Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Zum 1. Januar 2022 lebten hier rund 1,5 Millionen Menschen (zum Vergleich: Kyjiw – rund 3 Millionen). Charkiw liegt im Nordosten des Landes, vom Zentrum bis zur nächsten russischen Grenze sind es rund 40 Kilometer. Darum trifft Russlands Krieg gegen die Ukraine die Metropole besonders hart: Raketen brauchen kaum mehr als 30 Sekunden bis zum Einschlag, Angriffsdrohnen wenige Minuten. Im Frühjahr 2022 drang die russische Armee bis zum äußeren Schnellstraßenring vor und überzog die Stadt mit Artilleriefeuer. Die Folgen sind bis heute sichtbar im Stadtbild.
Charkiw verfolgte jahrzehntelang der Ruf einer russischsprachigen, russlandfreundlichen bis pro-russischen Stadt. Ein Narrativ, das seit Sowjetzeiten von Moskauer Staatsorganen propagiert wurde. Doch auch hier trafen Russlands Truppen 2022 nicht auf offene Arme, sondern erbitterten Widerstand und Verteidigungswillen. Seitdem beschäftigen sich die Menschen in Charkiw verstärkt mit ihrer ukrainischen Stadtgeschichte. Und stoßen dabei auf Charkiw als Jahrhunderte alte Keimzelle und Laborraum für ukrainische und ukrainischsprachige Literatur und Publizistik.
Der ukrainische Politikwissenschaftler Ruslan Zaporozhchenko von der Karasin-Universität in Charkiw beschreibt in seiner essayistischen Gnose aus persönlicher Perspektive, als Forscher und Charkiwer, was seine Stadt für die ukrainische Literatur und die Literatur für Charkiw bedeutet – gerade heute im Russisch-Ukrainischen Krieg.
Mai 2022: Während die russische Armee mit Luftangriffen und Bodenoffensiven versucht, Charkiw zu besetzen, wird in der als Schutzraum nutzbaren städtischen Metro gelesen. / Foto © Aziz Karimov/IMAGO/ZUMA Press Wire
Die Luftalarm-Sirenen sind in Charkiw mittlerweile so vertraut, als wären sie ein gewöhnliches Stadtgeräusch. Sie sind fester Bestandteil des Lebens hier. Wie das quietschende Bremsen der Straßenbahn in einer Kurve oder die Stimme des Verkäufers, der Neuveröffentlichungen aus den Regalen seiner Buchhandlung anpreist. Über der Stadt hängt nicht nur Angst, sondern auch Beharrlichkeit – so massiv wie der Stahlbeton ihrer Architektur und ebenso still, wie ein in ein Zhadan-Buch vertiefter Mensch in der U-Bahn.
In dieser Stadt, in der immer wieder russische Raketen auf ukrainische Druckereien zielen, wird das Buch zu einem Symbol des Widerstands. Denn Charkiw ist nicht einfach nur eine frontnahe Großstadt, es ist auch die Frontstadt des ukrainischen Wortes. Es verteidigt sowohl Gebäude wie Erinnerungen und das Recht auf eine Zukunft. Die Stadt, die jahrzehntelang als russischsprachig galt, zeigt sich heute wieder als ukrainische Stadt – voller Stärke, Schmerz und Stolz. Und immer, wenn man den Eindruck hat, dass alles rundherum zerstört wird, eröffnet eine neue Buchhandlung oder wird ein neues Buch gedruckt.
Zwei Jahrhunderte des ukrainisches Wortes
Charkiw ist eine Stadt, die durch Gedrucktes spricht, und sich auf die Macht des Wortes besinnt. Bereits im 19. Jahrhundert wurden hier Zeitungen, philosophische Traktate und erste Lehrbücher auf Ukrainisch herausgegeben. Im 20. Jahrhundert wurde Charkiw nicht nur zur Hauptstadt der USSR, sondern auch zum Zentrum der Buchproduktion, das es auch heute noch ist.
In Charkiw wurde das Wort nicht nur gedruckt, es wurde auch von Rednerpulten und Bühnen verkündet, hier wurde die Sprache reformiert. 1795 eröffnete in Charkiw das erste professionelle ukrainische Theater, welches den Grundstein für die Geschichte der modernen ukrainischen Bühnenkunst legte. An der Karasin-Universität (damals noch Kaiserliche Universität Charkiw) wurde 1805 die erste Vorlesung in ukrainischer Sprache gehalten. 1928 wurde hier die Charkiwer Rechtschreibung eingeführt, die die west- und zentralukrainischen Sprachtraditionen vereinte und mit der Skrypnykiwka eine Norm etablierte, die sich an der lebendigen Sprache des Volkes orientierte.
