Folter, Säuberungen und Angst 

„Masked men are watching you“ / Foto © GazetaBY

Fünf Jahre nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen und Massenprotesten in Belarus verfolgt das Lukaschenko-Regime Andersdenkende weiter mit scharfen Repressionen, Menschen werden inhaftiert und aus dem Land getrieben.

Nicht wenige Belarussen, darunter auch ehemalige politische Gefangene, sagen: Wir leben nicht mehr nur unter brutalen Bedingungen, sondern unter einem Terror, der mit dem Jahr 1937 vergleichbar ist. Was ist dran an solchen Vergleichen? Und wie und warum verschärft das Regime die Strafmaßnahmen? Diese und andere Fragen beleuchten Menschenrechtsaktivisten im zweiten Teil der Publikation des Online-Portals Salidarnasc/GazetaBY, deren Übersetzung wir in Kooperation mit Voxeurop veröffentlichen.  


Viele Belarussen, darunter auch ehemalige politische Häftlinge, sagen: Wir leben nicht mehr in reaktionären Zeiten, sondern im Terror, vergleichbar mit dem Jahr 1937. Gleichzeitig halten viele diesen Vergleich für übertrieben: Immerhin wird in Belarus niemand aus politischen Gründen erschossen. Nach Ansicht des Juristen und Menschenrechtsaktivisten Sergej Ustinow von Prawowaja Iniziatiwa (dt. Rechtsinitiative) ist es nicht ganz korrekt, von einem „neuen Jahr 1937“ zu sprechen – allerdings keinesfalls aufgrund einer gewissen „Humanität“ des Lukaschenko-Regimes:

„Damals war, vor allem in der UdSSR, ein Menschenleben überhaupt nichts wert. Heute ist der Preis für ein Leben viel höher, erst recht in Europa, wo die Todesstrafe abgeschafft wurde. Belarus hat im Übrigen sehr lange die Idee verfolgt, ebenfalls die Todesstrafe abzuschaffen. Auch heute erregt dieses Thema viel Aufmerksamkeit: Immer, wenn bei uns ein Todesurteil vollstreckt wird, reagieren sofort Menschenrechtsorganisationen und die internationale Gemeinschaft. 

Wenn wir auf die Stalinzeit zurückblicken, so lauerten damals auf Schritt und Tritt Repressionen. Das heutige belarussische Regime hat ebenfalls vielfältige Möglichkeiten, aber auch das Interesse des Westens, der zivilisierten Welt, für die Menschenrechtslage ist riesig. Ungeachtet dessen, dass in Belarus unabhängige Medien und Menschenrechtsorganisationen zerschlagen wurden.  Und wohl oder übel achtet Lukaschenko auf diese Aufmerksamkeit, auch wegen der Sanktionen. Ich glaube, genau das hält ihn davon ab, totale Willkür walten zu lassen. Sonst hätten wir tatsächlich Repressionen wie zu Stalins Zeiten.“   

Auch nach der Freilassung werden Menschen drangsaliert 

„Ich finde diese Metapher vom ‚neuen 1937‘ auch zu stark“, stimmt die Juristin Swetlana Golownjowa vom Menschenrechtszentrum Wjasna ihrem Kollegen zu. „Aber ich verstehe, warum sie verwendet wird. Die Repressionen in Belarus werden tatsächlich nicht weniger, sie mutieren nur, nehmen andere Formen an.“ 

Sergej Ustinow merkt an, dass die politische Verfolgung heute im öffentlichen Raum nicht mehr so sichtbar sei: Die Silowiki hätten mit der Publikation von „Reuevideos“ aufgehört, und auf der Website des Obersten Gerichtshofs seien die Verhandlungstermine nicht mehr öffentlich einsehbar. Das bedeute aber nicht, dass das Ausmaß der politischen Verfolgung gesunken sei: „Die Repressionen sind nicht weniger geworden, und politische Häftlinge werden auch nicht besser behandelt. Wenn die Haftbedingungen angemessen wären, gäbe es in den Vollzugsanstalten nicht so viele Todesfälle (seit 2020 wissen wir von neun Todesfällen in Haft – Anm. d. Red.).  

