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Clockwork Mandarin

Im September 2013 hat der chinesische Staatspräsident Xi Jinping seinen Plan für die Neue Seidenstraße vorgestellt: Das Megaprojekt One Belt, One Road soll eines Tages nahezu ganz Eurasien sowie Ostafrika verbinden. 

Es war kein Zufall, dass Xi die kasachische Hauptstadt Astana (seit März 2019 Nur-Sultan) für die feierliche Präsentation wählte: Der Hauptzweig der Neuen Seidenstraße soll durch Kasachstan verlaufen, außerdem leben in der chinesischen Grenzregion Xinjiang neben Uiguren auch etwa 1,5 Millionen ethnische Kasachen.

Seit Jahren sickern aus Xinjiang Gerüchte durch, die viele an Orwells 1984 erinnern: Totale Überwachung, Verfolgung von Minderheiten, Folter und Umerziehungslager, in denen mehr als eine Million Menschen interniert sein sollen. Ein Territorium von der dreifachen Größe Frankreichs, „verwandelt in ein Gefängnis unter freiem Himmel“. Das schreiben die russischen Journalisten Konstantin Salomatin und Schura Burtin. Für Russki Reporter haben sie in Almaty mit kasachischen Flüchtlingen und einem russischen Wissenschaftler gesprochen: darüber, warum Kasachen in Lager geworfen werden und weshalb Kasachstan und andere Länder zu der entsetzlichen Tragödie von Xinjiang schweigen. 

Quelle Russki Reporter

Foto © Konstantin Salomatin

„Adem jok“

Im Jahre 1915 wurde der deutsche Offizier Armin Wegner, der die Eisenbahnlinie nach Bagdad bewachen sollte, Zeuge von Szenen der Vernichtung der armenischen Zivilbevölkerung. Er sah die Konzentrationslager in der Wüste, zehntausende Frauen und Kinder, die unter der Aufsicht türkischer Soldaten an Hunger und Durst verendeten. Wegner begann, Informationen, Zeugnisse und Dokumente zu sammeln und das Geschehen zu fotografieren. Die Aufnahmen übergab er an seine Befehlshaber. Man konfiszierte und zerstörte sie. Wegner selbst wurde verhaftet und nach Deutschland zurückgeschickt. Dennoch gelang es ihm, die Negative unter seinem Gürtel zu schmuggeln. Wegner begann die Aufnahmen in alle Welt zu versenden und die Katastrophe, die sich im Osten der Türkei vollzog, publik zu machen. Er schrieb sogar einen Brief an den amerikanischen Präsidenten Wilson. Aber wer sollte glauben, dass eine Regierung einfach so Millionen der eigenen Bürger ermordet?

Im Jahre 1942 drang der polnische Partisan Jan Karski als deutscher Soldat verkleidet in das Warschauer Ghetto und das Konzentrationslager Belzec ein. Daraufhin entsandte ihn die Armija Krajowa mit einem Vortrag und Mikrofilm für die Regierungen Großbritanniens und der USA nach London. Karski sollte dem Westen über die Vernichtungslager der Nazis berichten. Er versuchte Politiker, Beamte und Journalisten zu treffen, um ihnen von der allumfassenden Vernichtung der Juden Osteuropas zu erzählen. Aber niemand glaubte ihm, selbst die Juden nicht, denn was er erzählte, war schlicht unglaublich. In Amerika wurde Karski von Präsident Roosevelt empfangen. Nach dem Vortrag soll dieser gefragt haben: „Und wie steht es um die Pferde in Polen?“

Im September 2017 kehrte der Linguist Shenja Bunin aus Zentralchina nach Hause zurück, nach Xinjiang, um die Arbeit an seinem Buch über die uigurische Sprache fortzusetzen.  

Uigurische Stadtteile in Kaxgar, September 2007. Eine Welt, die es so nicht mehr gibt / Foto © Konstantin Salomatin

Das erste, was er bemerkte, waren die vielen geschlossenen Läden und Geschäfte. Überall leere Flächen. Den Verbliebenen hatte man aufgetragen, ihre Türen mit Eisengittern zu verbarrikadieren. Man musste nun zuerst klingeln, bevor man eintreten konnte. Auf den Straßen fuhren Polizeiwagen mit Sirenen Streife und überall war Stacheldraht: vor Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern und Tankstellen. Die Stadt war versiegelt, alle 300 Meter eine Straßensperre mit Betonbuden, Draht, einem Haufen Polizisten, Soldaten und überall lange Schlangen von Uiguren. Man kontrollierte alles: ihre Papiere, Taschen, Telefone. Schon um lediglich auf den Markt zu gelangen, mussten jetzt ein Metalldetektor und zwei Checkpoints passiert werden. 

„Chinesen und Ausländer liefen entspannt ohne Kontrollen durch, das sah verrückt aus“, sagt Bunin. „Den Uiguren und Kasachen nahmen sie die Pässe weg und schickten sie zu Meldestellen. Vielen hat man verboten, ihren Bezirk zu verlassen.“

„Plötzlich verschwanden Menschen. Wohin weiß niemand. Es kann sein, dass sie einen einfach nur in sein Heimatdorf zurückgeschickt haben, vielleicht aber auch in ein Konzentrationslager. Beim Schlendern durch die Stadt sah ich immer wieder mir bekannte geschlossene Läden. Wenn ich fragte, wohin die Person verschwunden war, antworteten die Nachbarn aus Angst entweder gar nicht, oder sie sagten einfach „jok“ (dt. „weg“). ‚Dieser Mensch ist ‚jok‘, verstehst du, was ich meine?‘, sagte mir ein Bekannter über einen anderen. ‚Der hat jetzt ein anderes Haus.‘
Manchmal sagten sie: ‚Er ist zum Studieren weggegangen.‘ Das wurde zu einem gängigen Euphemismus. Ein Koch sagte in einem Kaffee zu Shenja, dass in den Dörfern Süd-Xinjiangs beinahe niemand mehr verblieben war: ‚Adem jok.‘

Friseure in Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Atashjurt

Almaty ist eine nette Stadt mit sowjetischer Architektur aus der Periode des Brutalismus. Sie befindet sich in einer Kluft zwischen den Bergen. Wer hochsteigt, kann Wasserfälle und Canyons besichtigen. Und wer hinabsteigt, hat hundert Kilometer Wüste und Sanddünen vor sich. Es ist die europäischste Stadt Zentralasiens mit Russisch als meistgesprochener Sprache, akzentfrei. Die Menschen stammen aus der Mittelschicht, sind sehr offen und entgegenkommend. 

Ich habe den Anstecker meines Mikrofons kaputt gemacht. In einem Einkaufszentrum habe ich einen Ersatz gefunden, aber sie nehmen hier keine Karte. Ich hatte nur 500 Tenge in der Tasche. Neben mir stehen ein paar Kasachen, ein Typ und ein Mädchen: „Hier, kommen Sie, nehmen Sie die dreihundert. Es ist nicht viel, aber trotzdem.“ 

Wir laufen sofort ins Büro von Atashjurt, einer Organisation, die Flüchtlingen aus Xinjiang hilft. Wir dachten, dass wir uns schnell mit Serikshan Bilasch bekannt machen und dann sofort ins Hotel weiterfahren, um uns vom Flug auszuruhen. Aber wie sich herausstellt, erwartet man uns. Zwei Zimmer prallvoll mit Menschen. An den Wänden hunderte Fotos ihrer in den Lagern verschwundenen Verwandten. Viele sind extra aus ihren Dörfern und aus anderen Städten hergekommen, um uns Interviews zu geben. Vier Dutzend Menschen. Mir wird klar, dass man uns als Geiseln genommen hat und erst wieder entlässt, wenn wir mit allen geredet haben. 

Wir reden, und reden, und reden – bis es dunkel ist. Wir haben schon lange aufgehört etwas zu verstehen, verlassen uns nunmehr nur noch auf unsere Kameras. Wir notieren Namen, sagen Ja und Amen und nicken mit den Köpfen. Die Gesichter sind längst zu einer grauen Masse verschmolzen. Alles, was sie erzählen, passt überhaupt nicht zu ihrer Erscheinung. Die Mehrheit sind hundertprozentige Bauern, für die Politik ungefährlich und unnütz. Das letzte, was einem in den Sinn käme, wäre, sie mit Repressionen zu überziehen. Aber wir hören immer und immer wieder diesen unfassbaren, das Blut in den Adern gefrierenlassenden Wahnsinn:

Im Büro von Atashjurt, November 2018 / Foto © Konstantin Salomatin

„Sie haben mich sofort in den Keller geworfen. Dort gibt es eine Kammer, die in acht Zellen unterteilt ist. In der Zelle gibt es einen kleinen Schemel und über dem Kopf eine Lampe. Du sitzt da, und einmal am Tag rufen sie dich zum Verhör. Ich war acht Tage dort.“

„Sie haben mich in einer unangenehmen Pose an einen Stuhl gefesselt und mich zwei Tage lang verhört. Irgendwann habe ich einfach abgeschaltet und bin eingeschlafen. Plötzlich weckt mich ein Adhan (muslimischer Gebetsruf). Die Polizisten hatten ihn auf ihrem Telefon eingeschaltet. Ich bin zusammengezuckt, sie lachen. ‚Ein Muslim ...‘ Und so haben sie mich ins Lager geschickt wie einen Wahhabiten.“