Das Charkiwer Budynok Slowo (dt. Wort-Haus) ist heute ein Wohngebäude mit Gedenktafel für die in den 1930er Jahren repressierten ukrainischen Kunstschaffenden. / Fotos und Collage © Peggy Lohse/dekoder, 05/2024
In der Sowjetzeit entwickelte sich die Stadt zunächst zum pulsierenden Herzen der ukrainischen literarischen Renaissance, später jedoch wurde sie zur Grabstätte dieser sogenannten Erschossenen Wiedergeburt: 1930 wurde das Slowo-Haus (dt. Wort-Haus) bezogen, ein Wohnhaus für ukrainische Schriftsteller, Künstler, Übersetzer, Dramaturgen und Dichter, in der Straße der roten Schriftsteller (Ukr. Wulyzja Tscherwonych Pysmennykiw, heute Straße der Kultur). Sein Grundriss erinnert an den ukrainischen Buchstaben „C“ (dt. S). Das Slowo-Haus wurde zu einer Utopie in Stein – ein Haus für Künstler, die die Zukunft gestalten wollten.
Aber wie sich ein paar Jahre später herausstellte, „gab es natürlich gewichtigere Gründe. Hatte man alle schreibenden Ukrainer an einem Fleck versammelt, war es leichter ihr tägliches Leben zu überwachen. Der NKWD hatte hier seine Augen und Ohren, mit deren Hilfe er genau wusste, was sich in dem Haus tat.“1 Die Zukunft erwies sich in Stalins Logik als Todesstrafe.
Das Slowo-Haus verwandelte sich in eine steinerne Metapher des Verlustes, hier wurden die Künstler von einem System vernichtet, das keine Freiheiten duldete. Von den mehr als 60 Bewohnern des Hauses wurde der Großteil Opfer von Repressionen, erschossen, oder in den Selbstmord getrieben.
Die Vernichtung des Slowo-Hauses als kreativer Raum bedeutete den Beginn der systematischen Russifizierung der Stadt. In der Folge verschwand die ukrainische Sprache nach und nach aus den Buchhandlungen, Theatern und Universitäten. Nicht infolge einer natürlichen Zweisprachigkeit, sondern als Folge von Angst und Terror.
In der Nachkriegszeit entwickelte sich Charkiw zu einem Labor sowjetischer Sprachassimilierung. Das Ukrainische verlief sich nach und nach im Russischen, aber das bedeutete nicht, dass es völlig verschwand. Im Gegenteil: Das Ukrainische überlebte in Zwischenräumen, an der Peripherie, an unscheinbaren Orten – etwa in Familien, die verbotene Bücher aufbewahrten, in Lesezirkeln, die verbotene Texte – auf der Schreibmaschine mit Pauspapier vervielfältigt – lasen, in Studentenküchen, in denen die Sprache zur Möglichkeit wurde, aus der sowjetischen Schablone auszubrechen. Das Ukrainische existierte still, angespannt und oft namenlos, jedoch als lebendige, tief verwurzelte Alternative zur offiziellen Sprachlandschaft.
Charkiws literarische „Explosionen“
Charkiw ist eine Stadt, in der die Literatur stets in Momenten höchster Anspannung auftaucht: zwischen befreienden Gesten und repressiven Antworten, zwischen dem Glauben an die Macht des Wortes und der Angst vor dem Preis, den man dafür bezahlen würde.
In den 1920er und 1930er Jahren war Charkiw das Epizentrum der ukrainischen literarischen „Explosion“, die im osteuropäischen Kontext kaum Entsprechungen kennt. Hier schuf eine mächtige Kohorte an experimentellen Schriftstellern und Vertretern der Moderne eine neue Sprache der ukrainischen Kultur: Mykola Chwylowyj mit seiner deklarativen Idee eines „psychologischen Europas“, der Sprachkünstler Majk Johansen – einer der Väter der ukrainischen Avantgarde, der Futurist und Provokateur Mychajlo Semenko, Mychajlo Jalowyj, Walerjan Pidmohylnyj und Mykola Kulisch. Sie alle schrieben nicht nur, strebten in ihrer Arbeit danach, modern, frei und ohne Angst zu sein.