Die Menschen werden heute genauso verhaftet wie früher. Noch dazu hat sich das Regime einen üblen Trick einfallen lassen: Sie setzen die Strafverfahren gegen Leute aus, nach denen gefahndet wird. Die Betroffenen fühlen sich sicher oder denken nicht mehr daran, aber sobald sie die Grenze passieren, werden sie geschnappt, und die Rädchen drehen sich wieder weiter.“        

Swetlana Golownjowa fügt hinzu: „Auch nach ihrer Freilassung bleiben die Menschen unter präventiver Aufsicht, sie wissen, dass sie beobachtet werden und müssen sich selbst zensieren. Man behandelt sie wie Menschen zweiter Klasse, hindert sie sogar daran zu erfüllen, was von ihnen verlangt wird. ‚Politischen‘ gibt keiner einen Job, ein Bankkonto oder eine Kreditkarte, sie dürfen ohne polizeiliche Genehmigung nicht einmal die Stadt verlassen.“  

Säuberungen, Folter und Angst vor Informationen 

Man darf auch nicht vergessen, dass die „Säuberungen“, also politisch motivierte Kündigungen, in allen Branchen weitergehen. Wie viele Belarussen „wegen der Politik“ ihre Arbeit, wie viele Studierende ihren Studienplatz verloren haben, lässt sich nicht genau sagen. Doch die Zahlen sind enorm, so viel ist klar. (Allein die Zahl der gekündigten Lehrer beträgt über 6000 – Anm. d. Red.)  

Swetlana Golownjowa vom Menschenrechtszentrum Wjasna / Foto © privat 

„Politisch motivierte Kündigungen lassen sich schwer nachweisen. Über solche Fälle wird oft nicht gesprochen, und der politische Subtext ist bei Weitem nicht immer offensichtlich“, erklärt Swetlana Golownjowa. „Das läuft ja nicht so: Aha, du trägst ein weiß-rot-weißes Armband, also entlassen wir dich. Oft werden einfach Verträge nicht verlängert, wird ‚Personal eingespart‘, auf einer einvernehmlichen Auflösung des Dienstverhältnisses bestanden oder Ähnliches. Hier eine politische Motivation zu beweisen, ist äußerst schwierig.“

Genauso wenig messbar ist das Ausmaß der Angst in der belarussischen Gesellschaft. Aus dem einfachen Grund, dass es für eine solche Messung keine Methoden gibt und man demnach auf indirekte Anhaltspunkte angewiesen ist, etwa die Zahl der Abmeldungen von Social-Media-Kanälen, die die Behörden als „extremistisch“ einstufen.

„Die allgemeine Tendenz ist, dass die Menschen Angst vor Informationen haben, die abweichende Meinungen oder regimekritische Aussagen enthalten könnten. Weil sie wissen, dass jederzeit ein x-beliebiger Silowik sie auf der Straße anhalten und ihr Handy kontrollieren kann. Wenn du dich weigerst, bringen sie dich auf ihre Polizeiwache, und da kriegen sie schon raus, was du gelikt und wen du abonniert hast“, sagt Sergej Ustinow.

„Geld zu spenden traut sich auch keiner mehr, das ist mittlerweile eine Straftat. Man hat Angst, öffentlich das Regime zu kritisieren oder Informationen zu liefern – wenn wir zum Beispiel an die Strafsache  Hajun – denken (der Menschenrechtsorganisation Wjasna sind mindestens 88 Angeklagte bekannt – Anm. d. Red.). Die Menschen in Belarus haben heute ganz grundsätzlich Angst vor den Silowiki. Diese allgegenwärtige Angst ist wohl tatsächlich mit der Stalinzeit vergleichbar.“  Zudem, fügt Ustinow hinzu, florieren Gepflogenheiten aus der Stalinzeit wie Denunziation und Spitzelwesen. Anlässe dafür gibt es viele: Eine Frau hat zu Hause (!) ukrainische Lieder gesungen, eine Familie Weihnachtsdekoration in den „falschen“ Farben aufgehängt.   

„Ich würde sagen, die Repressionen sind sogar noch brutaler geworden“, sagt Swetlana Glownjowa. „Seit 2020 dokumentiert Wjasna zusammen mit dem Internationalen Komitee zur Erforschung von Folter in Belarus Fälle von Folter und Gewalt. Fünf Jahre sind vergangen, und wir machen immer noch das gleiche. Nur die Geschichten der Betroffenen sehen heute anders aus. 

Zu Beginn der Proteste überschlugen sich die Ereignisse, man konnte in drei Tagen Haft schon drei Kreise der Hölle durchlaufen. Auch heute erzählen ehemalige Polithäftlinge von den Bedingungen in der Untersuchungshaft und in den Strafkolonien, von Folter und Gewalt, aber über längere Zeiträume hinweg. Die Rede ist weniger von Prügel als von Haftbedingungen, die im Laufe von drei, fünf oder noch mehr Jahren die körperliche und psychische Gesundheit nachhaltig schädigen. Vielen fallen die Zähne aus, die Sehkraft verschlechtert sich, es gibt eine Menge Probleme mit dem Magen, bei Frauen bleibt die Periode aus.  Solche Probleme haben auf den ersten Blick nicht direkt mit der Strafverfolgung zu tun, sind aber eine logische Folge davon und begleiten einen unter Umständen für den Rest seines Lebens, selbst wenn man Belarus verlässt.“   

Meines Erachtens führt uns das die Systematik vor Augen: Der Ausbruch von Gewalt war keine einmalige Reaktion auf die Proteste, sondern hat sich als Praxis etabliert. 

„Die Brutalität der Silowiki hatte schon 2020 System”, führt Glownjowa weiter aus. „Das war ja nicht irgendein Gefängniskommandant im Okrestina, der den Verstand verloren und Prügel angeordnet hat – nein, die Gewalt war immer und überall. Und die Berichte, die uns heute erreichen, zeugen davon, wie das Strafvollzugssystem aufgebaut ist, dass es schon in seiner Gestaltung inhuman ist und die Menschen nichts als traumatisiert.“  

Angehörige werden unter Druck gesetzt 

„Noch so eine ‚schöne Tradition‘ ist die Folter“, stellt Sergej Ustinow fest. „Heute wird nicht nur gefoltert wie unter Stalin, sondern die Propaganda sagt geradeheraus: Ja, wir foltern, aber wir foltern ja nur die Bösen, die Smahary, die Andersdenkenden. Von den Andersdenkenden zu den Nichtandersdenkenden ist es aber nur ein kleiner Schritt. Heute foltert der Silowik einen Regimegegner, morgen muss er vielleicht irgendein Verfahren abschließen – gefoltert hat er schon mal, wieso sollte er das nicht auch mit einem einfachen Mann tun, sagen wir mal, mit einem Fabrikarbeiter, der zur falschen Zeit am falschen Ort war? Der Grat ist sehr schmal.   

Der Menschenrechtsaktivist Sergej Ustinow von Prawowaja Iniziatiwa / Foto © privat 

Was noch? Erpressung. Mit den Angehörigen von verfolgten Belarussen als Geiseln. Sie werden entweder persönlich bedroht, oder Aktivisten werden mittels ihrer Angehörigen eingeschüchtert. So viele Menschen haben Angst davor, öffentlich über die Situation in Belarus zu sprechen, das ‚Gesicht‘ einer Menschenrechtsorganisation oder anderen Initiative zu sein, weil sie Familie in Belarus haben. Die drangsaliert werden kann, weil im Land rechtliche Willkür herrscht.  Ein weiterer Aspekt: So viele ‚Extremisten’ und ‚Terroristen’ wie heute gab es in Belarus noch nie – es sind Tausende. Ist das in gewisser Hinsicht der Stempel, der den heutigen ‚ Volksfeinden’ aufgedrückt wird? “ 

Swetlana Golownjowa meint. „Diese Zahlen (zum 10. Oktober 2025 galten in Belarus 5875 Personen als „Extremisten“, 1344 tauchen in den Listen des KGB als „Terroristen“ auf – Anm. d. Red.) haben eine etwas andere Aussage. Der Stempel ‚Volksfeind‘ bedeutete in der Sowjetunion den Verlust etlicher staatsbürgerlicher und politischer Rechte, die die Bevölkerung ansonsten hatte, auch wenn sie in der Stalinzeit in ihren Rechten und Freiheiten ohnehin stark eingeschränkt war. Die ‚Extremisten‘ und ‚Terroristen‘ des heutigen Belarus – das sind Tausende, die man nicht so leicht vom Rest der Gesellschaft isolieren, nicht so leicht mundtot machen kann. 

Diese verstärkten Maßnahmen zum Kampf gegen ‚Extremismus‘ – ich würde sagen, die gehören zum Instrumentarium der Unterdrückung absolut jeglicher Gedankenfreiheit. Da geht es ja nicht um irgendwelche ernsthaften Staatsfeinde, sondern in diese Kategorie fallen auch Leute, die sich den Behörden gegenüber auf irgendeine Weise illoyal gezeigt haben.          

Was die ‚Terroristen‘ betrifft, so enthält diese Liste allem Anschein nach einerseits Personen, von denen das Regime denkt, sie könnten ihm gefährlich werden, andererseits Personen, die solche gefährlichen Tätigkeiten unterstützen. Zum Beispiel werden immer wieder sehr viele Menschen wegen Spenden belangt. Da kommt so mancher ohne Anklage davon, aber wer an das Kalinouski-Regiment spendet, landet so gut wie immer hinter Gittern. Insofern kann man von diesen Listen die Strategien der Silowiki ablesen – welche Aktivitäten sie weiter einschränken wollen und welche sie für so kritisch halten, dass sie noch mehr Aufwand treiben, die Menschen dahinter zu erwischen.“   

Engagement soll unterbunden werden 

„Alles in Allem sind wir trotzdem nicht auf dem Niveau von 1937“, fasst Sergej Ustinow zusammen. „Aber ich wiederhole: nicht etwa, weil Lukaschenkos Regime so human wäre oder er vor Den Haag zurückschrecken würde, sondern weil die internationale Aufmerksamkeit für die Menschenrechte weitaus größer ist als vor hundert Jahren. Und weil Lukaschenko sich für seine Kinder ein gutes Leben wünscht, Handel mit dem Westen treiben und keine neuen Sanktionen will – deswegen laviert er so rum, lässt mal hier ein wenig nach, achtet mal da darauf, nicht allzu fest zu drücken. Obwohl er, wenn es nach ihm ginge, wahrscheinlich am liebsten alle erschießen würde. Oder wenigstens aus dem Land vertreiben, so wie das in der UdSSR üblich war. Letzteres macht er auch schon, wie wir sehen.“ 

„Ich füge noch hinzu, dass der Stalinismus, wie auch der Faschismus, sehr stark an eine Ideologie, die Militarisierung der Gesellschaft und strenge Hierarchien geknüpft war“, sagt die Juristin von Wjasna. „Das lässt sich über Belarus heute zum Glück nicht sagen, denn eine so durchgängige Indoktrinierung gibt es (womöglich: noch) nicht. Obwohl die Staatsmacht natürlich sehr viele Methoden anwendet, um den Menschen Angst einzujagen und sie nicht nur von politischem, sondern überhaupt von gesellschaftlichem Engagement abzuhalten. Darin liegt ein gewisses Widerstandspotenzial der Belarussen gegen das ganze Geschehen.“