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„Das ist mein Protest gegen die ‚Spezialoperation‘“

Den ganzen Januar über standen in vielen Städten in Russland die Menschen Schlange, um mit ihrer Unterschrift die Kandidatur von Boris Nadeshdin für die Präsidentschaftswahl zu unterstützen, die Mitte März abgehalten wird. Um als Präsidentschaftskandidat registriert zu werden, muss er bis Ende Januar 100.000 Unterschriften in verschiedenen russischen Regionen sammeln (2500 in je 40 Regionen). Nadeshdin war bis dahin nur wenigen bekannt. Seine Biografie lässt keine eindeutigen Schlüsse zu: Er gibt an, in den 1990er Jahren sowohl mit Boris Nemzow als auch mit Sergej Kirijenko zusammengearbeitet zu haben. Nemzow wurde zu einem der erbittertsten Gegner Putins, 2015 traf ihn eine Kugel vor den Mauern des Kreml. Kirijenko sitzt auf der anderen Seite dieser Mauer im Kreml: Als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung ist er heute verantwortlich für die Unterdrückung jeglicher Opposition. Ohne sein Einverständnis dürfte Nadeshdin wohl noch nicht einmal für die Kandidatur kandidieren. Dennoch haben in den vergangenen Wochen selbst Anhänger von Alexej Nawalny dazu aufgerufen, Nadeshdins Kandidatur zu unterstützen. Dass es dabei mehr um einen symbolischen Akt geht, mit dem die Menschen sich selbst und einander gegenseitig Mut machen, zeigt eine Umfrage, die das Portal Holod unter den Schlangestehenden durchgeführt hat.

Источник Holod
"Die Zukunft liegt um die Ecke": Wie hier in Sankt Petersburg standen in vielen russischen Städten Menschen Schlange, um mit ihrer Unterschrift die Kandidatur von Boris Nadeshdin für die Präsidentschaftswahl zu unterstützen / Foto © Artem Priakhin/imago-images

Anton, 30, Jekaterinburg
Ich denke, es geht vor allem darum, dass selbst nach der dunkelsten Nacht irgendwann der Morgen kommt. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Veränderungen viel schneller kommen werden, als es scheint – man muss nur daran glauben.

Leider gibt es in meinem Freundes- und Bekanntenkreis viele Menschen, die verzweifelt sind und nicht mehr an das Gute oder an die Zukunft glauben. Ich sehe ja auch überall das Negative und verstehe, warum die Menschen apathisch werden. Deshalb war ich ehrlich überrascht, als ich sah, dass Leute mehrere Stunden vor Nadeshdins Kandidatenbüro anstehen: Menschen, die nicht verzweifelt sind, die lächeln und an Veränderungen glauben. Das macht Hoffnung.

Für Millionen von Russen erlöschen mit jedem Tag weitere Funken der Hoffnung

Dimitri, 37, Ishewsk
Ich würde das nicht einmal als Schlange bezeichnen. Ich habe nicht länger angestanden als für einen Burger bei KFC. Außerdem, warum denken viele, dass es sowieso nichts bringen wird?

Für Millionen von Russen erlöschen mit jedem Tag weitere Funken der Hoffnung. Die Hoffnung auf Liebe, auf eine Karriere, die nicht auf Vitamin B beruht, auf ein Leben in Würde. [In Russland] sind die geblieben, die keine Möglichkeit haben, alles hinzuwerfen. Sie haben sich selbst dazu verdammt, Tag für Tag die Maske der Resignation zu tragen. Wir haben Freunde verloren, den Kontakt zueinander, unsere Heimat – und das, ohne dass wir ihre territorialen Grenzen verlassen hätten.

Die Unterschrift heute ist die einzige legale Möglichkeit, zu versuchen, etwas zu ändern und dem wunderbaren Russland der Zukunft wenigstens ein kleines Stückchen näher zu kommen.

Nach zwei Jahren Krieg nehme ich die Zs und Vs nicht mehr wahr und habe eine Selbstzensur entwickelt

Anna, 31, Jakutsk 
Nach zwei Jahren Krieg nehme ich die Zs und Vs nicht mehr wahr, ich habe mich damit abgefunden, dass es bestimmte Internet-Dienste nicht mehr gibt, und eine Selbstzensur entwickelt. Aber als ich davon hörte, dass Unterschriften für einen Kandidaten gesammelt werden, der sich gegen den Krieg ausspricht, bin ich sofort auf Nadeshdins Internetseite gegangen. Ich habe mich registriert und bin gleich hingegangen, als sein Büro geöffnet war. Warum?

