Oppositionspolitiker Alexej Nawalny hat gerufen und Tausende sind ihm auf die Straßen gefolgt, landesweit, am vergangenen Montag bereits zum zweiten Mal. Es ist dabei nicht nur der Unmut über Korruption, der die Leute auf die Straßen treibt. Sondern es sind ganz unterschiedliche Motive, von der Forderung nach mehr Demokratie und Menschenrechten bis hin zum regime change.
In Moskau wiederum protestieren viele Bewohner seit Monaten gegen den geplanten Abriss ihrer Wohnhäuser, zumeist Chruschtschowki aus den 1950er Jahren, die die Stadt in einem gigantischen Bauprojekt abreißen und durch Neubauten ersetzen will. Unlängst brach eine Debatte darüber aus, ob es einen unpolitischen Protest überhaupt geben kann – auf den allerdings viele der Demonstrationsteilnehmer bestehen.
Ein politisches Empowerment in der russischen Gesellschaft jedenfalls diagnostiziert Andrej Archangelski auf Carnegie.ru – und sieht die Ursachen dafür, ausgerechnet, in der Propaganda.
Die Ukrainer sagen gerne, Russland habe mit seinem Handeln im Jahr 2014 mehr zur Herausbildung einer ukrainischen Identität beigetragen als die ukrainischen Institutionen in 25 Jahren Unabhängigkeit. Das Gleiche kann man nun in Russland auch von der eigenen Regierung behaupten.
Massenpropaganda ist von der Taktik her berechenbar (Aggressivität, Befeuerung des Irrationalen, Neurotisierung der Gesellschaft), aber strategisch vorhersagbar sind die Auswirkungen nicht.
Wer hätte 2014 gedacht, dass drei Jahre später auch diejenigen zu Massenprotesten gegen Korruption auf die Straße gehen würden, die ihr ganzes Leben unter Putin gelebt haben, jene Generation, von der man annahm, sie bestünde aus lauter Loyalisten des Post-Krim-Konsens?
Da ist Nawalny mit seinen Nachforschungen, ja; aber viel wichtiger ist, dass eine psychologische Schwelle überschritten scheint. Und paradoxerweise wurde die politische Sprache im „Kisseljow-TV“ vermittelt.
Nachdenken über Politik – dank Propaganda
Es waren nämlich die Propaganda-Figuren und Klischees in den Medien, die geholfen haben, dass sich eine politische Massensprache in Russland herausbildete. Genauer gesagt hat die Propaganda – und das ist einer der unvorhergesehenen Effekte – das Nachdenken über Politik zu einem Teil des täglichen Lebens gemacht.
Unsere Propaganda ist darauf angewiesen, die Zuschauer mit den Einzelheiten des amerikanischen, ukrainischen oder französischen Systems bekannt zu machen; die Konzentration auf die politischen Antagonisten und verschiedenen Einflussgruppen enthüllte vor dem russischen Durchschnittsbürger plötzlich die ganze Komplexität des politischen Lebens.
Aufgerufen, Geschichte zu schreiben
2014 wurde der Bürger dazu aufgerufen, Geschichte zu schreiben – das heißt, zum handelnden Subjekt der Geschichte zu werden. Aber man kann nicht an den außenpolitischen Grenzziehungen ein Subjekt sein und gleichzeitig passives Objekt im Hinblick auf die inneren Angelegenheiten bleiben.
Der Sowjetmensch konnte nicht politisch über sich selbst bestimmen, die Möglichkeit einer solchen Selbstermächtigung bestand für ihn nicht – er war nur möglich als „Teil eines Ganzen“, „die Eins ist Null”, wie es damals hieß.
Heute, so stellt sich plötzlich heraus, wird man zum Subjekt am einfachsten über die Politik. Wobei man politische Identität und Subjekthaftigkeit erlangen kann, indem man eine fremdbestimmte, aufgezwungene Sprache ablehnt (siehe den Konflikt zwischen Schülern und Lehrern), oder indem man sich selbst plötzlich als Eigentümer begreift (siehe die Reaktion der Moskauer [auf den geplanten Abriss ihrer Häuser]), oder auch in Form einer Reaktion auf „große Ereignisse“, wie die von 2014.
