, ob diese Neuverfilmung ihr kritisches Potenzial tatsächlich ausgeschöpft hat.
Die deutsche Version von Der Meister und Margarita läuft seit Mai 2025 im Kino. Foto © Capelight Pictures OHG
Als die russische Neuverfilmung von Der Meister und Margarita (ru: Master i Margarita) auf Social Media große Wellen schlug, fischte ich gerade in anderen Gewässern.
Schon seit Monaten lese ich die Erinnerungen von Menschen, die die Mitte des 20. Jahrhunderts überlebt haben: die Aufzeichnungen eines Lagerarztes, dann Erinnerungen einer deutschen Jüdin, der es gelang, im nationalsozialistischen Berlin zu überleben, und jetzt gerade die detaillierte Lagerbiografie einer Französin, die der Teufel geritten haben muss, im Paris der 1920er Jahre einen russischen Botschaftsmitarbeiter zu heiraten: Andrée Sentaurens kam 1930 zusammen mit ihrem Mann und dem kleinen Sohn nach Moskau – und geriet dort für ein Vierteljahrhundert in die Fänge staatlicher Tyrannei. Am Anfang Hunger, Angst, Unverständnis und die Unmöglichkeit, dem von allen Seiten nahenden Alptraum zu entgehen, dann schließlich siebzehn Jahre in Stalins Lagern, dem wohlbekannten Sewerodwinsk (damals Molotowsk) und seiner schrecklichen Umgebung.
Liest man die Memoiren von Überlebenden, dann kann man sich nicht losreißen, denn all das ist die Wahrheit. So war es. Parallel dazu lese und höre ich natürlich auch Nachrichten – aus der Heimat und nicht nur die. Es sind immer abstrusere, irrsinnigere, menschenfeindlichere Nachrichten, die man lieber nicht sehen und hören möchte, und doch muss man es, weil es die Wahrheit ist. So ist es. Menschen werden unschuldig festgenommen und in Lager und Gefängnisse gesteckt, Kinder bleiben ohne Eltern zurück, alte Menschen ohne ihre Söhne und Töchter. Die Staatsideologie ist zum höchsten Gut erklärt, das Leben und die Menschenwürde sind ihr vollkommen untergeordnet. In den Gefängnissen werden die Menschen isoliert, sogar der Kontakt zur Familie wird abgeschnitten. In den Gefängnissen wird getötet. Es ist heute so wie damals – weil zwar Zeit vergangen ist, aber wir, die Menschen, nichts geändert haben.
Mir ist nicht nach Premieren. Erstmal überleben.
Aus diesem Grund also – dem Nachempfinden und dem Mitempfinden mit der Gegenwart – war die Diskussion um den neuen Film Meister und Margarita an mir vorbeigezogen. Und als ich gefragt wurde: „Was denkst du darüber?“, winkte ich erst einmal ab. Mir ist nicht nach Premieren. Erstmal überleben. Eine Realität aushalten, in der meine Leute im Gefängnis sitzen, in der Emigration ausharren, ihr Leben riskieren und es verlieren. Eine Realität, in der Gefängnis und Krieg immer „normaler“ werden und bisher anscheinend niemand die Kraft hat, das zu ändern.
Doch dann überlegte ich: Wenn zum jetzigen Zeitpunkt in Russland Der Meister und Margarita verfilmt und gezeigt wird, muss das etwas zu bedeuten haben. Schon das künstlerische Statement der Neuverfilmung muss eine Bedeutung haben, denn Bulgakows Buch ist das eines Menschen, der, im Unterschied zu den Autoren und Autorinnen, die ich gerade gelesen habe, die Fänge der Staatstyrannei NICHT überlebt hat. Da beschloss ich, den Film anzuschauen und zu sagen, was ich über den neuen russischen Meister-und-Margarita denke.
Tatsächlich gehöre ich nicht zu denen, die Der Meister und Margarita als Erwachsene noch einmal gelesen haben. Für mich ist es ein Buch aus der frühen Jugend geblieben, und wenn ich mir vorstelle, in meinem Kopf gäbe es ein thematisch geordnetes Bücherregal, dann stünde Der Meister und Margarita irgendwo zwischen Die Kinder vom Arbat und den zwei Bänden von Ilf und Petrow [Zwölf Stühle und Das Goldene Kalb]. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich damals, vor mehr als dreißig Jahren, die Liebesgeschichte stark berührt hätte. Aber ich habe mir gemerkt, dass Pontius Pilatus (der anscheinend den Tod Jeschuas nicht herbeisehnte, ihn aber auch nicht begnadigte) ständig Kopfschmerzen hatte. Und ja, dieses Buch war es, in dem ich, als Kind der Sowjetunion, zum ersten Mal die Geschichte des Evangeliums las.
Ich will hervorheben: Ich las Der Meister und Margarita. ganz am Anfang der 1990er. Das waren, wenn auch hungrige, so doch Jahre der Freiheit. Ich empfand real meine Freiheit als Individuum, machte von ihr Gebrauch und nahm sie für mich an. Später erzog ich im Bewusstsein dieser Freiheit meinen Sohn. Jetzt ist alles anders, und das Buch habe ich nicht noch einmal gelesen. Dafür bin ich gerade fertig mit den schrecklichen, wahrhaftigen Memoiren der Französin Andrée Sentaurens. Und als ich beschloss, mir den neuen Der Meister und Margarita-Film anzuschauen, war ich aus irgendeinem Grund absolut überzeugt, dass in ihm ein lautes SOS ertönen müsse, aus dem jetzt im Wiederaufbau befindlichen, riesigen Konzentrationslager, gerichtet an jeden denkenden Menschen auf der Welt.
Ein lautes SOS müsste ertönen, gerichtet an jeden denkenden Menschen auf der Welt.
Leider sah und hörte ich in dem neuen Meisterwerk der russischen Filmkunst kein solches Signal. Ich sah einen glamourösen Film ohne Gefühl, ohne Schmerz, ohne Liebe. „Vor Kummer und Nöten bin ich eine Hexe geworden“, sagt Margarita, aber ich verstehe (sehe!) nicht, worin der Kummer dieser schönen Frau besteht. Ich dachte: Wie würde wohl Maryna Adamowitsch diese Worte wahrnehmen, die schon über ein Jahr nichts mehr von ihrem Ehemann Mikalaj Statkewitsch gehört hat und selbst in einer Falle lebt, die jeden Moment zuzuschnappen droht?
Natürlich, der Film bietet schon zarte Signale „für unsere Leute“. Zurechnungsfähige russische und belarussische Zuschauer registrieren sie:
„...indem, was noch kurz zuvor erlaubt war, heute schon verboten ist.“
„Es dreht sich um das Jetzt.“
„Bei uns im Studio verschwinden fast jeden Tag Leute, und keiner sagt etwas – jeder hat Angst.“
„Ich habe mich umgehört: Jeder steht unter Schock und du hast sehr viele Sympathisanten!“
Es ist ein russischer Film, gedreht noch vor dem Ausbruch des Terrors im Land, auf der Schwelle sozusagen. In Belarus war der Staatsterror derweil schon in vollem Gange. So wird – im Zeichen des Terrors – von den Tyrannen die „gemeinsame Geschichte“ wiedererrichtet. Und diejenigen, denen Lager droht, drehen (für die, denen Lager droht) einen Film, den sie auch fünf oder zehn Jahre früher hätten drehen können – hat ihnen die Kraft nicht gereicht, um SOS zu schreien, oder war es noch nicht schmerzhaft und schrecklich genug? Mal angenommen, es gäbe ihn dort, diesen Schrei – hätte die Welt ihn denn gesehen, hätte sie ihn gehört? Und wenn sie ihn gehört hätte, was hätte sie dann tun können? Die Welt, die noch mehr oder weniger in Wohlstand lebt, meint aus irgendeinem Grund, dass der Schrecken, den wir durchleben, sie nie treffen wird. Aber leider gibt es auf der Welt kein zivilisiertes Mittel gegen den Drachen, der erst die Menschen im eigenen Land frisst und dann die Grenzen überschreitet.
Ich habe den neuen Film also angeschaut. Ich zitiere noch einmal Margarita: „Wenn man den Autor nicht kränken will, heißt es gewöhnlich: Er hat große Arbeit geleistet.“ So denn, solange wir leben, arbeiten wir (besonders wenn völlig unklar ist, was wir tun sollen). Jetzt muss ich also Der Meister und Margarita noch einmal lesen – ein Buch, geschrieben von einem Menschen, dem es nicht gelang, die Jahre des sowjetischen Terrors zu überleben.