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Hungersnot in der Sowjetunion 1932/33

„Als meine ganze Familie [aufgrund von Hungerödemen] begann anzuschwellen, brachte ich meine Tante und ihre zwei Kinder zu meinem Vater. Während des gesamten Weges sah ich Menschen, die sich die Straße zum Getreidespeicher entlangschleppten. Dabei lasen sie aus dem Staub Körner auf, die nur sie selbst erkennen konnten. Einige unter ihnen brachen zusammen und starben auf der Stelle. Sie wurden auf die Seite geschafft und niemand beachtete sie mehr. Ist es ein Wunder, dass meine Haare begannen zu ergrauen, als ich vierzehn Jahre alt war?“, so erinnert sich der Ukrainer Iwan Alexijenko an das Jahr 1933, als die Hungersnot in der Sowjetunion ihren Höhepunkt erreichte. 

1932/33 kam es überall im Land zu Versorgungsengpässen, doch in der Ukraine, in Kasachstan, dem Wolgagebiet, dem Nordkaukasus und anderen Regionen der Sowjetunion herrschte eine dramatische Hungerkatastrophe, der insgesamt zwischen fünf und sieben Millionen Menschen zum Opfer fielen.1 Die meisten Menschen starben in der Ukraine, wo rund 3,3 Millionen Tote zu beklagen waren. In der Ukraine ist der Holodomor heute integraler Bestandteil der nationalen Erinnerungskultur und gilt als Genozid. Diese Klassifizierung ist jedoch umstritten.

Vielfach brachen Gemeinschaften angesichts der verheerenden Bedingungen auseinander / Foto © Zentrales Staatsarchiv der Republik Kasachstan für Film- und Fotodokumente sowie Tonaufnahmen

Die Hungersnot der Jahre 1932/33 war eine direkte Folge der stalinschen „Revolution von oben“.  Mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, der Verfolgung der sogenannten Kulaken und immer höheren Ablieferungsquoten auf Getreide und Fleisch hatten die Bolschewiki die sowjetische Landbevölkerung seit 1928 permanent unter Druck gesetzt. 

Der Weg in den Hunger 

Die meisten Bauern fügten sich in ihr Schicksal und versuchten in den Kolchosen die ihnen auferlegten Pläne zu erfüllen. Wer ins Kreuzfeuer der Dekulakisierungskampagne geriet, wurde stigmatisiert, verbannt, verhaftet oder gar erschossen. Vielerorts erhoben sich Bauern und setzten sich gegen die Zumutungen des Staates zur Wehr. In diesen Auseinandersetzungen um die Zukunft des sowjetischen Dorfes setzten sich die Bolschewiki schließlich durch, weil sie mit einer Mischung aus rücksichtsloser Gewalt und Anreizen für ihre Anhänger operierten.2

Die gute Ernte des Jahres 1930 schien den Befürwortern eines radikalen Kollektivierungskurses recht zu geben. Doch diese Erfolge kamen nicht wegen, sondern trotz des Umbaus der sowjetischen Landwirtschaft zustande. Bereits ein Jahr später zeichneten sich in einigen Regionen ernsthafte Versorgungsengpässe ab. Die Planer in Moskau focht das nicht an: Sie legten für 1932 noch höhere Ablieferungspläne für Kolchosen und die verbliebenen Einzelbauern fest. Ein erheblicher Teil der Ernte sollte nicht der Versorgung der eigenen Bevölkerung dienen, sondern ins Ausland exportiert werden, um das ehrgeizige sowjetische Industrialisierungsprogramm zu finanzieren. 

