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Sergej Lawrow

Seit 20 Jahren vertritt derselbe Mann Wladimir Putins Politik in der Welt. In dieser Zeit hat Sergej Lawrow Annäherungsversuche mit Washington unternommen und der Welt mit Atomraketen gedroht. Er wurde als erfahrener Diplomat geachtet und als Lügner ausgelacht.

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Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk

Lenin hatte hoch gepokert. Aber hatte er auch gewonnen? Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk am 3. März 1918 wusste dies zunächst niemand so genau. Der Krieg mit den Mittelmächten war beendet, und Russland schied als Kriegspartei aus dem Ersten Weltkrieg aus.

Scheinbar hatten die Bolschewiki damit eines ihrer wichtigsten Ziele erreicht: Frieden. Ohne diesen Friedensschluss werde die Revolution scheitern, denn die zerfallende russische Armee könne dem überlegenen deutschen Militär nichts entgegensetzen, hatte Lenin seine zögernden Genossen zuvor wieder und wieder beschworen.

Doch besiegelte der Vertrag nicht zugleich auch das Ende der Bolschewiki? Schließlich verzichtete Russland auf mehr als ein Viertel seines europäischen Territoriums, 60 Millionen Menschen, einen großen Teil seiner Industriebetriebe, der agrarisch nutzbaren Flächen sowie wichtige Teile des Eisenbahnnetzes. Hinzu kam, dass die Ukraine bereits einige Wochen zuvor, am 9. Februar 1918, einem separaten Friedensvertrag mit den Mittelmächten, dem sogenannten Brotfrieden, zugestimmt hatte, durch den sich Deutschland und Österreich-Ungarn den Zugriff auf Getreide und andere Ressourcen gesichert hatten.

 Deutschland, seine Verbündeten und Russland unterzeichnen am 15.12.1917 in Brest-Litowsk ein Waffenstillstandsabkommen / Foto © Deutsches Bundesarchiv

Für die Mittelmächte bedeuteten die beiden Abkommen zunächst einen Triumph. Der Krieg im Osten war beendet, und in Ostmitteleuropa entstand 1918 ein ebenso gigantisches wie kurzlebiges Imperium unter vorwiegend deutscher Kontrolle. Die eroberten Territorien, Ressourcen und Menschen sollten es den Mittelmächten ermöglichen, den Krieg im Westen erfolgreich fortzusetzen.

Die Verhandlungen in Brest-Litowsk hatten bereits Ende 1917 begonnen und erstreckten sich mit Unterbrechungen bis Anfang März. Die Bolschewiki, die im Dezember 1917 erst wenige Wochen an der Macht waren, unternahmen hier ihre ersten diplomatischen Gehversuche. Ihnen gegenüber standen erfahrene Diplomaten und Militärs aus Deutschland und Österreich-Ungarn.

Schon äußerlich waren die Unterschiede erheblich: Hier trafen adlige Diplomaten und Offiziere in eleganten Uniformen und Anzügen, behängt mit Orden und Auszeichnungen, auf schlecht gekleidete Revolutionäre, die zum Teil erst vor Kurzem aus der Verbannung in Sibirien zurückgekehrt waren. Zur russischen Delegation gehörten zunächst auch „Repräsentanten“ der Revolution: jeweils ein Bauer, ein Soldat, ein Matrose und ein Arbeiter. Die Abgesandten aus Petrograd verweigerten sich allen diplomatischen Gepflogenheiten.

Verhandlungen möglichst in die Länge ziehen

So gegensätzlich wie die beteiligten Personen waren auch die Ziele, die sie in den Verhandlungen erreichen wollten: Den Mittelmächten ging es vor allem darum, so schnell wie möglich einen Siegfrieden zu schließen, der ihnen Territorien und Güter, vor allem Getreide, Kohle und Vieh, sichern sollte. Die Bolschewiki verfolgten hingegen andere Absichten. Als klar wurde, dass die Forderungen der Bolschewiki nach einem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen für die Mittelmächte nicht annehmbar sind, sollte Brest-Litowsk als Propagandaplattform für den Revolutionsexport dienen. Aus diesem Grund bestand die sowjetrussische Delegation auch darauf, die internationale Öffentlichkeit ununterbrochen über die Gespräche zu informieren. Ihr Verhandlungsführer Leo Trotzki erinnerte sich später: „In die Friedensverhandlungen traten wir mit der Hoffnung ein, die Arbeitermassen Deutschlands und Österreich-Ungarns wie auch der Ententeländer aufzurütteln. Zu diesem Zweck war es nötig, die Verhandlungen möglichst in die Länge zu ziehen.“

Weder Krieg noch Frieden

Doch je länger die Verhandlungen andauerten, desto stärker wuchs die Ungeduld der deutschen Militärs, dem „Palaver“ der Diplomaten ein Ende zu setzen. Als der deutsche General Hoffmann im Januar 1918 erklärte, das russische Beharren auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker entbehre jeglicher Grundlage und ultimative Gebietsforderungen erhob, erbat Trotzki eine Verhandlungspause.

Bild © Furfur/wikimediaIn Petrograd traf er auf die Führung der Bolschewiki, die gespalten war zwischen jenen, die eine Fortsetzung und Ausweitung des Krieges zu einem revolutionären Bürgerkrieg forderten, und denjenigen, die für eine Annahme der Friedensbedingungen eintraten. Trotzki überzeugte seine Genossen, aus dem Krieg auszutreten, ohne einen Vertrag zu unterzeichnen: „Weder Krieg noch Frieden“ lautete seine Parole, als er im Februar an den Verhandlungstisch zurückkehrte.

Doch was im Kreise der führenden Bolschewiki wie ein geglückter Kompromiss zwischen streitenden Fraktionen ausgesehen hatte, erwies sich als strategischer Offenbarungseid. Nachdem sich die Unterhändler der Mittelmächte von ihrer ersten Überraschung erholt hatten, nahmen die Militärs die Einladung zum ungehinderten Vormarsch dankend an. Innerhalb weniger Tage drang die deutsche Armee immer weiter nach Osten vor und bedrohte schließlich Petrograd. In höchster Not unterzeichnete die sowjetrussische Seite schließlich einen Vertrag, dessen Bedingungen sie einige Wochen zuvor noch als unannehmbar zurückgewiesen hätte. Lenin setzte diese Entscheidung mit dem Argument durch, dass sich nur so die Revolution – und damit die Hoffnung auf ihre Ausbreitung nach Westen – retten lasse.

Perspektiven und Konsequenzen

Die Reaktionen auf den Friedensschluss fielen unterschiedlich aus. In Russland mochten nur wenige Lenins Deutung folgen, dass die Revolution den Frieden als „Atempause“ zwingend benötigt hatte. Zu schwer wogen in den Augen der meisten die Verluste. Die Linken Sozialrevolutionäre, die bis dahin mit den Bolschewiki eine Koalitionsregierung gebildet hatten, zogen ihre Volkskommissare unter Protest zurück. Und auch unter den Kommunisten zweifelten selbst führende Kader an der Richtigkeit der getroffenen Entscheidungen: Viele hätten es bevorzugt, einen „revolutionären Krieg“ zu entfesseln, was angesichts der militärischen Situation nichts anderes als Selbstmord bedeutet hätte.

Für die Gegner der Bolschewiki war die Sache ohnehin klar: Das Abkommen sei für Russland entehrend. In Deutschland waren die Meinungen gleichfalls geteilt. Während die Reichsleitung und konservative Schichten jubelten, da die Fortsetzung des Krieges gegen die Entente nun gesichert schien, warnten andere vor den unabsehbaren Konsequenzen des Abkommens: Was, wenn Russland künftig wieder erstarken und Revanche nehmen würde? Hätte man sich nicht mit Blick auf das von allen Vertragspartnern immer wieder betonte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ entgegenkommender zeigen müssen?

Bereits kurz nach Unterzeichnung des Vertrags zeigte sich, dass der Triumph der Mittelmächte keineswegs so eindeutig war, wie zunächst angenommen: die – zumindest rudimentäre – Besatzung und Verwaltung der eroberten Gebiete erforderte einen hohen personellen Aufwand und die Hoffnungen, die insbesondere in den Vertrag mit der Ukraine gesetzt worden waren, erfüllten sich nur teilweise: Die Lieferungen von Getreide, Vieh und anderen Rohstoffen liefen allenfalls schleppend an. Nicht selten bedurfte es zunächst erheblicher Investitionen, um im Krieg zerstörte Infrastrukturen wieder in Gang zu bringen.

Momentaufnahme im dynamischen Prozess

Der Vertrag von Brest-Litowsk war eine Momentaufnahme in jenem gewaltsamen und dynamischen Prozess, der die politische Ordnung Osteuropas grundlegend veränderte. Zunächst einmal trug das Abkommen entscheidend zum Sieg der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg bei, der 1918 in vollem Umfang ausbrach. Ohne die Bedrohung aus dem Westen konnten sie ihre militärischen Ressourcen ausschließlich für den Kampf innerhalb des Landes einsetzen. Vor allem dafür hatte sich Lenins hoher Einsatz gelohnt. Hinzu kam, dass im Vertrag von Versailles vom Mai 1919 die Verpflichtungen des Brest-Litowsker Abkommens annulliert wurden.

Doch nicht nur für die Zukunft der Sowjetunion war der Vertrag entscheidend. Er trug wesentlich zur Entstehung unabhängiger Staaten bei: Polen, Lettland, Estland, Litauen und Finnland standen (zumindest für zwei Jahrzehnte) nicht länger unter russischer beziehungsweise sowjetischer Herrschaft. Anders verhielt es sich im Fall der Ukraine, die unter dem militärischen Schutz der Mittelmächte nur einige Monate formal unabhängig blieb.

Die sowjetische und auch die russische Historiographie folgten in ihren Bewertungen des Vertrags weitgehend der bereits von Lenin vorgegebenen Linie: Das Abkommen sei mit erheblichen Opfern verbunden gewesen, zu denen es keine Alternative gegeben habe, da andernfalls eine totale Niederlage gedroht hätte.

Deutsche Historiker haben sich neben einer minutiösen Rekonstruktion der Ereignisse am Verhandlungstisch unter anderem mit der Frage beschäftigt, ob Kontinuitätslinien zwischen dem Abkommen von 1918 und dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 bestanden.

In jüngster Zeit hat sich die Forschung verstärkt dem lange Zeit vernachlässigten Einfluss Brest-Litowsks auf die Staaten und Gesellschaften Ostmitteleuropas zugewandt und den Zusammenhang zwischen den Verhandlungen dort und jenen in Versailles betont. Damit wird deutlich: Die Geschichte des Vertrags von Brest-Litowsk ist nicht in erster Linie eine deutsch-russische, sondern eine europäische Geschichte. 


Zum Weiterlesen
Baumgart, Winfried (1966): Deutsche Ostpolitik 1918: Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Wien
Chernev, Borislav (2017): Twilight of Empire: The Brest-Litovsk Conference and the Remaking of East-Central Europe, 1917-1918, Toronto
Haffner, Sebastian (1988): Der Teufelspakt: Die deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, Zürich
Schattenberg, Susanne (2011): 1918 – Die Neuerfindung der Diplomatie und die Friedensverhandlungen in Brest-Litovsk, in: Stadelmann, Matthias/Antipow, Lilia (Hrsg.): Schlüsseljahre: Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte: Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag, Stuttgart, S. 273-292
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