Charkiws literarische Tradition überlebte die stalinistische Tyrannei, die sowjetische Auslöschung der Erinnerungen, die 1990er und erlebt nun im 21. Jahrhundert ihre Wiedergeburt. Heute ist Serhij Zhadan ihr wichtigster Vertreter. Er ist nicht nur Dichter, sondern auch Kulturaktivist, freiwilliger Helfer und international populärer Intellektueller, dem es gelang, die Lyrik zu einer Waffe der emotionalen Mobilisierung zu machen. Sein Charkiwer Slang, seine urbanistischen Bilder und seine diversen Musik-Projekte verwandeln sein Wort immer wieder neu in ein Event.
Charkiws Renaissance erneut unter russischer Bedrohung
Im 21. Jahrhundert zielt die russische Armee nun wieder auf Charkiws Kunstschaffende, Theater, Buchläden und Druckereien, als würde sich die Geschichte wiederholen. Aber so paradox es klingen mag: Während und trotz der Angriffe wird weiter gedruckt, und Charkiw bleibt Zentrum der Buchproduktion. Unter den ukrainischen Verlagen, die 2025 bisher am meisten Bücher verkauften, befinden sich drei Charkiwer Verlage in den Top-Rängen2: Ranok, Vivat, Klub simejnoho doswillja. Gemeinsam produzieren sie 40 Prozent der auf dem ukrainischen Markt publizierten Bücher.
Ein „Buchbunker“ für Charkiw: Am 1. März 2025 eröffnete der Verleger Oleksandr Sawtschuk im Zentrum seine Knyhoukryttja. / Foto © Peggy Lohse/dekoder, 06/2025
In Charkiw eröffnen auch während des Krieges neue Buchhandlungen3, und jede von ihnen wirkt wie ein vorübergehender Schutzraum für die Kultur, so etwa das neue Knyhoukryttja (dt. „Buchbunker“) – eine Buchhandlung mit Café und Schwerpunkt auf Charkiwer Ukrainistik.
Wichtige Träger der literarischen Stimmen Charkiws bleiben auch die unabhängigen Literatur- und Kulturzeitschriften sowie Festivals. Das beste Beispiel dafür ist die Zeitschrift Ljuk – ein urbanistisches Kulturjournal, das dokumentarische Reportagen, Essayistik, Interviews, Gedächtnisanalysen und Alltagserzählungen vereint. Beim literarischen Journalismus im heutigen Charkiw geht es nicht nur um Texte: Es geht um den Mut zu sprechen, wenn rundherum Schweigen des Verlustes herrscht.
Ein anderes Beispiel ist das Kulturfestival Pjatyj Charkiw (dt. Das fünfte Charkiw), dessen Name auf die Idee der Stadt als vielschichtiger Text anspielt – hier treffen Universität, Druckerei, Front, die U-Bahn-Station als Luftschutzraum und Bühne aufeinander. Das Majk Johansen Fest holt jedes Jahr den Avantgarde-Künstler Johansen aus der Verborgenheit zurück und schafft Raum für neue kulturelle Kommunikation zwischen Generationen, Gattungen und Städten. Das Kunst- und Literaturfestival Meridian im Juni 2025 umfasste elf Veranstaltungen von Buchpräsentationen, Dichterlesungen bis zu Autorentreffen. Hinter vielen Literatur- und Kulturveranstaltungen Charkiws steht das selbst während des Krieges umtriebige Charkiwer Literaturmuseum.
Und Ende August 2025 ließ jener populäre Serhij Zhadan mit noch einem neuen Charkiwer Literaturfestival Literaturny Jarmarok auch das gleichnamige unabhängige Satire- und Kunst-Journal – gegründet 1928 von Chwyljowyj, zwölf Ausgaben erschienen bis Februar 1930 in Charkiw – wieder aufleben.