Als im Verlaufe des Jahres 1932 deutlich wurde, dass die Ernte dramatisch hinter den Erwartungen zurückbleiben würde, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Die Verantwortlichen in den Republiken und Regionen taten alles in ihrer Macht Stehende, die exorbitanten Vorgaben zu erfüllen. Dabei schreckten die Beschaffungskommandos oftmals auch nicht davor zurück, Futtergetreide für das Vieh und Saatgut zu beschlagnahmen. Damit aber verurteilten sie die Menschen faktisch zum Hungertod.3

Hunger als Instrument der Herrschaftsdurchsetzung 

Alle Versuche, die Planziele zu erreichen erwiesen sich als nutzlos. Auch deshalb zeigten sich die führenden Bolschewiki davon überzeugt, dass die Landbevölkerung bewusst „Sabotage“ betrieb und begriffen den Hunger als eine Form des Widerstands. Stalin selbst erklärte, manche Bauern würden lieber hungern, als ihre Ernte abzuliefern.3 Diese Wahrnehmung trug entscheidend dazu bei, dass die Hungerkrise zur Katastrophe wurde, denn die Lösung konnte unter diesen Umständen nicht in Hilfslieferungen, sondern nur in noch stärkerem Druck liegen. 

Vor allem in der Ukraine, aber auch in anderen Regionen agierten die sowjetischen Funktionäre jetzt mit offenem Terror. Ganze Regionen wurden von der Außenwelt abgeriegelt, Familien und ganze Dörfer unter Arrest gestellt und den Menschen das letzte Getreide genommen.5 Dort, wo Getreide in betroffene Gebiete geschickt wurde, erwiesen sich die Lieferungen oft als unzureichend, und sie kamen außerdem oft nicht den bedürftigsten, sondern den leistungsfähigsten und loyalsten Personen zugute. Individuelles Überleben war vielfach an die Akzeptanz des sowjetischen Herrschaftsanspruchs gebunden. Auch wenn die Hungersnot nicht bewusst geplant und intendiert war, instrumentalisierten die führenden Bolschewiki um Stalin die Katastrophe für ihre Interessen: Sie erwies sich als mächtiges Instrument zur Herrschaftsdurchsetzung und Disziplinierung der Bevölkerung. 

Die gesellschaftlichen Konsequenzen des Hungers 

Die Hungersnot beeinflusste alle Bereiche menschlicher Existenz. Der dauerhafte Nahrungsmangel wirkte sich nicht nur gravierend auf die Körper der Hungernden aus, sondern auch auf soziale Zusammenhänge. Vielfach brachen Gemeinschaften angesichts der verheerenden Bedingungen auseinander. Hatten die meisten Bauern zu Beginn der Hungerkrise noch Anteilnahme gezeigt und Betroffenen geholfen, änderte sich dies, als immer größere Gruppen Mangel litten. Viele Menschen verloren das Vertrauen zueinander, Diebstahl und Morde waren an der Tagesordnung. Manchmal fiel auch das letzte Tabu, und es kam zu Fällen von Kannibalismus. Die Gesellschaft zerfiel.

Die Gewalt nahm endemische Ausmaße an. In einem – wohl irrtümlich veröffentlichten – Leserbrief in einer Zeitung der kasachischen Stadt Akmolinsk hieß es etwa über die kasachischen Hungerflüchtlinge, die man als Otkotschewniki bezeichnete: „Der Rote Markt ist eröffnet worden, den man nur deshalb rot nennen kann, weil dort täglich rotes Blut fließt. In Gruppen oder allein reißen die Otkotschewniki den Händlern und Käufern die Lebensmittel aus den Händen und natürlich schlagen die Bestohlenen sie dafür bis aufs Blut, bis zur Bewusstlosigkeit, und manchmal schlagen sie sie tot.“

Ganze Regionen wurden von der Außenwelt abgeriegelt, Familien und ganze Dörfer unter Arrest gestellt / Foto © Foto © Zentrales Staatsarchiv der Republik Kasachstan für Film- und Fotodokumente sowie Tonaufnahmen

Doch die Jahre des Hungers waren nicht nur eine Zeit des Gesellschaftszerfalls, denn auf sich allein gestellt konnte kaum jemand in dieser Krise bestehen. Viele Menschen taten sich in häufig verwandtschaftlich organisierten Überlebensgemeinschaften zusammen, innerhalb derer Zusammenhalt und gegenseitige Solidarität hoch waren.6

In den meisten Regionen der Sowjetunion endete die Hungersnot im Herbst 1933; nicht zuletzt auch deshalb, weil die Parteiführung den Druck auf die Kolchosbauern in begrenztem Maße lockerte. Das massenhafte Sterben mochte vorüber sein, doch die demographischen und sozialen Folgen dieser Katastrophe blieben noch lange Zeit spürbar. 

Genozid-Debatte 

In der Sowjetunion durfte niemand vom Hunger sprechen. Das verordnete Schweigen endete erst in den späten 1980er Jahren, als im Zuge von Perestroika und Glasnost die „weißen Flecken“ der sowjetischen Geschichte thematisiert (und skandalisiert) wurden. Insbesondere in der Ukraine begannen viele Überlebende des Hungers nun damit, ihre Erlebnisse öffentlich zu artikulieren. 

Diese Zeitzeugen fanden Gehör, weil die Erinnerung an den Hunger hier trotz aller Tabus stets präsent geblieben war und als Beleg für die antiukrainische Politik der Bolschewiki galt und gilt. Diese These verband sich mit dem vor allem von ukrainischen Emigranten in Nordamerika immer wieder geäußerten Überzeugung, beim Holodomor handele es sich um einen Genozid an der ukrainischen Nation. Im spannungsreichen russisch-ukrainischen Verhältnis seit 1991 wurde die Hungersnot von beiden Seiten immer wieder für tagespolitische Auseinandersetzungen instrumentalisiert. 

Historiker wurden zu wichtigen Akteuren in diesen Debatten. Dabei besteht weitgehend Konsens darüber, dass die bolschewistische Führung um Stalin für die Hungersnot verantwortlich war. Der Konflikt entzündet sich jedoch an der Frage, ob sich im Handeln der sowjetischen Führer eine konkrete Vernichtungsabsicht erkennen lässt. Während dies für ukrainische Historiker unzweifelhaft feststeht,7 argumentieren viele ihrer russischen Kollegen, dass es sich bei der Hungersnot der Jahre 1932/33 um ein gesamtsowjetisches Phänomen handelte, von dem nicht allein die Ukraine betroffen war.  Auch unter „westlichen“ HistorikerInnen ist die Genozidfrage durchaus umstritten.8 

Große Unterschiede lassen sich hinsichtlich der Bedeutung des Hungers in den nationalen Historiographien ausmachen: Während der Holodomor eines der zentralen Themen der ukrainischen Geschichtswissenschaft nach 1991 wurde (und bis heute ist), spielt die Hungersnot in Russlands Geschichtswissenschaft eine eher untergeordnete Rolle.9  

In vielen aktuellen Arbeiten zum Hunger in der Sowjetunion steht die Genozid-Debatte nicht im Zentrum: Hier geht es etwa um die Rolle und Verantwortung von Funktionären auf der mittleren Ebene, lokale Dynamiken des Hungers oder um die gesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Hungersnöte.10 Auch die Diskussion um die Opferzahlen dauert an.

Erinnerungsdiskurse

Die historiographische Auseinandersetzung mit der Hungersnot lässt sich von ihrer politischen Instrumentalisierung längst nicht mehr trennen. In der Ukraine ist der Holodomor ein zentraler Bestandteil der nationalen Identität, der seit 2006 offiziell als Genozid gilt und dessen Leugnung unter Strafe steht. Die Würdigung der Hungertoten durch ukrainische Politiker enthält meist auch eine antirussische Stoßrichtung, die seitens russischer Politiker entschieden zurückgewiesen wird. Eine spezifische russische Erinnerungskultur für die Opfer der Hungersnot gibt es nicht. 

In Kasachstan, wo in Relation zur Gesamtbevölkerung die meisten Menschen während der Hungersnot starben, versuchten sowohl Staat als auch Historiker, Konflikte mit Russland über diese Frage zu vermeiden. Rund 1,7 Millionen Kasachen kamen hier ums Leben; etwa ein Drittel der ethnischen Kasachen. Dennoch spielte die Hungersnot in Kasachstan jahrzehntelang kaum eine Rolle, sieht man einmal von einer Phase zu Beginn der 1990er Jahre ab. Zu groß schien der kasachischen Führung das Risiko eines Konflikts mit Russland und zu besorgt war sie angesichts der multiethnischen Bevölkerungszusammensetzung Kasachstans. Erst in den letzten Jahren änderte sich dies und die Hungersnot wurde zum Gegenstand offizieller kasachischer Erinnerungsdiskurse. Die Schuldfrage tritt dabei zugunsten der Betonung menschlichen Leids in den Hintergrund.11

Die Konflikte und widerstreitenden Positionen in Politik und Geschichtswissenschaft der betroffenen Staaten finden ihre Entsprechung in „westlichen“ Debatten. Mehrere Staaten – allen voran die USA –  haben den Holodomor offiziell als Genozid anerkannt und damit im ukrainisch-russischen Streit eindeutig Partei ergriffen. Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat die Diskussion auch in Deutschland an Dynamik gewonnen. Der Bundestag hat am 30. November 2022 eine Resolution verabschiedet, wonach der Holodomor als „Menschheitsverbrechen“ anerkannt wird, aus heutiger Perspektive liege „eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe“. Ein Ende der Debatten um den genozidalen Charakter des Holodomor ist indes nicht zu erwarten.


1.Die Opferzahlen sind umstritten. Es kursieren auch wesentlich höhere Angaben, die teilweise von mehr als zehn Millionen Opfern allein in der Ukraine ausgehen. Die genaue Zahl der Hungertoten wird sich nicht ermitteln lassen, da die Toten vielfach nicht registriert wurden. 
2.Zur Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft und den Konflikten zwischen Staat und Bauern: Fitzpatrick,Sheila  (1996): Stalin’s Peasants: Resistance and Survival in the Russian Village after Collectivization, New York; Viola, Lynne (2009): The Unknown Gulag: The Lost World of Stalin’s Special Settlements, New York 
3.Der bekannte Dissident Lew Kopelew beteiligte sich als junger Mann an solchen Expeditionen in ukrainische Dörfer und hat in seinen Memoiren darüber berichtet. Kopelew, Lew  (1981): Und schuf mir einen Götzen: Lehrjahre eines Kommunisten, München 
4.So beschrieb Stalin seine Sicht der Dinge in einem Brief an den sowjetischen Schriftsteller Michail Scholochow, vgl. Werth, Nicolas (2002): Ein Staat gegen sein Volk: Das Schwarzbuch des Kommunismus: Sowjetunion, München, S. 143 
5.ausführlich: Applebaum, Anne (2017): Red Famine: Stalin’s War on Ukraine, New York, S. 186-221 
6.Kindler, Robert (2014): Stalins Nomaden: Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg, S. 239-262 
7.Zentrale Positionen ukrainischer Historiker sind leicht zugänglich in: Sapper, Manfred/Weichsel, Volker (Hrsg.) (2004): Vernichtung durch Hunger: Der Holodomor in der Ukraine und der UdSSR (Osteuropa 12/2004) 
8.zusammfassend: Applebaum, Red Famine, S. 320-362 
9.Eine Ausnahme stellen etwa die Arbeiten des wichtigsten russischen Experten zum Thema dar, vgl.: Kondrashin, Viktor (2008): Golod 1932-1933 godov: Tragedija rossijskoj derevni, Moskva 
10.vgl. bspw.: Cameron, Sarah (2018): The Hungry Steppe: Famine, Violence, and the Making of Soviet Kazakhstan, Ithaca 
11.Kindler, Stalins Nomaden, S. 338-348 
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