Die Vertuschung des Politischen
Die Regierenden haben mit diesem Effekt nicht gerechnet; ihr Ideal ist das einer gleichgültigen und indifferenten Bevölkerung. Aber die „Konsolidierung der Nation“ im Jahr 2014 war nicht möglich ohne eine Aktivierung des politischen Instinkts, und einmal aktiviert, ist dieser Instinkt schwer zurückzunehmen.
Das war tatsächlich ein schwerwiegendes Zugeständnis seitens der Putin-Administration. Denn die gesamte Geschichte der Putin-Periode ist der Versuch, die Politik vor dem Volk zu vertuschen.
Erstens ist da die Ebene des Begriffsaustauschs: In Russland wurde „Politik“ durch das Wort „Macht“, bzw. „Regierung“ ersetzt, wie Gleb Pawlowski feststellt. „Politik ist der Kampf um die Macht“, das sagt Ihnen, eine pseudo-objektive Position einnehmend, jeder Kreml-Politologe.
Aber auch das ist eine Finte: Die Opposition in Russland kämpft nicht um die Macht, sondern um die Politik, um das bloße Recht auf eine andere Meinung.
Patriotismus – kein Ruf des Herzens
Auch das Konzept des Patriotismus (du bist „für unsere Leute“, ganz gleich, was sie anstellen) sollte dazu dienen zu verbergen, dass die Unterstützung der Regierung weder ein Instinkt noch ein Ruf des Herzens ist, sondern im Rahmen des normalen politischen Verhaltens stattfindet (Loyalität).
Sogar der Begriff der Geopolitik, der nach 2014 besonders aktiv eingesetzt wurde, verfolgte dasselbe Ziel: den Menschen nicht als politisches Subjekt gelten zu lassen.
„Wir sind die Geiseln unserer geografischen Position und haben deshalb keine Wahl; das ist unser Schicksal, man kann ihm nicht entfliehen und deshalb muss man sich ihm fügen ...“
Roland Barthes bemerkte zu Zeiten des Algerienkrieges: Wenn die Zeitungen schreiben, „das Schicksal will es so“, heiße das übersetzt, „so will es die französische Regierung“.
Die Sowjets 2.0
Und zum grandiosesten Mittel, die Politik zu vertuschen, wurde der Sowjetsprech. Aber die Bestäubung mit Sowjetnostalgie hatte einen weiteren unvorhergesehenen Effekt: Diese Propaganda erschuf einen neuen Sowjetmenschen.
Er ist zu unterscheiden von dem, der der UdSSR passiv nachtrauert. Die Aktiven – nennen wir sie Reanimatoren – sind die, die heute die Abschaffung des Kapitalismus, die Rückkehr zur UdSSR und einen Wechsel des Wirtschaftsmodells fordern.
Gepäppelt von Fernsehen und Regierung, wandeln sich die Sowjets 2.0 im Grunde von Loyalisten in eine konservative Opposition. Das Sowjetische ist mittlerweile Teil der eigenen politischen Identität. Was dem Sinn des Terminus widerspricht, denn das Sowjetische bedeutet eigentlich die Abwesenheit von eigenen Ansichten.
Das heutige Sowjetische ist zum Label geworden, zu einer Marke, die bloß noch – aber immerhin – auf eine politische Position verweist.
Der Zwischenraum
Ein totalitäres System sieht keine Opponenten vor. Ein solches System verweist dich bei Widerspruch automatisch auf eine Position außerhalb des Legitimen, macht dich zum Feind. Die russische Propaganda allerdings ist gezwungen, rein formal demokratische Prinzipien zu wahren. Das ist ein wesentlicher Unterschied – und er erzeugt einen interessanten Zwischenraum. Einen Zwischenraum zwischen den Kauleisten des Leviathan, sozusagen.
Die heutige Propaganda appelliert, und sei es nur formal, an einen freien Menschen. Deshalb muss sie so tun, als verfüge sie über ein stabiles System von Argumenten und Beweisen. Es geht gar nicht darum, wie (wenig) überzeugend usw. diese sind. Es ist ein Meta-Paradox: Die bloße Notwendigkeit, dass es überzeugt werden muss, verwandelt das totalitäre Schräubchen in ein Subjekt.