Porträts und Zitate an den Gartenmauern des Charkiwer Literaturmuseums: „Nur die Freiheit garantiert echte Liebe. Echte Freundschaft. Echtes alles“ von Irena Karpa (2006) und „ … Die Erinnerung – sie ist wie du. Erinnerung ist Stimme und Daten. Man kann sie immer vergessen, man kann sich immer erinnern. *Erinnerst du dich? – frage ich*“ von Serhij Zhadan aus „Zhyttja Mariji“ (2015, dt. Marias Leben). / Foto © Peggy Lohse/dekoder, 02/2025
Die Charkiwer Ethik des Überlebens
In dieser Großstadt, in der man Gedichte liest, während die Sirenen heulen, wird das literarische Leben nicht als Luxus oder Flucht wahrgenommen, sondern als Form des Widerstands und Möglichkeit, im Hier und Jetzt zu sein. Das heutige literarische Charkiw bedeutet Erinnerung an unterdrückte Kunst und den lebendigen Widerhall ihrer Motive in der Gegenwart. Neue Narrative entstehen in Luftschutzkellern, auf Konzerten mit freiem Eintritt und Spendenaufruf für die Armee, auf den Buchseiten, die dem Krieg zum Trotz gedruckt werden. Wie ein Beweis dafür, dass die Tradition nicht abreißt, sondern sich verändert, dass das Wort sogar unter den schlimmsten Bedingungen überlebt.
In der heutigen Charkiwer Kultur geht es nicht um Ästhetik, nicht um Stile oder literarische Schulen. Es geht um die Ethik des Überlebens, um die Fähigkeit der Kultur weiterzumachen, selbst wenn rundherum Tod und Vernichtung herrschen. Verleger, die geblieben, sind auch freiwillige Helfer des Kulturbetriebs. Ihre Arbeit ist mehr als ein Geschäft, es ist ein Akt des Glaubens an die Zukunft. Die Menschen, die während der Luftangriffe in den U-Bahn-Stationen lesen, verkörpern Stärke und Würde, wenn sie Bücher anstelle von Angst wählen. In Charkiw werden in Kellern Literaturabende abgehalten, wo es statt Scheinwerfern von Generatoren betriebene Lampen gibt und statt einer Bühne nackten Beton. Dass die Poesie dennoch erklingt, bedeutet für die Stadt: Das Wort wiegt hier mehr als die Form.
Die Nachfrage nach ukrainischen Büchern in Charkiw ist kein vorübergehender Hype. Sie ist eine Geste der Solidarität, Selbsterkenntnis und Positionierung. Die Menschen lesen nicht einfach nur auf Ukrainisch – sie suchen bewusst nach ukrainischen Büchern, unterstützen die Verlage, entdecken neue Texte, bringen vergessene Namen zurück.
Charkiw, das noch vor kurzem „zweisprachig“ oder gar „russischsprachig“ genannt wurde, wird immer mehr zu einer Stadt der ukrainischen kulturellen Front, wo kein Buch, keine Reportage, kein Lied eine Flucht vor der Realität darstellt, sondern – im Gegenteil – eine Möglichkeit sie zu verändern und ihre Einzigartigkeit zu erkennen. Hier ist die Kultur zu einer Form des Widerstands geworden, und die Sprache zu einem Instrument der Identitätsbildung. Vielleicht ist das sogar die wichtigste Veränderung, die sich in den letzten Jahren ereignet hat.
Charkiw druckt die Zukunft
Charkiw wird als Stahlbeton-Stadt bezeichnet: eine Stadt, die Angriffen standhält, ohne ihr Gefühl für Freiheit, Mut und Durchhaltevermögen zu verlieren. Unter dem Grau der Stahlkonstruktionen und dem Schmerz des Krieges schlägt ein Herz aus Worten. Vielleicht aus genau diesem „Wort“ (ukr. slowo), das im vorigen Jahrhundert das Ukrainisch-Sein neu bewertet hat. Heute erschafft Charkiw wieder neue Bedeutungen, trotz der Ruinen und Verluste, trotz der Raketen und Sirenen – allem zum Trotz, in Büchern, in Texten, in den Stimmen seiner Bewohner.
Unter dem Grau der Stahlkonstruktionen und dem Schmerz des Krieges schlägt ein Herz aus Worten.
Genau hier in Charkiw, der Stadt, über der lange der Schatten der sowjetischen Zweideutigkeit schwebte, bildet sich nun ein neues ukrainisches Selbstverständnis: ohne Kompromisse, ohne Angst, ohne der Notwendigkeit, etwas beweisen zu müssen. Der Krieg, so grausam er auch ist, hat das offengelegt: Charkiw fungiert nicht nur als Abwehrschild. Es ist ein „Dialekt“ der Kultur, eine bemerkenswerte Form der ukrainischen Identität, die nicht nur Bücher druckt, sondern gleich eine ganze Zukunft.
Diesen Beitrag veröffentlichen wir als Teil einer Gnosen-Reihe über die Ukraine in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS).