Die kritische Internet-Community nennt sie oft den „durchgedrehten Drucker“, der massenhaft Gesetze ausspuckt: die russische Staatsduma. Die Volkskammer der sechsten Legislaturperiode (seit der Verfassungsreform von 1993, mit der das Parlament eingeführt wurde) hat Ende Juni ihre Arbeit beendet. Nach der parlamentarischen Sommerpause stehen im September 2016 Neuwahlen an.
Nach heftigen Wahl-Protesten hatte die sechste Staatsduma im Dezember 2011 ihre Arbeit aufgenommen und in der Zeit bis Ende Juni 2016 mehr Gesetze beschlossen, als in jeder Legislaturperiode zuvor. Der Paukenschlag kam vor der letzten Sitzung: Das umstrittene Anti-Terrorpaket mit womöglich verheerenden Auswirkungen auf die Meinungs- und Informationsfreiheit, nach der initiierenden Abgeordneten auch Jarowaja-Gesetz genannt, wurde durchgewunken.
Es ist nicht der einzige umstrittene Gesetzesentwurf der vergangenen Legislaturperiode: Das Dima-Jakowlew-Gesetz, das unter anderem US-Amerikanern die Adoption russischer Kinder verbietet, ein weiteres Gesetz, das homosexuelle „Propaganda“ unter Strafe stellt, das NGO-Agentengesetz, wonach NGOs nicht mit ausländischen Geldern finanziert werden dürfen, sowie die rechtlichen Grundlagen für die Angliederung der Krim 2014 – das sind nur einige der Neuerungen, die zwischen 2011 und 2016 verabschiedet wurden.
Zur finalen Sitzung fand Präsident Wladimir Putin lobende Worte und dankte den Abgeordneten unter anderem für ihre „konsolidierende Unterstützung“ zum Wohle Russlands.
Doch welch politisches Klima bleibt nach so viel Gesetzesnovellen und -änderungen? Wie sehr kann die Duma parlamentarischen Kompetenzen nachgehen? Die renommierte Politologin Ekaterina Schulmann zieht auf Vedomosti kritische Bilanz.
Russlands sechste Staatsduma hat ihre Arbeit für die laufende Legislaturperiode abgeschlossen. Fünf Jahre und neun Sitzungsperioden liegen hinter uns, mit über 6000 zur Prüfung vorgelegten Gesetzesentwürfen und 1816 neuen Gesetzen, 383 davon allein in der letzten Sitzungsperiode.
Pro Sitzungsperiode hat die Staatsduma in der sechsten Legislaturperiode zwischen 150 und 380 Gesetze verabschiedet. Zum Vergleich: Der Kongress der Vereinigten Staaten hat seit Januar 2015 183 Gesetze beschlossen; in der zweijährigen Legislaturperiode werden in den USA zwischen 175 und 279 neue Gesetze verabschiedet.
„Je verdorbener der Staat, desto mehr Gesetze hat er“
Was macht den Gesetzgebungsprozess derart schnell? Und warum bringen gerade semiautokratische Regime so viele Gesetze hervor? Dafür gibt es dreierlei Gründe – zwei schlechte und einen eher guten.
Der erste Grund für die ungesunde gesetzgeberische Produktivität ist allgemeiner Natur und betrifft nicht nur das gegenwärtige politische System Russlands: Eine instabile Rechtslage ist per se gut für den Staat und schlecht für den Bürger. Es ist der Staat, der jedes neue Gesetz implementiert, und unabhängig von dessen Inhalt ist ein Teil des Verwaltungsapparats jeweils damit beschäftigt, es umzusetzen und Verstöße zu ahnden. Jedes neue Gesetz bedeutet neue Befugnisse und neue Möglichkeiten. Den Bürger seinerseits schützt bekanntlich Unwissenheit vor Strafe nicht – und die fortwährende Änderung der Regeln, nach denen er lebt, macht ihn in jedem Moment zum potentiellen Gesetzesbrecher. „Corruptissima re publica plurimae leges“, heißt es bei Tacitus: Je verdorbener der Staat, desto mehr Gesetze hat er.
Jedes Gesetz der Beginn eines Feuerwerks von Überraschungen
Zweitens funktioniert der Entscheidungsprozess in einem System, das sich von der Außenwelt abschottet und nur einem immer enger werdenden Kreis von Akteuren und Einflussgruppen zugänglich ist, nach zwei Prinzipien: Schnelligkeit und Geheimhaltung – eine Entscheidung muss plötzlich und unerwartet fallen. Dementsprechend werden bei solchen Entscheidungen, auch den gesetzgeberischen, weder unabhängige Expertenmeinungen noch die öffentliche Meinung zugelassen.
Einmal in der Welt, entspricht die Entscheidung dann oft nicht den Erwartungen ihrer Initiatoren; ihre Umsetzung bewirkt ein nicht endenwollendes Feuerwerk von Überraschungen – umgehend werden Nachbesserungen erforderlich: Bis zu 85 Prozent der Gesetzesinitiativen, die die Duma prüft, sind keine im eigentlichen Sinne neuen, sondern Abänderungen schon bestehender Gesetze. Die Verabschiedung eines Gesetzes ist im russischen System nicht das Ende, sondern der Anfang der Diskussion über die „Regelung“ einer Branche oder Sphäre.
Viele Gesetze – besser als viele Dekrete
Und damit kommen wir zum dritten Grund, in dem man mit einigem guten Willen die positive Seite der parlamentarischen Stoßarbeit sehen kann: In vielen (lateinamerikanischen, nahöstlichen) Autokratien, die Russland typologisch ähneln, werden sämtliche aktuellen Fragen des politischen Lebens durch Dekrete oder Erlasse des Staatsoberhaupts gelöst. Das Parlament hat rein dekorative Funktion – nicht in dem Sinn, dass es „nichts mitzureden hat“, wie man in Russland sagt, sondern dass es gar nichts mitzureden gibt: Es gibt keinen Bedarf an neuen Gesetzen.
In Russland ist dieses „Dekretrecht“ relativ schwach ausgebildet; die Zahl und das Gewicht der Fragen, die qua Erlass des Präsidenten entschieden wurden, sind nach der Regierungszeit Boris Jelzins unter Wladimir Putin gesunken (siehe z. B. Thomas Remington: Presidential Decrees in Russia: A Comparative Perspective, New York 2014).
Das heißt, statt eines rein formalen Parlaments mit einem ersten Mann an der Spitze, der die Strahlen seiner Gnade via Ukas aussendet, haben wir ein Parlament, das eine große Zahl von Gesetzen beschließt – die ihrerseits eine noch größere Zahl von gesetzlichen Bestimmungen nach sich ziehen.
Doch auch unter den gegenwärtigen Bedingungen werden Gesetze offener formuliert und diskutiert als Präsidentenerlasse. Und selbst eine noch so streng reglementierte und zentralisierte Duma ist allemal transparenter als jedes Ministerium – von der Präsidialadministration ganz zu schweigen.
Kaum ein gutes Wort
Über die nun zu Ende gegangene sechste Legislaturperiode wird kaum jemand ein gutes Wort verlieren. Der Präsident rechnete ihr in seiner Abschlussrede eine Reihe legislativer Maßnahmen als Verdienst an, mit denen sie nur sehr am Rande zu tun hatte, insbesondere die sogenannte rechtliche Integration der Krim.
Aus einem anderen Blickwinkel kann man das scheidende Parlament dafür loben, dass es das Interesse der Bürger und der Medien für den Gesetzgebungsprozess verstärkt hat, ja, dass es die Bürger des Landes zu ersten Аnsätzen von Rechtsbewusstsein gezwungen hat. Und sei es nur in Form der permanenten Sorge, es könnte schon wieder die nächste Scheußlichkeit beschlossen worden sein. Die früher nur von einschlägigen Spezialisten und Duma-Mitarbeitern frequentierte Parlaments-Internetseite ASOZD gehört mittlerweile zu den populärsten im Runet.
Russland und der Welt vorgeführt, wie man Gesetze eben nicht diskutiert
Abgesehen davon war der sechsten Staatsduma nichts zu schade, um Russland und der Welt vorzuführen, wie man Gesetze eben nicht diskutiert und verabschiedet und wie es in einem funktionierenden Parlament nicht zugehen sollte: Gesetzesprüfungen im Eilverfahren durchpeitschen, parlamentarische Verfahrensweisen missachten und zentrale Debatten unter Ausschluss der Öffentlichkeit führen, Kompetenzen an die Exekutive abgeben, die damit verbundene Rechenschaftspflicht aber behalten, Abgeordnete der Fraktions- und Parteiführung unterwerfen und Elemente eines imperativen Mandats einführen – das sind Sünden gegen den Parlamentarismus.
Die Verabschiedung einer ganzen Reihe von repressiven, expropriatorischen, rückwärtsgewandten und im Wortsinn volksfeindlichen Gesetzen war erst deren Folge.
Drei Gruppen schädlicher Gesetze
Rekapitulieren wir, welche Art von Schaden die scheidende Duma Russlands Rechtssystem im einzelnen zugefügt hat. Das Massiv der verabschiedeten Gesetze lässt sich nach Quantität und Schädlichkeit in drei Gruppen unterteilen:
Die erste Gruppe, das sind überaus medienwirksame neue Gesetze, die am meisten Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es geht dabei um konkrete Verbote, also Rechtsnormen, die bestimmte Handlungen untersagen: die Teilnahme an Demonstrationen, das Verunglimpfen der Staatsführung im Internet, den Besitz von Medienunternehmen (für Ausländer), die Entgegennahme von Spenden aus dem Ausland (für NGOs).
Zu dieser Gruppe gehören auch diverse Verschärfungen im Straf- und im Strafvollzugsrecht: die Einführung von neuen Straftatbeständen und neuem Strafmaß im Strafgesetzbuch, die Verlagerung von bestimmten Tatbeständen aus dem Verwaltungs- ins Strafrecht.
Den konkreten Verboten schließen sich konkrete Geldabgaben an: diverse neu eingeführte Steuern und Abzüge, die Erhöhung von Verbrauchssteuern und Gebühren, das Einfrieren vermögensbildender Rentenanteile, die Umverteilung von Staatseinnahmen weg von den Bürgern hin zum Verwaltungsapparat.
So verheerend die Verbote und Geldabgaben für diejenigen sind, die sie zu spüren bekommen: Was die Gesundheit des Rechtssystems und ihre Auswirkungen angeht, sind sie eher punktuell und wieder gutzumachen. Rechtsnormen dieser Art lassen sich leicht aufheben, und der Schaden, den sie anrichten, ist reparabel.
Nicht die Härte der Gesetze ist das Problem – sondern ihre Vagheit
Doch diese Kategorie eher stumpfer gesetzgeberischer Werkzeuge wird erweitert durch Gesetze, die auf subtilere Weise Schaden anrichten: das sind Rechtsnormen, die Kompetenzen und Vollmachten in die unteren Etagen der Verwaltungspyramide verlagern.
Der zentrale Hebel der Repression in Russlands Regierungspraxis ist nicht die Härte der Gesetze, sondern deren Vagheit.
An der Mehrzahl der neuen strafrechtlichen Normen – dem Extremismusgesetz, dem Betrugsparagraphen, den Bestimmungen des NGO-Gesetzes über ausländische Agenten – lässt sich das gut ablesen. Was ist Extremismus, worin unterscheiden sich unternehmerische von betrügerischen Aktivitäten, wann liegt eine politische Tätigkeit vor, was hat man unter Propaganda nichttraditioneller Familienwerte zu verstehen?
Die betreffenden Gesetze sind entweder so allgemein formuliert, dass sie sich auf alles mögliche anwenden lassen, oder so nebulös, dass man überhaupt nicht versteht, was gemeint ist. In der Praxis bedeutet das, dass die Ausdeutung der jeweiligen Rechtsnorm delegiert wird – an den Abschnittsbevollmächtigten, den Ermittler, den Gerichtsgutachter, den Mitarbeiter des Justizministeriums.
Am Ende profitiert die Exekutive
Die Duma, die sich den Ruf des größten Gendarms und Schutzherrn unserer Zeit erworben hat, stattet auf diese Weise also keineswegs sich selbst mit immer größeren Befugnissen aus, sondern die Mitarbeiter der Exekutive und des Justizvollzugs.
Dasselbe gilt für die Gesetze zur verschärften Kontrolle von Internet, Telekommunikation, Handelsketten oder Mobilfunkanbietern – überall profitiert am Ende die Struktur der Exekutive, deren Verordnung oder Dienstanweisung den jeweiligen Bereich reguliert, während das Gesetz nur auf die nachgeordnete Vorschrift verweist.
Nachdem die Duma die Hoheit über Sanktionen wie Finanzen also der Exekutive überlassen hat, was bleibt ihr noch?
Die gegenwärtige Lage konservieren
Die dritte Kategorie gesetzgeberischer Neuerungen ist die Gruppe der konservativen Gesetze – konservativ nicht im Sinn des Schutzes „traditioneller Werte“, worin auch immer diese bestehen, sondern ganz wörtlich: Rechtsnormen, die darauf abzielen, die gegenwärtige Lage zu konservieren. Dazu gehören sämtliche Änderungen des Wahlgesetzes, Neuregelungen der Teilnahme an der Wahl, des Wahlkampfs, der Finanzierung, der Debatten, des Status des Abgeordneten und sogar, seltsamerweise, der Möglichkeit des Mandatsentzugs.
So komplex und chaotisch diese Novellierungen auch waren (allein die 2014 verabschiedete neue Fassung des Gesetzes „Über die Wahlen der Abgeordneten der Staatsduma“ wurde schon achtmal geändert), so schlicht ist doch das Ziel, dem all diese Filter, Barrieren und Verbote dienen: Sie sollen denen, die im System sind, maximale Privilegien sichern, und gleichzeitig allen neuen, Systemfremden, als „Outsider” wahrgenommenen Elementen den Zugang dazu erschweren.
Schweres Erbe
So hat die Duma ihrer sechsten Legislaturperiode mithin die politische und wirtschaftliche Freiheit der Bürger eingeschränkt, sie hat die Exekutive mittels vage formulierter neuer Gesetze mit neuen Befugnissen ausgestattet und zum eigenen Vorteil die Zeit angehalten: Das ist, kurz gesagt, ihr gesamtes gesetzgeberisches Erbe.
Von dem Stigma zweifelhafter Legitimität, das ihr von Anfang an anhaftete, suchte sie sich zu befreien, indem sie sich einer außenpolitischen Agenda anschloss, die sie nicht selbst formuliert hatte und auf die sie keinerlei Einfluss hatte.
Dem Brauch der permanenten Korrektur folgend wird das nächste Parlament die Novellen der sechsten Staatsduma wiederum überarbeiten. Wie eine Sisyphusarbeit mutet dies umso mehr deshalb an, weil diejenigen, die die Gesetze beschlossen haben, weitgehend identisch sind mit denen, die sie aufheben.
Noch die einfachste Aufgabe für die Zukunft dürfte sein, zuvor verschärfte oder detaillierter ausformulierte Rechtsnormen wenn nötig wieder „abzumildern“ oder zu „entbürokratisieren“ – eine neue Regierung oder politische Führung kann sich auf diese Weise leicht den Ruf von „Reformern“ erwerben (selbst wenn sie aus denselben Personen besteht wie zuvor).
Schwerer wird es – falls überhaupt irgendjemand darin eine Notwendigkeit sieht –, das Ungleichgewicht zwischen den Gewalten zu korrigieren und einem verantwortungsvollen Parlament zumindest einen Teil seiner Kompetenzen zurückzugeben; noch schwerer bis unmöglich: seinen Ruf halbwegs wiederherzustellen.
In dieser Hinsicht droht uns das Erbe der sechsten Legislaturperiode noch lange erhalten zu bleiben.