Nikolaj Berdjajew (1874–1948) ist ein russischer Philosoph mit weltweiter Wirkung. Zunächst marxistisch beeinflusst, stellte er sich noch vor der Oktoberrevolution gegen den Atheismus der Kommunisten und wurde 1922 ausgewiesen. Seine Philosophie stellt die Freiheit des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt, zielt dabei aber auf eine geistige Erneuerung der Gemeinschaft. Die religiöse Rückbesinnung in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beruft sich vielfach auf Berdjajews Denken.
Berdjajews christliche Existenzphilosophie verbindet den Freiheitsbegriff mit einer Gemeinschaftsdimension. In seinem Denken gilt das Primat der Freiheit über das Sein, der Person über das Allgemeine, der Liebe über das Gesetz. Das entspricht auch Berdjajews Interpretation der „russischen Idee“ – für Berdjajew das geistige Prinzip der Gemeinschaftlichkeit in Freiheit (Sobornost), in dem er den Gegensatz zwischen Individualismus und Kollektivismus aufgehoben sah. Im Kommunismus sei die Idee der Sobornost entstellt worden.1
„Religiöser Revolutionär“
Seine Philosophie der „ungeschaffenen Freiheit“ entwickelt Berdjajew auf der Grundlage einer dualistischen Weltsicht einschließlich der Kernthemen Freiheit, Wahrheit, Geist, Person und Kreativität als „prophetische Provokationen“ gegen die Tendenz der Einschränkung des Menschen durch Sachzwänge, Ideologien und politische Systeme.2 Als „religiöser Revolutionär“3 zur Zeit der russischen Revolutionen hat Berdjajew im Zuge einer vertieften Auseinandersetzung mit der Wahrheit und Lüge des Kommunismus4 eine christliche Anthropologie des Gottmenschentums entwickelt.5 Er ist unmittelbar von Immanuel Kant, Fjodor Dostojewski, Wladimir Solowjow, Jakob Boehme und Friedrich Nietzsche beeinflusst. Berdjajew bezeichnete sich selbst als antinomischen Denker im Ringen um die Dilemmata zwischen Freiheit, Gott und Mensch.
Als Mitglied eines marxistischen Studentenbunds wurde Berdjajew 1898 drei Jahre nach Wologda verbannt. Danach engagierte er sich in der sozialliberalen Befreiungsbewegung (Sojus Oswoboshdenija) sowie in den religiös-philosophischen Gesellschaften in St. Petersburg und Moskau und wirkte als erfolgreicher Publizist und Zeitschriftenredakteur. Als Mitautor des Sammelbandes Wegzeichen6 übte Berdjajew 1909 scharfe Kritik an den atheistischen, marxistischen Sozialrevolutionären. Gegen diese ist auch seine Philosophie der Ungleichheit (1923)7 gerichtet, deren Zitierung durch Wladimir Putin 2013 heftige Diskussionen auslöste.8
Publizist im Exil
1917 gründete Berdjajew eine Religiös-Philosophische Akademie, die er nach seiner Ausweisung aus der UdSSR im Januar 1922 in Berlin und ab 1924 bis 1940 in Paris weiterführte. Als Redakteur des Journals Weg9 und Förderer der Russischen Christlichen Studentenbewegung (RChSD)10 setzte sich Berdjajew für die Bewahrung der orthodoxen Spiritualität unter Exilrussen ein. Berdjajew war ein vehementer Gegner der Eurasischen Bewegung11 und stand in Verbindung mit dem französischen Personalismus (Emmanuel Mounier), dem Renouveau Catholique (Jacques Maritain) und den protestantischen Theologen Paul Tillich und Fritz Lieb, mit dem er die Zeitschrift Orient und Occident herausgab.12 1947 erhielt er die Theologische Ehrendoktorwürde der Universität Cambridge. Zahlreiche seiner Werke wurden bereits zu Lebzeiten ins Deutsche übersetzt.13