Am Ende hat das, was auf die Totalisierung des Bewusstseins gezielt hatte, den umgekehrten Effekt bewirkt: Es hat den Durchschnittsbürger in seinem Status als politisches Subjekt gefestigt. Dieser wird ja als Person angesprochen, eine Person mit Rechten, Entscheidungsmöglichkeiten, einem freien Willen – da wächst ungewollt die Selbstachtung. Das Subjekt reckt seine Schultern.
Zwischen den Kauleisten des Leviathan
Weshalb stärkt der Kreml ständig das, was er zu bekämpfen versucht? Hier kommt wieder jener Zwischenraum ins Spiel – der Widerspruch zwischen den heutigen realen Praktiken in Russland, den autoritären Instrumenten, und dem formal demokratischen Gesellschaftsaufbau gemäß der Verfassung. Dieser Zwischenraum ist der wahre Quell des Politischen im heutigen Russland.
Die offiziellen demokratischen Institutionen sind zwar zu einer Formalität verkommen, aber Politik gibt es trotzdem, und zwar in diesen Zwischenräumen und Rissen. Die Entpolitisierung einer weiteren Nische führt sofort zu einem Ausbruch von politischer Aktivität an einer anderen Stelle.
Das Streben nach dem Politischen
Wir können eine Hypothese aufstellen: Das endgültige Ziel des hybriden Organismus (Ekaterina Schulmann) ist das – im Freudschen Sinne – unbewusste Streben nach dem Politischen. Das, was tabuisiert und ausgetrieben wird, wird unbewusst zum sehnlichsten Verlangen des hybriden Wesens.
Möglicherweise ist die Politisierung tatsächlich im Kern unseres heutigen Systems angelegt, es muss sich dessen nicht einmal bewusst sein, es kann versuchen, mit aller Gewalt dagegen anzukämpfen. Aber das würde bedeuten, dass es gegen die eigene Natur ankämpft. Deshalb erscheint es uns, als wäre die Hauptquelle der Politisierung die Macht selbst.
Bonus für die Wähler
Die Hauptaufgabe des Kreml für das kommende Jahr 2018 wird vermutlich sein, die Аmtszeit des derzeitigen russischen Präsidenten um weitere sechs Jahre zu verlängern, möglichst unter Einhaltung aller Normen und mit maximaler Legitimierung. Alle Aktivitäten werden sich darauf richten, dieses Ziel zu erreichen.
Was wird die Regierung im Zuge der Wahlen als Bonus verkaufen? Eine Möglichkeit wäre die Politisierung selbst. Der Wähler bekommt als Bonus angeboten, ein eigenständiges politisches Subjekt zu sein. Sie wählen nun nicht mehr als Schräubchen, sondern Sie wählen als vollwertige Subjekte der Geschichte – und das in einer Situation der geopolitischen Konfrontation mit dem Westen.
Der postsowjetische Mensch als politisch Handelnder
Man wird nicht auf Passivität, sondern auf Aktivität setzen – natürlich auf eine kontrollierte. Aber wie wir uns bereits überzeugen konnten, gerät die Sache, sobald es um Werte geht – und Politik ist eben auch ein Wert –, schnell außer Kontrolle.
Man kann behaupten, dass der Klientelismus das System immer noch besser absichert als alle offiziellen Mechanismen, und dass es in den Regionen keinerlei Voraussetzungen für politische Aktivität gibt. Aber das ist, wenn man so will, nur die äußere Gestalt. Was im Massenbewusstsein passiert, kann keine Meinungsumfrage einfangen. Wir können nur annehmen, dass ganze Massen zu politischen Subjekten werden, dass der postsowjetische Mensch sich als Spieler und sogar als politisch Handelnder bewusst wird.
Ein völlig anderes Land mit völlig anderen Menschen
Ändert sich dadurch etwas Grundlegendes? Ja. Das ändert absolut alles.
Den sowjetischen „Massenmenschen“ gibt es nicht mehr, er ist in Millionen von Subjekten mit Interessen zerfallen, auch politischen, was immer man jeweils unter diesem Wort versteht. Die Regierung hat das selbst angerichtet, entgegen ihrem eigenen Willen, oder vielleicht kraft ihrer eigenen momentanen Natur.
Wir haben es mit politischen Subjekten zu tun – und das ist bereits ein völlig anderes Land, mit völlig anderen Menschen. Die Politisierung Russlands ist unausweichlich. Und genau das ist es, was die nächste historische Zukunft grundlegend und entscheidend bestimmen wird.