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Wladimir Shirinowski

Wenn im russischen Fernsehen ein massiger Mann mit kurzem grauem Haar, lockerer Krawatte und eindringlicher Mimik drohend den Zeigefinger schüttelte, konnte man sich schon recht sicher sein: Es ist Wladimir Shirinowski, und er ist wütend. Diese leidenschaftlichen Ausbrüche konnten alles und jeden treffen, doch mit Vorliebe richtete Shirinowski seine Wut auf die angeblichen Feinde Russlands und der russischen Nation. Der landesweit bekannte Politclown war erster und einzig denkbarer Chef der nationalistischen Liberal-Demokratischen Partei Russlands (LDPR – Liberalno-Demokratitscheskaja Partija Rossii) und zugleich hochdekorierter Staatsdiener. Regelmäßig sprengte er mit rassistischen Ausfällen die Grenzen des Sagbaren. Kurz, die russische Öffentlichkeit wäre anders ohne Wladimir Shirinowski.

Wladimir Wolfowitsch Shirinowski wurde im Jahr 1946 im kasachischen Alma-Ata geboren. Seine Familie war arm, sein Stiefvater hatte nichts für ihn übrig. Der fortgezogene Vater war jüdischer Abstammung, den Nachnamen Eidelstein legte Shirinowski mit 18 Jahren ab. Auf seine Eltern angesprochen, antwortete Shirinowski einmal mit dem legendären Satz: „Meine Mutter war Russin, mein Vater Jurist.“1 Zum Studium ging er an die Moskauer Staatliche Universität, wo er orientalische Sprachen (er sprach fließend Türkisch) und später Jura studierte – und spätestens hier begannen die Gerüchte. Seine ersten Jobs hatte er in staatlichen Einrichtungen, die unter strenger Aufsicht des Geheimdienstes KGB standen. Vom Journalisten Wladimir Posner darauf angesprochen, stritt er persönliche Verbindungen zum Geheimdienst ab, leugnete jedoch nicht, dass sein eigenes politisches Projekt während der Perestroika vom Staatsapparat als „unabhängige Alternative“ gefördert wurde.

So fand Shirinowski in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren in die Politik; seine LDPR ist seit 1993 konstant im Parlament vertreten. Er selbst inszenierte sich von Beginn an erfolgreich als Gegenentwurf zum verstaubten Parteibürokraten: er war laut, von derbem, aber treffendem Humor und sprach in kurzen, verständlichen Sätzen. Noch 1990 erklärte er: „Mein Programm ist wie das von jedem anderen: Perestroika, freier Markt und Demokratie!“2 und knüpfte Kontakte zu liberalen Parteien in Westeuropa3. Doch bald schon entdeckte er die nationalistische Nische für sich. Der drohende Zerfall des Staates, wirtschaftliche Not und Orientierungslosigkeit bereiteten den Boden für das Bedürfnis nach Ordnung und alter Stärke. Das versprach Shirinowski. Bis zu seinem Lebensende trat er für eine aggressive Großmachtpolitik ein4 und sah die russische Nation von allen Seiten bedroht: Von innen durch Jelzins „falsche Demokraten“5 oder „ausländische Agenten“  und von außen wahlweise durch die muslimische Welt, den Zionismus oder die USA. Seine Kontakte in die westliche rechtsradikale Szene (unter anderem zum damaligen DVU-Chef Gerhard Frey), seine Parolen einer atlantisch-israelischen Verschwörung gegen Russland und seine provokativen Vorschläge zur Neuaufteilung der Territorien Mittelosteuropas brachten ihm den Spitznamen „Adolfowitsch“ ein.

Wenngleich rechtsradikale Stimmungsmache eine Konstante Shirinowskis war, überraschte er hin und wieder mit sozialpolitischen Positionen, die ins Bild des Chauvinisten nicht recht passen wollten. So erklärte er Homosexualität zu einem Teil der menschlichen Natur, prognostizierte die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Russland6, und empfahl der russischen Bevölkerung auf Fleischkonsum zu verzichten7 – er selbst lebte nach eigenen Angaben seit 2013 vegetarisch. Weniger als seine sozialpolitische Liberalität demonstrierten solche Aussagen jedoch Shirinowskis ideologische Unangreifbarkeit und sein Selbstbild als jemand, der schonungslos sagt was er denkt – unabhängig von zu erwartenden Folgen. Dazu gehörte auch, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Und so war Shirinowski regelmäßig dabei zu beobachten, wie er andere vor laufenden Kameras übel beleidigt und tätlich angreift – beispielhaft ist seine Saftattacke auf Boris Nemzow8 aus dem Jahr 1995.

So grotesk die Figur Shirinowskis auch wirken mag, war er doch alles andere als lächerlich. Denn Shirinowski, der seit 1991 bei jeder Präsidentschaftswahl kandidierte, erfüllte im politischen System eine wichtige Funktion. Einerseits betrieb er rhetorische Frontalopposition zu Putins (Innen-)Politik und zog damit nationalistische Protestwähler auf seine Seite. Andererseits ließ er seine Fraktion mit der Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) abstimmen, lobte Putins Außenpolitik und hielt die Protestwähler so im System: Shirinowski, der zuverlässig unberechenbare Demagoge, starb offiziellen Angaben zufolge im April 2022. Mit der von ihm vollständig kontrollierten LDPR war er stets ein zuverlässiger Puffer an Putins rechter Seite.

Aktualisiert am 06.04.2022


1.Eatwell, Roger (2002): The rebirth of right-wing charisma? The cases of Jean-Marie Le Pen and Vladimir Zhirinovsky, in: Totalitarian Movements & Political Religions, 3(3), S. 1-23
2.Golosov, Grigorij (2004): Political parties in the regions of Russia: Democracy unclaimed, Boulder, S. 24
3.Luchterhandt, Galina (1994): Die Entfesselung der Marionette: Wladimir Schirinowski und seine LDPR, S. 122, in: Eichwede, Wolfgang (Hrsg.): Der Schirinowski-Effekt: wohin treibt Russland?, Reinbek bei Hamburg, S. 117-142
4.Siehe z. B. sein Buch Poslednij brosok na jug (dt. Der letzte Durchbruch nach Süden), das mehrfach neu aufgelegt wurde.
5.Foreign Affairs: The Zhirinovsky Threat
6.Doždʼ: Vladimir Žirinovskij: zakon ob odnopolych brakach kogda-nibudʼ primut i u nas
7.Ria Novosti: Žirinovskij: partija LDPR postepenno perejdet na vegetarianskuju pišču
8.Dem Angriff ging eine Provokation Nemzows voraus, der aus einem Playboy-Artikel über Shirinowskis Sexualverhalten referierte.
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