Weil es für mich eine Möglichkeit ist, sicher und offen mein „Nein“ zu sagen. Nein zur Politik der Einschüchterung, nein zu menschenverachtenden Gesetzen. Schließlich bin ich russische Staatsbürgerin, ich gehöre dem Volk der Jakuten an – ich kann doch meine eigenen Ansichten haben? Ist es etwa ein Verbrechen, sie zu äußern? Seit Februar 2022 fühle ich mich gelähmt, hoffnungslos und apathisch. Ich hätte mir einfach nicht verziehen, wenn ich nicht meine Unterschrift abgegeben hätte. Selbst, wenn es nichts ändert, wenn alles umsonst ist, heißt es nicht, die Hoffnung stirbt zuletzt? Schon sein Name ist ja sprechend [„Nadeshda“ bedeutet auf Russisch Hoffnung dek].

Nadeshdin ist der einzige Kandidat, der offen für ein Ende der ‚militärischen Spezialoperation‘ eintritt

Wladimir, 49, Ishewsk
Boris Nadeshdin ist der einzige Kandidat, der offen für ein Ende der „militärischen Spezialoperation“ eintritt und die Politik des Präsidenten kritisiert. Allein die Art, wie er seine Unterschriften sammelt (mit Unterstützung von Freiwilligen in Hunderten von Städten in ganz Russland und nicht mit Hilfe des Staatsapparats), spricht dafür, dass bei Weitem nicht alle in Russland die aktuelle Politik unterstützen und eine große Nachfrage nach Veränderung besteht. Allein, persönlich dabei zu sein und echte, lebendige Menschen zu sehen, ist schon eine große Sache. Es ist sicher nur der Beginn eines langen Weges, aber wir müssen den ersten Schritt gehen.

Oleg, 21, Jekaterinburg
Ich bin mir natürlich der Aussichtslosigkeit bewusst, aber ich habe trotzdem beschlossen, meine Unterschrift abzugeben – es ist wenigstens eine winzige Chance auf Veränderungen. Ich bin froh, meinen kleinen Beitrag geleistet zu haben. Wenigstens habe ich nicht tatenlos zugesehen, sondern getan, was ich konnte – ich habe selbst unterschrieben und meinen Freunden davon erzählt.

Fürs Demonstrieren könnte ich von der Uni fliegen – und ich will nicht mein Leben ruinieren

Jaroslaw, 21, Nowosibirsk/Sankt Petersburg
Was in den letzten zwei Jahren in Russland passiert, gefällt mir ganz und gar nicht. Auf eine Demonstration zu gehen oder etwas Vergleichbares zu tun, das traue ich mich nicht. Dafür könnte ich von der Uni fliegen, und ich will nicht mein Leben ruinieren für etwas, das dem Land ohnehin nicht viel nützen wird. Aber meine Unterschrift für einen vernünftigen Kandidaten abzugeben, ist eine absolut sichere Form des Protests, und so habe ich wenigstens meinem inneren Unmut Ausdruck verliehen.

Vera, 63, Moskau
Ich verfolge seit vielen Jahren die Beiträge von Ekaterina Schulmann, und ich stimme ihr zu: Das Volk muss dem Staat seinen Willen zeigen (wie sie sagt, „es muss sich regen“). Jedes Volk hat die Anführer, die es verdient. Man muss jede noch so kleine Gelegenheit nutzen, die das Leben bietet.

Es stimmt optimistisch, dass nicht alle um einen herum nur von Hass und Krieg besessen sind

Wladimir, 41, Twer
Mir ist klar, dass es in Russland keine freien Wahlen gibt, dass für Putin so oder so seine 80 Prozent verkündet werden und Nadeshdin ein paar müde Prozent bekommt. Ich habe meine Unterschrift für ihn abgegeben, damit ich mir guten Gewissens sagen kann, dass ich überhaupt etwas in dieser ganzen Finsternis getan habe. Immerhin habe ich auch eine Menge vernünftiger, anständiger Leute gesehen, von denen es in Russland immer noch viele gibt. Es stimmt optimistisch, dass nicht alle um einen herum nur von Hass und Krieg besessen sind.

Regina, 35, Ufa
Wenn wir alle diese kleine Chance, etwas zu bewegen, wieder einmal verstreichen lassen, wer wird dann je etwas verändern? Das ist immerhin eine legale Form des Protests, man kommt nicht ins Gefängnis dafür. Ich rechne nicht damit, dass sie Nadeshdin zur Wahl zulassen werden. Das ist natürlich schade, aber trotzdem ist es besser, zu handeln, als tatenlos zuzusehen. Ich finde es inspirierend, dass ich nicht alleine damit bin und mein Umfeld so enthusiastisch reagiert hat. Also wird alles gut – wenn nicht jetzt, dann irgendwann.

Ich hätte für jeden unterschrieben, der halbwegs anständig wirkt. Hauptsache nicht Putin

Katerina, 35, Ishewsk
Ich habe in einem verbotenen sozialen Netzwerk Posts von Freunden gesehen, dass Unterschriften gesammelt werden. Ehrlich, ich habe mir Nadeshdins Seite nicht einmal genau angesehen, ich bin einfach hingegangen und habe unterschrieben. Außerdem habe ich meine Familie und Freunde dazu aufgerufen – ein Teil von ihnen hat mitgemacht.

Ich glaube, ich hätte für jeden unterschrieben, der halbwegs anständig wirkt. Hauptsache nicht Putin.

Anna, 47, Tomsk
Für mich ist das eine Form des Protests gegen die „Spezialoperation“, gegen die totale Zensur, gegen die aggressive Außenpolitik gegenüber zivilisierten Ländern, das Abgleiten unseres Landes in ein autoritäres Regime, gegen die Inflation. Also gegen all den Wahnsinn, der nach dem Beginn der „Spezialoperation“ folgte. Ich kann nur hoffen, dass Putin sieht, was die Menschen wirklich von ihm halten, und die Unterschriftensammlung wie ein Hebel wirken kann, der ihn dazu bringt, seine Innen- und Außenpolitik zu ändern. Das ist eine Wunschvorstellung, aber vielleicht wird Nadeshdin ja wirklich genügend Unterschriften sammeln und zur Wahl zugelassen werden?!

Während ich das schreibe, denke ich, was, wenn Sie gar nicht von Holod sind, sondern nur ein Provokateur? Und ich zensiere mich selbst. In solchen Zeiten leben wir! Die Menschen sind verängstigt. Das muss man auch ändern. Das darf nicht sein.

Mir gefällt hier alles außer der Regierung – ich habe keine Lust dazu, meine Heimat zu verlassen 

Jewgeni (Name geändert), 21, Ufa
Ich bin geboren und aufgewachsen unter ein und demselben Präsidenten. Von Jahr zu Jahr wird alles schlimmer. Vor meinen Augen verwandelt sich mein Land von einer Demokratie in einen autoritären Staat, eine Diktatur.

Deshalb halte ich es für meine Bürgerpflicht, meinem Land zu helfen. Mir gefällt hier alles außer der Regierung, und ich habe keine Lust dazu, meine Heimat zu verlassen und in Europa oder der USA meine Freiheit zu suchen. Weil ich glaube und hoffe, dass wir es hier irgendwann sogar noch besser haben könnten als dort.

Jewgenija (Name geändert), 33, Nowosibirsk
Für mich ist dies eine Gelegenheit für einen Appell der Anständigen und ein inneres Bedürfnis. Wie das Zwitschern der Spatzen im Winter: „Wir leben! Wir auch!“ Es geht mir schlecht, weil ich nicht offen sagen kann, was ich denke, und mich nicht ohne Risiko für mich und meine Familie über die Missstände empören kann. Ich halte es für nötig, alles zu tun, was nicht verboten ist, um mich selbst zu schützen. Das schließt auch das Wahlrecht ein. Vielleicht werde ich meinem Kind, wenn es irgendwann einmal Politikunterricht in der Schule hat, davon erzählen, wie wir unsere Unterschrift für Nadeshdin abgegeben haben – vielleicht wird das in zehn Jahren ein wichtiges Ereignis gewesen sein? 

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Wahlfälschungen in Russland

In einem Video aus Rostow am Don vom 18. September 2016 zeigt sich eine typische Szenerie einer zum Wahllokal umfunktionierten Schule. In diesem Fall hat man die Abstimmung in einer kleinen Sporthalle organisiert: Wo Kinder sonst die Sprossenwand erklimmen, baumeln rote, weiße und blaue Ballons; wo sonst der Basketball gedribbelt wird, werfen Bürger ihre Wahlzettel in transparente Urnen. Doch um 12:35 Uhr sieht es aus, als würden die Mitglieder der örtlichen Wahlkommission wieder zum Sport übergehen. Zwei Personen bauen sich – ähnlich der menschlichen Mauer beim Fußball – vor einer der Wahlurnen auf. Für andere Anwesende verdecken sie damit die Sicht auf eine weitere Mitarbeiterin, die in aller Seelenruhe zahlreiche Wahlzettel nacheinander in die Urne fallen lässt. Und das ist dann doch wieder ziemlich unsportlich.

Zeugen solcher Szenen stellen sich viele Fragen: Wie verbreitet sind solche Praktiken – und auf welche Weise wird noch gefälscht? Welchen Stellenwert haben Fälschungen heute in Russland? Und bedeuten sie, dass Wahlergebnisse insgesamt nicht belastbar sind? Der Reihe nach.

Einwurf, Karussell und Bächlein

Da sind zunächst allzu offensichtliche Fälschungen wie sie die Szene aus Rostow dokumentiert: Manipulationen des Ergebnisses am Wahltag durch Wähler oder Organisatoren – und manchmal von beiden Hand in Hand. Neben dem Einwurf zusätzlicher Stimmzettel durch Mitarbeiter der Wahlkommission ist das sogenannte „Karussell“ die bekannteste Methode. Dabei wird dem Wähler ein materieller Anreiz geboten, einen bereits ausgefüllten Stimmzettel in die Wahlurne zu stecken und dem Karussell-Organisator den eigenen unberührten Zettel zu übergeben. Dieser füllt den leeren Stimmzettel aus und übergibt ihn dem nächsten Wähler. Oft wird diese Methode mehrfach wiederholt, indem Wähler mit Bussen von einem Wahllokal zum anderen gefahren werden.1

Damit verwandt ist das Verfahren mit der harmlosen Bezeichnung „Cruise“ (Kreuzfahrt) oder „Bächlein“ (Rutschejok): Es basiert ebenfalls auf mehrfacher Abstimmung, allerdings mithilfe eines gefälschten Wahlscheins, der zur Abstimmung in einem beliebigen Wahllokal berechtigt. Beides funktioniert natürlich nur, wenn die Organisatoren eingeweiht sind und Personen in die Wahlkabinen vorlassen, die nicht im örtlichen Wählerregister eingetragen sind.

Videos wie etwa aus Rostow am Don weisen solche Praktiken nach. Allerdings fangen Kameras das nur selten so eindeutig ein. Doch durch einen Blick auf die offiziellen Daten kann Stimmeneinwurf auch nachträglich aufgespürt werden: Liegt die Wahlbeteiligung in einem Bezirk besonders hoch und zeigt sich dort zugleich eine starke Abweichung in der Stimmverteilung zugunsten einer Partei (meist: Einiges Russland), liegt die plausible Annahme nahe, dass dort tatsächlich Stimmen künstlich hinzugefügt wurden. Eine Studie zu den Parlamentswahlen 2011 zeigte zudem: Allein die Gegenwart unabhängiger Beobachter in einem Wahllokal reduzierte den Stimmanteil für Einiges Russland durchschnittlich um elf Prozentpunkte.2

Fortschritt hin zur repräsentativen Demokratie?

Vertraut man den Berichten der OSZE, haben während der 2000er Jahre diese direkten Manipulationen des Ergebnisses am Wahltag zugenommen. Hatten die internationalen Beobachter in den Jahren 1999 und 2000 noch kaum etwas am Wahl- und Auszählungsprozess auszusetzen, so häuften sich in den Jahren danach Berichte zu Mehrfachabstimmung und Verletzungen der vorgeschriebenen Verfahren.3 Im Jahr 2011 waren solche Berichte besonders zahlreich, und diesmal (auch weil sie sich durch soziale Medien so schnell und weit verbreiten konnten wie nie zuvor) trieben sie zigtausende Menschen auf die Straße.

Doch solche Manipulationen allein reichen nicht aus, um zu erklären, warum die OSZE die Wahlen von 1999 noch einen „Meilenstein in Russlands Fortschritt hin zur repräsentativen Demokratie“ nannte – um dann bis 2011 Wahl für Wahl kritischere Worte zu finden (die Dumawahl 2016 erhielt wieder bessere Noten). Hinzu kommen Verzerrungen des politischen Wettbewerbs im Vorfeld der Wahl, die im politischen System Russlands wesentlich bedeutender sind als direkte Wahlfälschungen. Sie alle haben zu tun mit der Nutzung der sogenannten Administrativen Ressource.

Verzerrungen des politischen Wettbewerbs

Erstens werden Kandidaten und Parteien bis heute zuweilen nicht zur Wahl zugelassen. Dies geschieht oft unter Berufung auf formale Fehler, zum Beispiel darauf, dass zu viele ihrer zur Registrierung eingereichten Unterstützerunterschriften ungültig seien. In einem gesetzlichen Umfeld, das ohnehin hohe Hürden für Newcomer setzt, erschwert dies die Teilnahme alternativer politischer Kräfte zusätzlich.

Zweitens springen staatliche Stellen bei der Wählermobilisierung ein: Regelmäßig erhalten Studierende, Soldaten, Staatsbedienstete und Angestellte großer Unternehmen „Wahlempfehlungen“. Außerdem nahm der Anteil der Wähler stark zu, die bis zu zwei Wochen vor der Wahl abstimmen: Mitarbeiter der Wahlkommissionen kommen in einem kaum kontrollierbaren Prozess mit mobilen Urnen zu Wählern in die Wohnung oder ins Krankenhaus. Bei der Präsidentenwahl 2008 stimmten 7,5 Prozent der Wahlberechtigten auf diese Weise ab.4

Drittens ist die Regierungspartei selbst das Produkt eines staatlichen Eingriffs in die politische Auseinandersetzung. Sie ging 1999 als hastig geschmiedete Elitenkoalition Jelzinsunter dem Namen Jedinstwo (Einheit) an den Start, sicherte Jelzins Nachfolger Putin eine parlamentarische Basis und wurde bis zur Wahl 2003 zur Machtpartei ausgebaut - und zwar durch den gezielten Einsatz staatlicher Mittel.

Was, viertens, auch die Medienberichterstattung einschließt. War auch der Wahlkampf in den 1990ern von Fernsehsendern in der Hand kremltreuer Unternehmer geprägt (allen voran ORT des Oligarchen Boris Beresowski), so gab es damals noch signifikante Gegengewichte in der Medienlandschaft. Unter Putin änderte sich dies schnell: Bis 2001 waren die größten Fernsehsender mehrheitlich oder vollständig in der Hand des Staates. Und dies zeigte sich deutlich: Während des Wahlkampfs im Jahr 2007 entfielen jeweils etwa 19 Prozent der Nachrichtenzeit im Ersten Kanal und bei NTW sowie 20 Prozent im Kanal Rossija auf Berichterstattung über die Regierungspartei Einiges Russland. Die noch immer wichtigste Oppositionskraft, die Kommunistische Partei, wurde dagegen nur in zwei bis drei Prozent der Zeit erwähnt.5

Ein hybrides System

Auf diese und andere Weise wird der politische Wettbewerb bereits vor der Wahl durch den Missbrauch staatlicher Ressourcen so verzerrt, dass ein unkontrollierter Machtwechsel am Wahltag nahezu ausgeschlossen ist. Direkte Eingriffe und Manipulationen im Wahlprozess sind in diesem System nur das letzte Mittel, um einen Stimmenverlust abzuwenden – wie bei der Parlamentswahl 2011. Dass dieses Ausmaß an offensichtlichen Fälschungen eine unerwünschte Ausnahme darstellte, ist auch an den Bemühungen zu erkennen, die seitdem unternommen wurden, um Vertrauen in den Wahlprozess zurückzugewinnen – etwa die teure Installation von Überwachungskameras in Wahllokalen oder die Ernennung von Ella Pamfilowa zur Chefin der Zentralen Wahlkommission.

Solche Systeme, in denen politische Eliten ihren Herrschaftsanspruch einerseits aus einem technisch einwandfreien, formal demokratischen Wahlprozess ableiten, andererseits aber zum Zweck des Machterhalts unfaire Mittel einsetzen, haben in der Politikwissenschaft einen Namen erhalten, der diese inhärente Widersprüchlichkeit betont: hybride Regime. Die Forschung zu solchen Regimen gewann in dem Maße an Plausibilität, in dem sich im Westen die Enttäuschung über die politischen Irrfahrten einiger junger Demokratien breit machte. Das „Ende der Geschichte“6 war nach 1990/91 keineswegs erreicht, und eine demokratische Verfassung bedeutete noch lange nicht den unabänderlichen Triumph liberaldemokratischer Prinzipien in der täglichen politischen Wirklichkeit. Und so gilt für Russland zurzeit, was Andreas Schedler den „elektoralen Autoritarismus“ nennt: es ist ein politisches System, in dem zwar Parteien regelmäßig Wahlen verlieren – aber eben nur Oppositionsparteien.7


1.Einen Bericht über die Funktionsweise eines „Karussells“ in deutscher Sprache gibt es bei der Frankfurter Rundschau
2.Field experiment estimate of electoral fraud in Russian parliamentary elections
3.Die einzelnen Berichte können nachgelesen werden
4.White, S. (2014): The electoral process. In S. White, R. Sakwa & H.E. Hale (eds), Developments in Russian politics, pp. 60–76. Basingstoke [u.a.]: Palgrave Macmillan, S. 70
5.White, S. (2014): S. 68
6.Fukuyama, F. (1992): Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?
7.Schedler, A. (2002): The menu of manipulation. Journal of democracy, 13(2), 36-50, hier. S. 47

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