„Jede Nacht hörte ich, wie jemand in seiner Zelle weinte.“

„Wenn irgendjemand aus Gewohnheit sagt „Salam Aleikum!“ oder „Al-hamdu li-lah!“, wird er bestraft. Sie schlagen ihn mit Elektroschockern, fesseln ihn, nehmen ihm für Tage das Essen weg und so weiter.“

„Nach drei Monaten habe ich es nicht mehr ausgehalten und meinen Kopf mit Anlauf gegen die Wand gedonnert. Ich wollte mich umbringen. Ich verlor das Bewusstsein. Als ich zu mir kam, haben sie mir gesagt: ‚Machst du das noch einmal, sitzt du für sieben Jahre.‘“

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Die Organisation Atashjurt wurde noch vor den Repressionen gegründet. Sie riefen die Kasachen dazu auf, nach Kasachstan zu ziehen, und halfen ihnen beim Erwerb von Boden. Es gelang ihnen, sechzig Familien herauszuholen, bevor die Grenze dicht gemacht wurde. Trotzdem ist es keine richtige Menschenrechtsorganisation mit bezahlten Mitarbeitern, sondern eher eine Freiwilligentruppe. Aber sie haben unheimlich viel getan, konnten Leute zusammentrommeln und sie westlichen Journalisten vorstellen. 

Es ist sofort klar, dass alle Stränge hier bei Serikshan Bilasch zusammenlaufen, ihrem charismatischen Anführer. Er ist witzig, energiegeladen und trifft sich zu jeder Tages- und Nachtzeit mit irgendwelchen Leuten. Er hat viel Geld gesammelt, tausende Dollar, und sie unter den Flüchtlingen verteilt. Dem einen für Medikamente, dem anderen für Lebensmittel und wieder anderen für die Miete. Die Geldquelle ist mittlerweile versiegt. Kasachische Geschäftsleute haben Angst zu spenden. 

Seine Frau ist sehr jung, eine Einheimische in engen Jeans und Hidschab. Wir unterhalten uns ganze zwei Wochen auf Englisch, bis sie versteht, dass ich Russe bin.

„Ihre Muttersprache ist Russisch? Ach, meine auch.“

Serikshan selbst ist kein Muslim, er geht nicht beten. Er sagt: „Schreib nicht, dass wir Muslime sind. Wir sind normale Leute. Man terrorisiert uns dafür, dass wir Kasachen sind.“

Gefängnisse und Lager gibt es in Xinjiang hunderte, und jedes hat seine ihm eigenen Spezifika. In manchen fesseln sie die Beschuldigten tagelang an den Tigerstuhl, woanders werfen sie einen in eine Zelle, in der man nur sitzen kann. Anderswo wird man in einer unbequemen Haltung an den Boden gekettet, oder in einer Wanne versenkt, und wieder woanders binden sie einen mit den Händen so an die Wand, dass man nur noch auf Zehenspitzen stehen kann, oder sie packen einen direkt auf die Folterbank. Es gibt eine ungezählte Vielfalt an Varianten. Nichtsdestotrotz ist dies ein System, das auf einem allgemeinen Plan basiert. Die Mehrheit der Menschen in den Lagern sind Bauern, deren Vergehen darin besteht, dass sie keine Chinesen sind. Sie unterliegen vergleichsweise einfachen Sicherheitsmaßnahmen. Die zweite Gruppe sind Verdächtige, auf deren Handy eine App fehlte; die ohne Erlaubnis ihren Stadtteil verlassen hatten und so weiter. Über sie wurde eine erhöhte Sicherheitsstufe verhängt. Die dritte Gruppe, die unter den härtesten Bedingungen inhaftiert ist, sind Gläubige. Sie sind zu langen Haftstrafen verurteilt, bis zu 30 Jahren. Die Imame sind härterer Verfolgung ausgesetzt als alle anderen. Sie erhalten die höchsten Haftstrafen. 

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

„Wir sind der Reihe nach vor die Klasse getreten und haben gebrüllt: ‚Ich habe an das Falsche geglaubt! Ich habe die Gefährlichkeit der Religion nicht verstanden! Ich habe nicht verstanden, dass die Kasachen ein rückständiges Volk sind! Ich habe nicht verstanden, dass die Kommunistische Partei uns befreit hat! Ich habe chinesisches Gesetz gebrochen! Jetzt verstehe ich! Ich danke der Kommunistischen Partei!‘ Dann mussten wir uns gegenseitig kritisieren.“

„Ich bin schuldig, weil ich die Gefahr der Religion nicht erkannt habe! Ich bin schuldig, weil ich einen Hidschab trug! Ich bin schuldig, weil ich gebetet habe! Ich bin schuldig, weil ich den Koran gelesen habe! Ich bin schuldig, weil ich meinen Kindern muslimische Namen gegeben habe! Ich bin der Kommunistischen Partei dankbar dafür, dass sie mich belehrt!“

„Vor dem Essen schrien wir: ‚Danke Partei! Danke Heimat! Danke Xi Jinping!‘“

„Wir mussten schreien: ‚Wir stehen in der unbezahlbaren Schuld des Staates und der Partei!‘“

„Tausende Male schrien wir: ‚Wir sind gegen Extremismus! Wir sind gegen Separatismus! Wir sind gegen Terrorismus!‘“

„Hältst du dich an die Gesetze Chinas oder an die Sharia?“
„An die chinesischen Gesetze!“
„Verstehst du, dass Religion gefährlich ist?“
„Ich verstehe, dass Religion gefährlich ist!“

Am nächsten Morgen wählen wir diejenigen aus, mit denen wir uns genauer unterhalten wollen.

Fotos von Gefängnis- und Lagerinsassen an der Wand im Atashjurt-Büro, März 2019 / Foto ©
Konstantin Salomatin

Yrgady

Yrgady ist ein kleiner Mann um die fünfzig aus Taldyqorghan. Offenbar hat er für das Interview seinen besten Anzug angezogen. Ein komisches Festtagssakko, wie bei einer Hochzeit, ein mehrfarbiges Hemd mit langem Kragen, spitze Schuhe. Ich fotografiere ihn und weiß, dass ich das Portrait nicht benutzen kann. Er sieht aus wie ein Drogendealer oder Zuhälter aus einer mexikanischen Serie. Yrgady ist der einzige gläubige Muslim unter meinen Gesprächspartnern. Er betet stündlich und geht freitags in die Moschee. Die meisten der hier Ansässigen sind nicht nur nicht religiös. Serikshan beschwert sich berechtigterweise sogar: „Warum schreibt ihr, dass wir Muslime sind? Wir sind normale, moderne Menschen. Man verfolgt uns aufgrund unserer Nationalität.“

„Ich habe als Straßenhändler gearbeitet, Sachen in China ge- und bei uns auf dem Markt verkauft. Im November 2017 fuhr ich, wie üblich, nach Korgas, und wurde schon an der Grenze verhaftet. Für die Einreise nach Kasachstan. Es befindet sich auf der Liste der Länder, in die die Einreise für Bewohner von Xinjiang verboten ist. Und das, obwohl ich schon lange in Kasachstan lebe. Man hat mich die ganze Nacht verhört und mich mit einem Eisenstab geschlagen. Auf meinem Telefon fanden sie einen Haufen verbotenes Zeug – Whatsapp, ein Foto meiner Frau im Hidschab und in meinem Verlauf die Website von Radio Asatlyk (der kasachische Dienst von Radio Svoboda). Für jede dieser Sachen werfen sie einen in China in den Knast.

Zwei Wochen lang hielten sie mich in Ketten. Egal, was wir machten, ob wir schliefen, irgendwo hingingen, oder saßen, wir trugen immer Ketten, die ganze Woche. Aber ich hatte noch Glück, denn da gab es einen, der schon ein Jahr lang Ketten trug. Zweimal täglich zogen sie mir einen schwarzen Sack über den Kopf und führten mich zum Verhör: Was machst du? Warum bist du hergekommen? Einmal am Tag bekamen wir etwas zu essen. Ein Mantou (ein Stück gedämpfter Reisteig ohne Fleisch) und eine Flasche Wasser. Alles, wovon ich träumte, war wenigstens noch ein Stückchen von diesen Mantou. Sie quälten uns mit Hunger, damit wir Geständnisse machten. Nach zwei Wochen schickten sie uns ins Lager. Vor dem Lager gaben sie mir eine Spritze in die rechte Schulter, angeblich eine Impfung. Die Stelle schmerzt bis heute.

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

In unserem Lager waren 10.000 Menschen. Allein im Bezirk Korgas gibt es drei solcher Lager. Das Lager ist in vier Zonen unterteilt. Ich war in der schlimmsten, sie war für die Gläubigen. Dort saßen ‚religiöse Extremisten‘. Viele waren zu zehn Jahren verurteilt, einer sogar zu 30. Sie wussten nicht, dass ich früher ein Imam war. Wenn sie das gewusst hätten, hätten sie mich niemals rausgelassen. Die hätten mich im Gefängnis verfaulen lassen. 

Die Zellen sind rund zehn Meter lang und sehr eng. In jeder sitzen 18 Menschen, zwei Menschen pro Bett. Man schläft zwei Stunden, dann folgen zwei Stunden Wache, bei der man auf einem Stuhl sitzt, dann kann man sich wieder hinlegen. Tagsüber saßen wir 12 bis 14 Stunden lang auf Plastikstühlen. Bewegen durfte man sich nur mit Erlaubnis des Aufpassers. Überall sind Kameras. Auf die Toilette hat man uns in Gruppen gebracht – zwei Minuten für Klein, drei für Groß. Wer zu lange gebraucht hat, wurde mit kaltem Wasser übergossen oder mit Schockern traktiert. Von den Schlägen und der Folter starben viele Menschen. Die Chinesen haben sie sofort beerdigt und notiert, dass die Person an irgendeiner Krankheit gestorben ist.“

„Haben Sie dort gebetet?“, frage ich den ehemaligen Mullah.

„Das war völlig unmöglich. Jede Ecke war videoüberwacht. Im Lager gab es Muslime, die versuchten fünf Mal am Tag heimlich zu beten. Aber man kassierte sie ein, schlug und verurteilte sie. Jeden Freitag haben sie uns im Hof aufgestellt und uns diese Häftlinge vorgeführt: ‚Wer betet, sitzt zehn Jahre.‘

Tief in meinem Herzen habe ich natürlich gebetet und geweint. Ich habe nie geglaubt, dass Allah mich verlassen hat. Jeden Abend vor dem Schlafen habe ich es wiederholt: ‚Herr, bitte, hilf mir das hier durchzustehen. Bitte, rette die Kasachen vor China.‘

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Als man mich ins Lager schickte, fing mein Vater in China an, die Institutionen abzuklappern und um Hilfe für mich zu bitten. Dafür haben sie ihn selbst verhaftet, er saß ein halbes Jahr im Gefängnis. Ich träumte davon, mich wenigstens irgendwie mit den Verwandten in Kasachstan in Verbindung zu setzen. Damit sie wüssten, wo ich bin, und versuchen würden, irgendwas zu tun. Ich konnte mich lange Zeit nicht dazu aufraffen, etwas zu unternehmen, ich war zu stark eingeschüchtert. Aber nach einem halben Jahr ist es mir dann gelungen: Ich riss ein Stück Stoff aus meinem Häftlingskittel, notierte darauf eine Nachricht und rollte es zusammen. Einer, der freigelassen werden sollte, nähte sie sich in die Kleidung. Dann fotografierte er die Nachricht und schickte sie meiner Frau. 

Im Dezember 2018 kam dann irgendeine Führungspersönlichkeit ins Lager. Man hat mich zu ihm gerufen und mir gesagt, dass ich freigelassen werde, weil meine Familie noch in Kasachstan lebe. Sie warnten mich, niemandem irgendetwas zu sagen. Ich erfuhr später, dass meine Frau viel Lärm für mich gemacht hatte. Aber als ich nach Korgas kam, von dort die Grenze überquerte, da habe ich plötzlich bemerkt, dass ich meine Muttersprache vergessen habe. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie man kasachisch spricht. Ich erinnerte mich fast an nichts – an all das, was ich euch jetzt erzähle. Mittlerweile kehrt meine Erinnerung wieder zurück, aber bis heute erinnere ich mich nur an wenig.“

Ich schicke mich an, seinen Namen, Wohnort und Alter genauer zu bestimmen.

„Fünfunddreißig Jahre …“
„Bek, frag nochmal.“
„Fünfunddreißig“, wiederholt der Übersetzer, der nicht weniger entgeistert dreinschaut als ich.

Muralu Tusypjanolu mit seiner 13-jährigen Tochter Gjulden Muralkysy und dem Portrait seiner Frau, die in einem chinesischen Lager sitzt, November 2018 / Foto © Konstantin Salomatin

Angst und Apathie

Shenja Bunin ist ein 33-jähriger, zwei Meter großer Blondschopf mit überraschtem Gesichtsausdruck. Ich bin selbst recht lang, aber er ist noch größer als ich, und zwei Köpfe größer als alle anderen Anwesenden. Das bedeutet, dass ich endlich einmal fotografieren kann, ohne in die Hocke gehen zu müssen. Sein Englisch ist wunderbar, und er kann überhaupt gut erklären, mit prägnanten Ausführungen ohne überflüssige Informationen. Er ist Linguist, spricht fließend Chinesisch und Uigurisch. Wir treffen uns im Büro von Atashjurt.

„Meinen ältesten Freund haben sie gleich verhaftet, schon Anfang 2017, dafür, dass er mal in Dubai gelebt hat und dort irgendwelchen Geschäften nachging. 
Wo die Gefängnisse und Lager sind, weiß niemand. Obwohl es in Kaxgar eins direkt in der Stadt gab. Früher war dort irgendeine Hochschule. Ein harmloser Zaun, durch den man durchsehen konnte, dahinter das Hauptgebäude und der Campus. Aber nachdem ich zurückgekommen war, waren an derselben Stelle eine riesige Betonmauer und große Eisentore. Allen war klar, dass dort jetzt ein Lager ist.“

Shenja erzählt, dass alle in der Erwartung ihrer Verhaftung leben. Die Polizei kann mitten in der Nacht kommen, das Telefon, Computer und Bücher kontrollieren. Wenn sie einen Koran finden oder Koranzitate oder einen Gebetsteppich, verhaften sie einen. Die Menschen haben aufgehört sich zu unterhalten, denn niemand weiß, ob der nächste ihn nicht denunzieren könnte. Eltern fürchten ihre Kinder. Die Kinder gehen in die Schule und ihre Lehrer fragen sie: „Beten deine Eltern?“ Wenn sie Ja sagen, kann das bedeuten, dass die Eltern verschwinden.

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Die Kinder der Verhafteten dürfen nicht zu Verwandten gegeben werden, sie kommen ins Kinderheim. In der ganzen Region werden eilig gigantische Internate aufgebaut, die mehr an Fabriken erinnern, aber der Platz dort reicht einfach nicht.

Stirbt jemandes Vater und der Sohn stimmt auf der Beerdigung ein Gebet an, wird dieser sofort abgeholt, das ist gängige Praxis. Moscheen werden abgerissen, selbst die ältesten. Einige zentrale Moscheen sind für Touristen erhalten geblieben. Bärte sind verboten, ebenso wie muslimische Vornamen.

„Anfangs verbot man sie für Neugeborene“, erzählt Shenja, „aber jetzt ist es auch für Erwachsene gefährlich sie zu tragen. Ich habe einen Freund, der Kali-Hadschim heißt. ‚Hadschim‘ bedeutet, dass die Person die Hadsch vollzogen hat. Das hat er nicht, seine Eltern haben ihn einfach so genannt. Aber er ist los, hat seinen Namen geändert und sagt jetzt: ‚Bitte, nenn mich so nicht mehr.‘

Ein anderer Freund, er ist schon Rentner, hatte eine kleine Buchhandlung in Kaxgar. Dort gab es viele Bücher auf Uigurisch, die alle von einem Moment zum anderen verboten wurden. Man hat ihn verhaftet und ihm sieben Jahre gegeben, und seinen Sohn hat man ins Lager geworfen. In einem anderen Laden riss mir die Besitzerin ein Buch auf Uigurisch aus der Hand, tippte wie verrückt auf eben jenem Wort Hadschim herum und flüsterte mir zu: ‚Für dieses eine Wort werfen sie Leute jetzt zehn Jahre in den Knast …‘ Ich fragte einen Bekannten, ob er noch Zeit zu lesen hat. ‚Lesen ist jetzt zu gefährlich …‘, antwortete er mir.

Wenn du Ausländer bist, dann betrifft dich das persönlich nicht, du kannst dich überall frei bewegen. Aber die Angst und Apathie spürst du überall. Du gehst aus dem Haus und läufst die Straße lang, du weißt, was hier passiert, kannst nicht aufhören, daran zu denken, aber sprechen wird darüber niemand mit dir. Die Menschen wenden beklommen die Blicke ab. Und du selbst fürchtest dich zu reden: Quatschst du ein bisschen zu lange mit einem Uiguren auf der Straße, bekommt er abends Besuch von der Polizei.“

Jewgeni (Shenja) Bunin im Atashjurt-Büro, März 2019 / Foto © Konstantin Salomatin

Schynar und Sharkinbek

Am 15. November gegen Mitternacht geht das Telefon, es ist Serikshan Bilasch: „Kommt schnell zum Flughafen, sie haben Sharkinbek rausgelassen! Er kommt aus Ürümqi, wir haben schon ein Restaurant reserviert, Schynar fährt ihn abholen. Das werden wir feiern!“ Wir sammeln die Technik ein, rufen ein Taxi und rasen los. Wir sind als erste am Flughafen und laufen zur Anzeigentafel – das Flugzeug ist noch in der Luft. Dann taucht eine glückliche Schynar mit Akshol und anderen Aktivisten auf. Wieder ruft Serikshan Bilasch an: „Sie haben ihn nicht über die Grenze gelassen …“ Schynar schluchzt, man bringt sie nach Hause.

Zwei Monate später lässt man Sharkinbek dann doch raus, still und heimlich per Bus über Korgas. Wir treffen uns kurz nach der Entlassung. Vor dem Haus stehen riesige Schaukeln, man hat sie zum Nouruz aufgestellt. Auf dem Hof drängen sich ein Haufen Kinder, überhaupt scheint das Leben hier sehr gemeinschaftlich. Akshol rennt sofort auf uns zu und schreit: „Papa ist da! Wir haben die Chinesen besiegt!“.

Schynar und Sharkinbek sind ethnische Kasachen, er aber ist in China geboren, sie in Kasachstan. Ein großes, zweistöckiges Haus am Rande von Almaty, in zehn Wohnungen unterteilt. Schynar ist eine lebhafte, emotionale Frau von etwa 30 Jahren. Sie hat eine der Wohnungen gemietet. Ihr Mann ist ein Oralman (kasach.: „Rückkehrer“, Bezeichnung für in China geborene Kasachen). Schynar zeigt uns Fotos aus Sharkinbeks Jugend. Er ist ohne Zweifel ein klassischer Schönling, der kasachische Alain Delon.

„Freundinnen haben mich in ein Restaurant mitgenommen, und er war dort Koch. Es war Liebe auf den ersten Blick, nach drei Tagen haben wir geheiratet. Wir haben einen Sohn bekommen.“

Uigurische Schule in Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

2016 begannen bei Sharkinbek die Probleme mit den Behörden. Seine Anmeldung wurde annulliert, und er bekam keine Aufenthaltsgenehmigung, stattdessen forderte man eine Bescheinigung aus China, dass er dort keine Verbrechen begangen hat. Sein chinesischer Pass war beinahe abgelaufen. Sharkinbek sagte, dass er nach China reisen und binnen einer Woche zurückkehren würde.

Beim Überschreiten der Grenze verschwand er. Er rief weder an, noch schrieb er. Schynar konnte ihn nicht finden. Einige Wochen später erhielt sie eine Nachricht: „Ich werde eine andere Frau heiraten. Wir müssen uns scheiden lassen. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, China hat mir alles gegeben. In Kasachstan hält mich nichts, das ist ein armes Land. Du bedeutest mir nichts, such dir einen anderen Mann …“

Sharkinbek sitzt auf einem Stuhl und gleicht einem verängstigten Kind. Er wirkt wie ein Bruchteil des Mannes auf dem Foto. Er spricht mit leiser Stimme, monoton, müde, ohne Emotion. Sie haben ihn damals direkt an der Grenze verhaftet, noch in Korgas.

„Sie sperrten mich für eine Woche in einem Keller ein. Man kontrollierte mein Telefon, fand dort Whatsapp, das in China verboten ist, und verhörte mich. Danach lieferten sie mich an die Polizei in meiner Heimatstadt Bortala ab. Dort fing man an mich zu foltern, mit einer Stange und Elektroschockern. Sie fragten, in welchen Organisationen ich in Kasachstan aktiv sei. Wen ich in Kasachstan getroffen hätte. Sie folterten mich zehn Tage lang. Dann zogen sie mir einen schwarzen Sack über den Kopf und brachten mich ins Gefängnis. Wo das ist, weiß ich nicht. Ein großes Gebäude, vier Stockwerke, ungefähr viertausend Menschen, 15 bis 75 Jahre alt. Vor der Abfahrt ins Lager hat mir eine Krankenschwester zwei Spritzen gegeben, in jeden Arm eine. Sie sagte, das sei bloß eine Impfung.

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Im Lager gaben sie uns dann permanent Spritzen. Für jedes Vergehen gab es eine Injektion. In den Zellen war rund um die Uhr das Licht an, es auszuschalten war verboten. Wer das Licht ausschaltete wurde geschlagen oder bekam eine Spritze. Auch im Essen war viel Medizin, der Geschmack war sehr chemisch. Die Gesundheit hat sich permanent verschlechtert. Jeden Tag zwangen uns die Aufpasser sauberzumachen: den Boden im Gefängnis und auf dem Hof zu wischen, Wäsche zu waschen. Wir mussten Mandarin und die Geschichte Chinas lernen. Jeden Monat gab es ein großes Examen auf Chinesisch, dafür kamen extra Prüfer. Die Aufpasser warnten uns. Nicht weinen, nicht dies und nicht jenes machen: ‚Macht ja einen guten Eindruck!‘“

Währenddessen machte Schynar Fortschritte. Einmal traf sie auf dem Markt eine alte Frau, eine Kasachin aus China, bei der sie sich über das Leben beschwerte und der sie von ihrem Mann erzählte. Die Frau erzählte ihr von den Konzentrationslagern.

„Sie hat gesagt, dass ich mich an Atashjurt wenden soll, an Serikshan Bilasch. Er hilft Flüchtlingen und denjenigen, deren Verwandte in China verschwunden sind. Ihr Büro lag zufällig auf dem Weg. Wenn Serikshan nicht gewesen wäre, dann hätte ich nicht gewusst, was ich hätte tun sollen, wie ich Sharkinbek hätte retten können.“

Von da an bestand ihr Leben aus offiziellen Schreiben, Videoaufrufen und Behördengängen mit der Bitte ihren Mann zurückzuholen.

„Ich konnte nicht mehr arbeiten, jeden Tag lief ich zu irgendwelchen Organisationen. Akshol hätte schon in die Schule gemusst, aber niemand hätte ihn hinbringen können, also saß das Kind zuhause rum. Wir sind nach Astana gefahren, und vor dem Präsidentenpalast hat Akshol in die Kamera gesagt: „China, lass meinen Papa frei!“. Ich habe ihn selbst mit dem Handy aufgenommen. Durch YouTube wurde ich zu einer lokalen Berühmtheit, Taxifahrer erkennen mich. Im Außenministerium hat man mir gesagt: ‚Kalyschewa, hör bitte auf, wir wissen schon nicht mehr wohin mit deinen Anträgen.‘ Sie haben mir einen Brief geschrieben in dem stand, dass das innere Angelegenheiten Chinas sind, dass sie keine Beziehungen zu China haben und sich nicht einmischen werden.“

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

„Als sie anfing, Petitionen zu schreiben, brachte man mich zur Leitung, wo man mich zwang, sie noch einmal anzurufen und zu sagen, dass ich sie verlassen und ein zweites Mal geheiratet hätte. Vom Lager sollte ich nichts sagen. Das habe ich getan. Sie hat nicht geantwortet, einfach nur geweint.“

Schynar hatte bis zu diesem Moment fast zwei Jahre nichts von Sharkinbek gehört, nicht gewusst, ob er noch am Leben war. Nach dem zweiten Anruf begann sie noch hartnäckiger zu schreiben, mit Journalisten zu reden und durch die Institutionen zu marschieren.

„Ich war sieben Monate im Lager. Dann hat man ungefähr hundert von uns ausgewählt, alle aus Kasachstan, und uns unter Hausarrest gestellt. Auf die Straße durften wir nicht mehr gehen, und täglich kam ein Polizist zu mir, verhörte mich und notierte, was ich heute gemacht, mit wem ich Kontakt hatte. Ich machte nichts, nach dem Lager hatte meine Gesundheit sich massiv verschlechtert. Mir waren die Haare ausgefallen. So verging noch ein Jahr. Einmal kam ein anderer Polizist, drückte mir ein Telefon in die Hand und wählte die Nummer meiner Frau bei WeChat. Dann sollte ich zum dritten Mal anrufen: ‚Bei mir ist alles gut, neue Familie, Arbeit, sprich in Kasachstan nicht über mich.‘

Ich hatte sie also zum dritten Mal angerufen, wie man mir befohlen hatte. Aber sie hat nicht aufgehört über mich zu sprechen, sondern fing an noch mehr zu unternehmen. Irgendwann kamen sie zu mir, gaben mir einen Pass und sagten: ‚Es reicht, hau ab.‘ Mein Vater sitzt immer noch im Lager, mein Bruder im Gefängnis.“

Schynar, Sharkinbek und Akshol, März 2018 / Foto © Konstantin Salomatin

Sharkinbek hatte Glück mit seiner Frau. Diejenigen, deren Verwandte hartnäckig und laut auf den Putz hauen, haben größere Chancen freizukommen. Damit sie verstummen, bevorzugt es China, sie sich vom Leibe zu schaffen.

Akshol zappelt herum und stellt Fragen. Er wird auf den Hof gescheucht.

„Ich verlasse das Haus nicht. Arbeiten kann ich nicht, ich bin sehr schwach. Meine Kraft reicht nur, um nach dem Kind zu schauen. Ich sitze zuhause rum, während Schynar Nähkurse besucht. Die Nerven, nachts kann ich nicht schlafen. Panikattacken, oft Kopfschmerzen, meine Nieren schmerzen und …“ Der Übersetzer schafft es nicht, den letzten Satz zu übersetzen, bevor Schynar in Tränen ausbricht. „Er sagt, dass er seine Potenz verloren hat. Keine Liebe mehr machen kann.“

Impotent kehren praktisch alle aus den Lagern zurück. Auch die Frauen haben von dem Verlust sexueller Begierde berichtet. Warum, das ist noch nicht geklärt. Es ist nicht auszuschließen, dass die Injektionen zu einer Art chemischer Kastration führen. Andererseits hat uns einer der ehemaligen Häftlinge unter der Bedingung von Anonymität erzählt, dass ihm und allen seinen Zellenmitinsassen einmal Spritzen verabreicht wurden, nach denen sie, im Gegenteil, eine Erektion bekamen. „Anschließend zwang man uns, uns nackt auszuziehen und brachte uns in eine Zelle zu den Frauen. Auch sie waren entblößt. Es begann eine Orgie. Und alles wurde von den Überwachungskameras gefilmt.“ Es gibt noch weitere solcher bedrückenden Zeugenaussagen.

Sharkinbek richtet sich ungelenk auf und geht in den Hof. Ich sehe durch das Fenster zu, wie er langsam auf die Schaukeln zugeht und Akshol anschubst.

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Rachima

Sie erschien ganz unerwartet. Wir waren mit ihr nicht für diese Uhrzeit verabredet, hatten andere Verpflichtungen, aber sie folgte uns einfach vier Stunden lang durch Almaty. Eine normale, abgehetzt wirkende Frau, deren Mann sie mit vier Kindern sitzengelassen hat. Sie kommt nur mit Mühe über die Runden, arbeitet irgendwas im Handel. Sie ist dürr und groß, erinnert überhaupt nicht an die typische Kasachin aus der Provinz. 

Schließlich setzen wir uns in ein Restaurant. Ich bestelle Wein, aber niemand trinkt mit mir. Sie beginnt in gleichgültigem Tonfall zu erzählen, keinerlei Emotionen, als wäre das alles nicht ihr selbst passiert.

„2012 bin ich mit meinem Mann und den Kindern nach Kasachstan gezogen. Ich habe eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten und arbeitete in Almaty. 2017 bekam ich einen Anruf von einer chinesischen Nummer, sie sagten mir, dass sie von der Polizei sind. Sie haben mich gebeten nach Korgas zu kommen, angeblich stimmte etwas mit meinem Smartphone nicht. Ich wusste noch nicht, was sich da zusammenbraute. Aber mir sind Zweifel gekommen, also habe ich meine Mutter angerufen. Sie sagt: ‚Du musst nicht herkommen, kauf dir einfach ein anderes Telefon.‘ Aber am nächsten Tag ruft mein Vater zurück. Er sagt mit Panik in der Stimme, dass ich sofort nach Hause kommen muss: ‚Du hast Schulden, du musst das selbst regeln.‘“

Beim Grenzübertritt hat die Polizei Rachima sofort verhaftet. Sie ist verhört worden, und man hat sie ins Bezirksgefängnis gebracht.
„Dort bin ich medizinisch untersucht worden, man hat mir eine Injektion in den Oberarm verabreicht und mich in Ketten gelegt. So ist der Umgang mit den Neulingen: Dem vorigen Häftling werden die Ketten abgenommen, in die dann der Nachfolger gelegt wird, bis der nächste in die Zelle kommt. Aber ich hatte Glück: Nach einer Woche hatten sie mir die Beine blutig gescheuert. Eine Uigurin hat den Aufpasser gerufen und gesagt: ‚Nehmen Sie sie ihr ab, sonst bekommt sie eine Gangrän. Sie könnte beide Beine verlieren.‘

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Jeden Tag lernten wir von früh morgens an Chinesisch, chinesische Geschichte und schauten Filme darüber, wie die chinesischen Kommunisten das Land aufgebaut haben. Das Essen hatte weder Fett noch Proteine und einen stark chemischen Geschmack. Man gab uns drei Mal täglich zu essen, wir durften für fünf Minuten in die Kantine. Es war unmöglich in fünf Minuten fertig zu werden. Wir waren immer hungrig. Es reichte lediglich um ein wenig runterzubekommen und dann die Teller wegzuwerfen. In die Zellen durften wir nichts mitnehmen.

Nachdem wir um sechs gegessen hatten, brachten uns die Polizisten wieder zurück in die Zellen. Dort warteten wir bis zehn Uhr abends. Wir saßen einfach vier Stunden herum. Miteinander reden durften wir nicht. Wir durften weder lachen, noch weinen, wir saßen einfach da und schwiegen uns an. Wir waren zu jeder Zeit unter Beobachtung der Videokameras. Es war nicht nur verboten zu reden, sondern sogar, sich nacheinander umzudrehen. Wenn sich jemand umgewandt hat, tönte sofort eine Warnung durch die Lautsprecher: ‚Nummer 21, nicht umdrehen!‘. Namen hatten wir keine, nur Nummern: ‚Nummer 1, 2, 3 – austreten!‘

Um zehn Uhr kam vom Befehlshabenden die Order: ‚Licht ausschalten und Schlafen!‘ Und wir schliefen. Jeweils zwei Stunden, dann folgten zwei Stunden ‚Wache halten‘. Jede Nacht gegen Mitternacht kamen Aufpasser in die Zellen, suchten die schönsten Mädchen im Alter zwischen 16 und 25 aus und holten sie für die ganze Nacht zu sich. Man sammelte sie ein und vergewaltigte sie in der Gruppe. Ich musste da nicht durch, aber ich kenne Mädchen, die sie jede Nacht vergewaltigt haben.

Turan Tilejbai mit ihrem Sohn Otanbek; ihr Mann wurde in China verhaftet, November 2018 / Foto © Konstantin Salomatin

Viele hatten Krankheiten, irgendetwas war bei jedem. Den Ärzten war das egal, sie haben keine Untersuchungen durchgeführt. Wir wurden wie Tiere behandelt. Wenn du dich beschwert hast, brüllten die Polizisten und Ärzte einfach: ‚Oooh! Du bist nicht krank, du stellst dich einfach nur an! Erzähl nicht, dass du krank bist! Glaubst du, das hilft dir hier rauszukommen?! Vergiss es!‘. Für Beschwerden schlugen sie uns, schrien uns an und drohten uns. Meine Gesundheit leidet immer noch darunter.

Ich war ganze vier Monate im Lager. Ich gehörte zu den Glücklichen, die Verwandte im Ausland haben. Mein Ex-Mann und die Kinder hörten nicht auf zu schreiben und Videobotschaften aufzuzeichnen. Man ließ mich raus und stellte mich für zwei Monate unter Hausarrest – mit täglichem Besuch von Chinesisch-Kursen, jeden Abend zwei Stunden.“

Bevor man Rachima ihren Pass gegeben hat, hat man sie gezwungen ein Schreiben aufzusetzen, in dem sie versichert, dass sie niemals, selbst ihren Kindern nicht, von der Existenz der Lager erzählen wird, dass sie sich nicht mit Menschenrechtlern und Journalisten treffen und die Politik der chinesischen Regierung nicht kritisieren wird. „Wenn du redest, egal wo du bist, in Kasachstan, den USA oder Europa, wir werden dich finden.“ Die erste Zeit zu Hause hielt sich Rachima auch daran.

„Aber dann dachte ich, dass ich bald sterben werde. Ich habe schreckliche Kopfschmerzen, unaushaltbar, selbst denken kann ich nicht normal, mich auf nichts konzentrieren. Und zu Männern fühle ich mich gar nicht mehr hingezogen.“ Rachima spricht monoton, absolut emotionslos, wie viele, die von dort zurückkehren. Mir wird klar, dass sie innerlich tot ist, in Depressionen versunken. Es ist erstaunlich, dass sie überhaupt gekommen ist.

Kaxgar, neue chinesische Stadtviertel, uigurische Kinder spielen vor einem Mao Zedong-Denkmal / Foto © Konstantin Salomatin

Ich kenne dich nicht

„Die Polizei kontrolliert auf den Straßen Telefone und Kontakte“, erzählt Shenja. „Finden sie dort eine Person aus dem Ausland, ist das verdächtig, und vielleicht nehmen sie dich mit. Freunde haben angefangen, mich aus ihren Handys zu löschen. Ein Freund hat mich mehrmals gelöscht und wieder hinzugefügt. Dann hat er mich endgültig gelöscht und ist aus allen Gruppenchats ausgetreten. Das war ein guter Freund, ich wollte ihn unbedingt treffen. Also habe ich ihm nicht direkt geschrieben, sondern in eine Gruppe, in der wir beide waren, dass ich alle auf eine Pizza in ein Café einlade. Er antwortete: ‚Gut, ich komme.‘

Letztendlich sind nur wir beide gekommen. Das Mittagessen verlief sehr bedrückend. Ich sah, dass er das Gefühl hat, verfolgt zu werden. Es gab viel zu sagen, aber offen reden konnten wir nicht. Wir saßen einfach schweigend da und aßen. Ich habe ihm das Manuskript meines Buches gezeigt. Er hat es entgegengenommen, schweigend einen Blick drauf geworfen und es dann zur Seite gelegt, ohne darin zu blättern. Dann habe ich ihn nach einer gemeinsamen Bekannten gefragt, ob er nicht wüsste, wo sie jetzt sei. Er sagt: ‚Nein, ich kenne sie nicht mehr …‘ Dann hat er hinzugefügt: ‚Ich kenne jetzt selbst dich nicht mehr.‘ Es kam mir vor, als könnte er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Wir haben uns danach nicht mehr gesehen.“

Einige Freunde hat Shenja selbst gelöscht, damit sie keine Kommentare mehr unter seinen Posts hinterlassen, denn das ist gefährlich für sie. Uiguren und Kasachen im Ausland sagen, dass alle Freunde und sogar Verwandte aus Xinjiang sie aus ihren Kontakten gelöscht haben.

„Aber auch die, die in der Emigration leben, haben Angst“, sagt Shenja. „Auf Facebook haben 90 Prozent der Uiguren keine Fotos, niemand benutzt seinen echten Namen.

Wieder und wieder hört man Geschichten wie die, dass irgendein Student aus dem Ausland seine Familie angerufen hat und seine eigene Mutter ihm gesagt hat: ‚Bitte, ruf uns nicht mehr an.‘ Aber noch schlimmer ist es, wenn die Polizei zu Menschen nach Hause kommt, und sie unter Androhung einer Verhaftung zwingt, ihre Söhne und Töchter zu bitten ‚für eine Überprüfung‘ nach Hause zu kommen. Sie kommen zurück und werden sofort verhaftet.“

Ein befreundeter Uigure hat Shenja erzählt, dass es ihm verboten ist, eine Wohnung ohne Überwachungskamera zu mieten. Wenn du auf der Straße einen Polizisten anschaust, dann fragt dieser: „Was guckst du so?“ Wenn du den Blick abwendest, fragt er: „Warum schaust du weg?“ Permanent fragen sie: „Betest du? Rauchst du? Trinkst du? Warum?“ Überall sind Kameras angebracht, Millionen, in jeder Ecke, an jeder Kreuzung, jedem Wohnungseingang – selbst bei Menschen zuhause. Das Programm, mit dem sie beobachtet werden, kann Uiguren einordnen, es reagiert auf ungewöhnliches Verhalten und leitet alles an die Polizei weiter.

„Einmal war ich abends auf dem Nachhauseweg, als mir eine Familie entgegenkam – ein Mann, eine Frau, ein erwachsener Sohn. Der Vater war betrunken, sie stützten ihn. Plötzlich fing er an zu schreien und mit den Händen herumzufuchteln. Sie versuchten, ihn zu beruhigen, aber schon war ein Minivan herangefahren. Fünf Polizisten stiegen aus. Sie fragten nicht einmal was, sie packten den Mann sofort ein und verschwanden. Das hat keine zwei Minuten gedauert.“

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Sharp Eyes

Laut offiziellen Daten werden nächstes Jahr in China 626 Millionen Überwachungskameras existieren. Das Ausmaß der Überwachung ist in Xinjiang weitaus größer, als im restlichen China. Auf den Gebäuden Ürümqis, Kaxgars und anderen Städten steht ein wahrer Wald aus mechanischen Augen. Schon häufiger haben Journalisten die Frage gestellt: Wer sieht durch sie?

In den letzten Monaten wurden mehrere Artikel veröffentlicht, die eine Vorstellung davon vermitteln, wie das Überwachungssystem von Xinjiang funktioniert. Zum Beispiel der Bericht von Human Rights Watch „Chinas Algorithmen der Repression“ und die Recherche des amerikanischen Journalisten Paul Mozur.

Human Rights Watch berichtet, dass eine künstliche Intelligenz namens IJOP sämtliche Informationen analysiert. Das künstliche neuronale Netz ist von der Volksbefreiungsarmee Chinas im Rahmen seiner neuen digitalen Militärdoktrin C4ISR ins Leben gerufen worden und inzwischen Teil des nationalen Programms Sharp Eyes, das ganz China mit einem Netz aus Überwachungstechnologie abdecken soll. 

Die künstliche Intelligenz operiert mit Gesichtserkennungssystemen. Paul Mozur schreibt, dass das neuronale Netz Uiguren anhand ihrer Gesichter identifizieren kann und daran in ganz China arbeitet. Weder Polizeiberichte noch Reklametexte von Firmen (beispielsweise Yitu, CloudWalk, Hikvision) machen daraus ein Geheimnis. Tibeter, Uiguren, Kasachen und andere Minderheiten gelten als verdächtige Bevölkerungsgruppen. Die Regierung hat keine Skrupel dies einzugestehen.

Das neuronale Netz analysiert die Bewegungen von Menschen und trifft Entscheidungen darüber, wie darauf zu reagieren sei. „Wenn beispielsweise an einem Ort, wo ein Uigure lebt, plötzlich sechs erfasst werden, sendet das System sofort Polizisten dorthin.“

Im März hat der holländische Forscher Viktor Gevers von der GDI Foundation einen ungesicherten Zugang in eines der Subsysteme von IJOP gefunden, eine Datenbank der Firma SenseNet Technology aus Shenzhen, die Online-Information über die Überwachung von 2,5 Millionen Menschen und 6,7 Millionen Adressen in Xinjiang enthielt. Die Datenbank enthielt auch Passdaten der Nutzer, ihre GPS-Koordinaten und den Schriftverkehr in allen Messengern. Jene Nachrichten, welche der Algorithmus für gefährlich befand, wurden automatisch an Polizeistellen weitergeleitet.

Atashjurt-Büro, Flüchtlinge mit Fotos von Angehörigen, die in Lagern verschwunden sind, November 2018 / Foto © Konstantin Salomatin

Ein anderes Auge des neuronalen Netzes ist das Tor dreidimensionaler Porträts und integrierter Daten – eben jene Checkpoints, an denen Schlangen aus Uiguren und Kasachen stehen. Um einen beliebigen öffentlichen Raum betreten zu können – Krankenhäuser, Banken, Parks, Einkaufszentren – oder um das eigene Viertel zu verlassen, muss eine spezielle Maschine passiert werden, die mit IJOP verbunden ist. Das System durchleuchtet die Menschen, macht Fotos und scannt die Personalausweise.

Diejenigen, die das Interface der Tore gesehen haben, sagen, dass der Polizei ein Profil der Person angezeigt wird – Name, Geschlecht, eine persönliche Nummer, Beruf, Familienstand, Vorstrafen, Einträge bei der Polizei, Stufe der Vertrauenswürdigkeit, ob die Person im Umerziehungslager war oder einen Pass für eine Reise ins Ausland erhalten hat, ob die Person im Ausland war, und wenn ja, wann, wo, wie lange und weshalb. Das System bewertet das Verdachtspotential der Person auf einer Skala von 1 bis 100. Uiguren und Kasachen erhalten automatisch 10 Punkte, Personen im Alter zwischen 15 und 55 noch einmal 10 Punkte und auch Gläubige erhalten zusätzlich 10 Punkte.

Letztes Jahr hat man angefangen, die Checkpoints um neue Tore aufzustocken, die unter anderem Fingerabdrücke und Iris scannen und außerdem Smartphones und andere Geräte kontrollieren. Früher musste die Polizei alle Telefone manuell durchforsten, jetzt liest die Maschine deren MAC-Adresse und IMEI-Nummer und überprüft sie auf obligatorische oder verbotene Apps (Viber, WhatsApp, Telegram, VPN und so weiter) und auf Inhalte: das heißt Links, Kontakte, Downloads und Ähnliches. Sämtliche Information geht an IJOP.

Die Leute warten in der Reihe, bis die Maschine eine Aufnahme gemacht hat und eine Erlaubnis zum Passieren erteilt. Wenn etwas nicht stimmt, ertönt ein Alarmsignal und das Tor teilt den Polizisten mit, welche Maßnahme zu ergreifen ist: befragen, für weitere Ermittlungen festhalten oder sofort verhaften. 

Dasselbe System steht auch an allen Tankstellen. Passiert werden kann nur, wenn die Person dem System Führerschein und Fahrzeugpapiere zeigt.

Fotos © Konstantin Salomatin

Anfang letzten Jahres wurden alle Muslime in Xinjiang verpflichtet, innerhalb von zehn Tagen die App Jingwang auf ihren Telefonen zu installieren – das dritte Auge von IJOP. Sie scannt und spielt dem neuronalen Netz alle Aktivitäten zu, alles, was sie lesen, schreiben, reden, alle Kontakte und den gesamten Datenverkehr. Ein Telefon ohne Jingwang zu benutzen ist verboten, ebenso das Telefon auszuschalten oder ein fremdes zu benutzen.  

Aufgerufen zur Installation einer weiteren App waren alle Polizisten und Lokalbeamten, die Daten der Einwohner ihrer Bezirke während Hausdurchsuchungen und anderen Kontrollen sichern. Der Erzählung eines Zeugen zufolge sind uigurische Beamte und Polizisten mit Arbeit hoffnungslos überladen. „Sie haben alle rote Augen.“ Beamte, die mit den Aufgaben nicht fertig werden, schickt IJOP zur Umerziehung. 

Polizisten müssen alles melden, was ungewöhnlich erscheint. Die App beinhaltet eine Liste mit 36 Punkten, die aus Sicht von IJOP verdächtig sind. Dazu zählt, wenn ein Mensch zu Hause viele Bücher oder große Lebensmittelvorräte hat, mehr Elektrizität als der Durchschnitt verbraucht, ohne Erlaubnis der Polizei an einer nicht gemeldeten Adresse lebt, häufig die Hintertür oder ein fremdes Telefon benutzt, die Telefonrechnung nicht bezahlt oder nicht ortbar war. 

IJOP erstattet der Polizei über verdächtiges Verhalten Bericht. Ein Bauer, der zum Beispiel normalerweise fünf Kilogramm Dünger kauft, kauft plötzlich fünfzehn. Das System schickt Polizisten zu ihm, um die Situation zu klären. Wenn es keinen Grund zur Beunruhigung gibt, löschen sie in der App die Gefahrenanzeige. Ebenso schickt IJOP sofort Polizisten zu denen, deren Telefon, elektronischer Ausweis oder Auto die Überwachungszone verlässt, und zu denen, die fremde Telefone benutzen. 

Chinesin auf einem Motorroller in Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

IJOP greift auf Unterstützungssysteme zurück. Eines scannt die gesamte Netzkommunikation auf der Suche nach verdächtigen Themen (etwa religiösen) oder „die Vermeidung der Verwendung der chinesischen Sprache“. Nach der Zusammenführung dieser Information mit dem Benutzerprofil erstellt es eine Prognose über gefährliches Verhalten. Ein anderes System übersetzt automatisch Sprachanrufe vom Uigurischen ins Chinesische. Das dritte kann einen uigurischen Text oder islamische Symbole in Bildern erkennen. 

Das neuronale Netz führt die Informationen aus den Telefonen, Überwachungskameras, Checkpoints, Polizeiberichten, Fangzhou und anderen Ressourcen zusammen und erstellt daraus mehrdimensionale Profile. Dort werden außerdem biometrische und medizinische Daten (unter anderem über Fertilität, psychische Störungen, chronische Krankheiten) hinzugefügt sowie Hinweise auf Drogenabhängigkeit, Verkehrsvergehen, Studien- und Arbeitsdokumente, Familienverbindungen, Daten über Eigentum, gesellschaftliche Aktivität (ob sich etwa ein Mensch über staatliche Organe beschwert hat), juristische und finanzielle Vergangenheit und massenhaft weitere Quellen.

Seit 2017 sind alle Muslime aus Xinjiang von 12 bis 65 verpflichtet, einen biometrischen und einen DNA-Test zu machen – Fotografien des Gesichts aus verschiedenen Winkeln und anderer Teile des Körpers, Blutanalysen, Fingerabdrücke, ein Netzhaut-Scan, Stimmaufnahme und Haarproben. Der Minister für Öffentliche Sicherheit Chinas, Meng Jianzhu, erklärte im Jahr 2015, dass die neuen Technologien für Datenverarbeitung in der Lage sind, die Verhaltenslogik jedes beliebigen Menschen zu erkennen.

Die festgestellten Beziehungen zwischen Menschen erlauben es dem System, Hinweise auf andere Menschen zutage zu fördern und zu analysieren. Es erstellt Karten persönlicher, geschäftlicher, finanzieller, digitaler und anderer Formen zwischenmenschlicher Beziehungen.

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Im Prinzip sammelt Facebook und jeder andere Online-Dienst zu einem großen Teil dieselben Informationen. Neuronale Netze in der ganzen Welt können auf ihrer Grundlage vielfältige Rückschlüsse ziehen und verbessern sich in dieser Hinsicht kontinuierlich. Der Mensch ist in diesem System schon lange nicht mehr der Konsument, sondern der Konsumierte, aus dem Daten geerntet werden. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass das chinesische neuronale Netz diese Daten nach Belieben gegen den Menschen verwenden kann. Li Kaifu zufolge, einem führenden Investor im Bereich Künstliche Intelligenz, dominiert China in diesem Sektor, weil es sich weder von rechtlichen noch moralischen Bedenken einschränken lässt.

Täglich um acht Uhr morgens sendet IJOP an die Telefone der Polizisten Mitteilungen über alle verbotenen oder gefährlichen Aktivitäten in ihren Bezirken. Auf Grundlage der Analyse empfiehlt das neuronale Netz der Exekutive, ob die Verdächtigen ins Gefängnis oder ins Umerziehungslager zu schicken sind, unter Hausarrest gestellt werden sollen oder ob ein Verbot, den Meldebezirk zu verlassen oder öffentliche Orte zu betreten ergehen soll. Das System arbeitet nach dem Prinzip „Wer Verdacht erregt, muss verhaftet werden“. Die Unschuldsvermutung gilt für Mitglieder sozialer Gefahrengruppen (beispielsweise für Muslime) nicht.

Im März veröffentlichte der deutsche Wissenschaftler Adrian Zenz einen Artikel, der einen Maßstab des Systems der Konzentrationslager von Xinjiang vermitteln soll. Er basiert auf der Auswertung von Satellitenaufnahmen und von Daten aus Staatsaufträgen und -käufen im Bausektor, dem Einsatz des Überwachungssystems, dem Budget verschiedener Branchen wie etwa Sicherheit, dem Justizvollzugssystem, Gerichten und der Berufsausbildung. Zenz kommt zu dem Schluss, dass in den Lagern der Region zur Zeit ungefähr anderthalb Millionen Menschen interniert sind.

Nurasch Dana mit einem Foto ihrer Mutter Adia Muratkysa / Foto © Konstantin Salomatin

Große Brüder

Die Abkürzung „Fangzhou“ bedeutet übersetzt etwa „Teil des Volkes werden, dem Volk von Nutzen sein, die Herzen des Volkes vereinen“. Es handelt sich um ein umfängliches Programm, für das chinesische Staatsdiener aus den inneren Regionen des Landes verpflichtet werden, in uigurische Dörfer zu fahren und für zwei bis sechs Monate bei einer lokalen Familie zu leben, um ihnen das Geschenk der Zivilisation zu überbringen. In dem Programm sind mehr als eine Million Menschen eingebunden. Sie kommen zu den Uiguren nach Hause und erklären ihnen die Politik der Kommunistischen Partei. Manche Familien werden gezwungen, Gäste aufzunehmen, anderen werden einfach regelmäßig Besuche abgestattet. Die Häufigkeit der Besuche hängt von der Stufe der Vertrauenswürdigkeit und Offenheit gegenüber der chinesischen Lebensart ab. Die „großen Brüder“ sollen den Lebensalltag ihrer Schützlinge beobachten und tägliche Berichte verfassen, bei denen sie detaillierte Angaben in Online-Formularen machen. Reden die „kleinen Brüder“ miteinander auf ihrer Muttersprache oder auf Chinesisch? Beten sie? Fasten sie? Essen sie Halal? Trinken sie Alkohol? Rauchen sie? Da sich hinter einem freundlichen Lächeln eine List verstecken kann, gibt eine Anleitung den „Fangzhou“ Tipps, die dabei helfen die Wahrheit herauszufinden: „Bieten Sie einem Familienmitglied eine Zigarette an. Bieten Sie einem Familienmitglied ein Bier an. Geben Sie einem Familienmitglied des anderen Geschlechts zur Begrüßung die Hand, notieren Sie, ob es zurückgeschreckt ist. Bringen Sie Fleisch zur Zubereitung mit und beobachten Sie die Reaktionen.“ Um die Wahrheit herauszufinden, empfiehlt die Anleitung den Kontrollierenden vor allem, die Kinder zu befragen. Auf Grundlage der gesammelten Informationen empfiehlt es, welchen der Gastgeber man mit den Kindern im Dorf lassen kann, und wer Umerziehungskurse besuchen muss. Das Haus, das Familienleben, der einzige Zufluchtsort, wo Uiguren und Kasachen sich noch in Sicherheit wägen können, ist für IJOP nun ebenfalls einsehbar.

Darren Byler, einem in China arbeitenden amerikanischen Anthropologen, ist es gelungen einige Teilnehmer des Programms zu interviewen. Es hat sich gezeigt, dass, obwohl das Programm obligatorisch ist, die Mehrheit der „Fangzhou“ tief überzeugt ist von der Güte der eigenen Mission und dass sie die Uiguren für ein unzivilisiertes Volk halten, das unter dem Joch religiösen Irrglaubens leidet und der Hilfe der „großen Brüder“ bedarf. Byler hat herausgefunden, dass die Inspekteure (hauptsächlich junge Menschen) keine Vorstellung davon haben, was in den Umerziehungslagern vor sich geht, in die sie ihre Gastgeber senden. Sie nehmen an, dass es sich einfach nur um Schulen handelt, in denen den rückständigen Muslimen die Grundlagen des modernen Lebens beigebracht werden. Manch einer denkt, dass das es eine Art Reha ist, wo Gläubige von ihrer religiösen Abhängigkeit geheilt werden.

Orynbek ist ein Bauer, der ebenso eine Umerziehung nötig hatte. Ein stattlicher Mann um die vierzig mit rundem Kopf. Er ist ein verschlossener, schüchterner Mann, der leidenschaftslos und monoton erzählt, sehr detailliert. Manchmal fängt er an zu weinen. Sein Monolog dauert zwei Stunden und hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, wahrscheinlich durch seine entwaffnende Einfachheit. Ich habe versucht seine Erzählung zu kürzen, aber dann verstanden, dass das sowohl ihren Charakter als auch Gehalt verfälscht. Deswegen schlage ich vor, sie getrennt zu lesen.

Uigurisches Dorf zwischen Irkeschtam und Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Bek

Ich habe Bek auf einem Forum chinesischer Kasachen kennengelernt, als ich Kontakte in Almaty suchte. Der Typ schrieb, dass er als Übersetzer arbeitet und gut Englisch spricht. „Kannst du vielleicht für mich dolmetschen?“ „Na klar!“, antwortete er lebendig. „Ich helfe jedem mit Freuden, der gegen das faschistische China kämpft!“ Er schrieb, dass er viel Erfahrung hat: Kasachisch ist seine Muttersprache, ansonsten spricht er noch Chinesisch, Englisch, Arabisch (während des Krieges arbeitete er in Bagdad für eine chinesische Firma), Farsi und Russisch. Er hat ein Jahr in Kasan studiert. Ich habe mich zuerst ein wenig erschrocken. Mit fünfunddreißig Jahren schon so eine Biografie? Ich dachte, er denkt sich das aus.

Bek stellte sich als ein kleiner, höchst lebhafter und redseliger Typ heraus. Er wollte umsonst arbeiten. Bis in die Nacht hinein übersetzte er die Erzählungen der Flüchtlinge, die uns nicht gehen lassen wollten, und morgens früh stand er wieder mit auf der Matte. Sein Russisch ist nicht besonders gut, also arbeiteten wir auf Englisch. Einmal setzen wir uns in ein Taxi, ich spreche Russisch mit dem Fahrer, Bek Kasachisch, und wir beide miteinander Englisch. Dem Taxifahrer gehen die Augen über: Jungs, was ist los mit euch?

Nach drei Tagen langer, unbezahlter Arbeit hat sich herausgestellt, dass Bek außerhalb der Stadt wohnt und drei Stunden braucht, um zu uns zu kommen. Er hat sich ein Hotelzimmer neben uns gemietet auf eigene Kosten. „Man, komm mit in mein Hotel, ich zahle für dich“, habe ich ihm angeboten. „Nee, ich will der Sache dienen.“ Ich hatte sogar Angst, dass er ein Spion ist und für die chinesische oder kasachische Regierung arbeitet. Überhaupt verdächtigen sich hier alle gegenseitig, Spione zu sein. Aber dann habe ich seine Fotos gesehen – in Bagdad, in der Wüste, am Meer, in Ruinen. Ich habe die anderen Flüchtlinge über ihn ausgefragt und mich dann beruhigt. Bek hatte sich einfach nur in die Idee vom Kampf gegen China hineingesteigert.

Nichtsdestotrotz war Beks eigenes Leben definitiv eine Agentengeschichte. Schon 2016 spürte er, dass in der Region Repressionen gegen die Uiguren und Kasachen begannen. Er entschied sich schon damals zu verschwinden.

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

„Anfangs konnte ich nichts machen, meine Mutter war krank und lag im Krankenhaus. Aber sie ist kurz darauf gestorben, und ich habe entschieden, dass mich hier sonst weiter nichts hält. Einfach nach Kasachstan abzuhauen war schon nicht mehr möglich, also musste ich mir etwas ausdenken. Ich fand Arbeit in Peking, in einem großen staatlichen Unternehmen. Kasachen und Uiguren ist die Ausreise aus China praktisch verboten, aber ich war ein wertvoller Spezialist, beherrschte mehrere Sprachen und hatte bereits viel Erfahrung mit der Arbeit in arabischen Ländern. Man stellte mir offizielle Papiere aus, die die Notwendigkeit einer Auslandsreise in den Iran bestätigten. Ich reiste in die Provinz Buschehr. Dort befindet sich eine Aluminiumfabrik, ein iranisch-chinesisches Unternehmen.

Ich arbeitete fünf Monate lang als Übersetzer. Dann wurde mir klar, dass ich mich aus dem Staub machen muss. Die Nachrichten wurden immer alarmierender, und es war offensichtlich, dass die Situation in Xinjiang sich verschlechterte. Sie hätten mich jeden Moment zurückrufen können, um mich zu verhaften.

Ich bin zu meinen Vorgesetzten gegangen und habe um Urlaub gebeten. Ich sagte, ich hätte vor zu heiraten. Sie willigten ein und fragten, wohin ich fliegen wolle. Ich sagte, ich wolle über Almaty nach Peking. Da fing es an. Man beorderte mich zum Chef, da saßen vier Chinesen vom Sicherheitsdienst. Sie waren Mitarbeiter einer Spezialeinheit. Man hat mich verhört: Was willst du denn da? Und wer bist du überhaupt?

Ich stellte mich dumm und sagte: ‚Geschenke für die Familie kaufen, für Freunde, ich heirate doch …‘ Sie haben mir nicht geglaubt und mir eine Liste mit 27 muslimischen Ländern gezeigt, in die Kasachen und Uiguren nicht fahren dürfen – Kasachstan gehört dazu. Ich habe gehört, wie sie miteinander tuschelten: Der Typ ist aus Xinjiang, den müssen wir schnellstmöglich wegschicken, sonst bekommen wir Probleme. Man kaufte mir Tickets nach Ürümqi und ließ mich gehen. Ich habe allem zugestimmt, mit dem Kopf genickt und gelächelt. Es war klar, dass sie mich direkt aus dem Flugzeug ins Lager bringen würden. 

Fotos © Konstantin Salomatin

Via VPN habe ich ein Ticket nach Almaty gekauft, mit dem ich zwei Stunden früher fliegen würde, als mit dem Ticket nach Ürümqi. Einen Tag vor dem Flug erschienen zwei Chinesen, die mich von da an begleiteten. Ich habe gefragt, wer das ist. Man antwortete mir: ‚Was, die zwei? Die fliegen von Teheran aus nach Ürümqi, die waren für ein geschäftliches Treffen hier.‘ Ich sagte: ‚Okay.‘ Ich sah, dass die beiden nicht vorhatten, auf irgendwelche Treffen zu gehen, sondern einfach nur herumsaßen, chinesische Kartenspiele spielten und schauten, was ich tat.
Am nächsten Morgen bin ich früher aufgestanden und habe versucht, mich leise aus meinem Zimmer davonzustehlen. Aber ein Firmenangehöriger hat es bemerkt und gefragt: ‚Wohin willst du? Dein Flug geht um 16:00 Uhr.‘ Ich sage: ‚Auf den Basar! Ihr wollt mich doch nicht nach Kasachstan lassen, also muss ich die Geschenke von woanders bekommen!‘ Im Chomeini-Flughafen habe ich mich einfach irgendwo hingestellt und eine halbe Stunde lang geschaut, ob mich auch niemand verfolgt.

Ich hatte einen Plan B und C für den Fall, dass es nicht klappt. In Teheran habe ich ein paar turksprachige Jungs kennengelernt, Turkmenen und Aserbaidschaner. Ich habe sie gefragt: ‚Wenn ich morgen nicht fliege, könnte ich dann ein paar Nächte bei euch unterkommen?‘ Sie haben zugesagt, mir zu helfen zur iranisch-türkischen Grenze zu gelangen. Ich hätte versucht mich als afghanischer Flüchtling auszugeben, als Chasar, denn die sehen den Kasachen ähnlich. Ich habe gehört, dass sie die Grenzbeamten bestechen und leicht über die Grenze kommen. Und Plan C war einfach zu Fuß über den Berg Damawand in die Türkei zu laufen …

Ich bin schließlich zu einem Informationsstand gegangen und habe gefragt, wann ein Flug nach Almaty geht. Bis zum Abflug waren es noch anderthalb Stunden. Ich habe nicht durchblicken lassen, dass ich innerlich vor Angst starb. Iran und China arbeiten eng zusammen. Der Grenzpolizist fragte mich genüsslich aus: Du bist aus China, warum willst du nach Kasachstan? Ich sagte, dass ich Vertreter einer chinesischen Firma bin und ein wichtiges Meeting in Almaty habe. Am Ende hat er mir den Stempel gegeben und mich durchgelassen. Aber noch in der Luft fürchtete ich, dass man das Flugzeug wegen mir zur Umkehr zwingen könnte. Erst als ich unten das Kaspische Meer sah, habe ich aufgeatmet.

Uigurisches Dorf zwischen Irkeschtam und Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Chen Quanguo

„Wir müssen eine Antwort finden auf die neuen Methoden, mithilfe derer Terroristen und andere feindliche Kräfte ihre Taten planen. Sie besteht in der allumfassenden, permanenten, dreidimensionalen Kontrolle. Wir müssen uns vergewissern, dass nicht ein einziger blinder Fleck bestehen bleibt, keine Lücken oder unausgefüllte Spalten …“ Das ist ein Zitat der Antrittsrede Chen Quanguos, dem Architekten des Umerziehungsprogramms von Xinjiang. 

Chen ist der erste Sekretär des Komitees der Kommunistischen Partei Chinas in Xinjiang. Dieser bescheidene Mensch mit kaltem Blick und einer unbeweglichen Maske anstelle eines Gesichts ist der unbestrittene Spezialist auf dem Gebiet des Kampfes gegen Religion und der Lösung der Nationalitätenfrage. Im Unterschied zu Xi Jinping gehört Chen nicht zu den Roten Prinzen, den Kindern der maoistischen Eliten. Er kam aus tiefer Armut und hat sich den Weg nach oben freigekämpft, indem er die Aufgaben der Partei beflissen ausführte und eiserne Loyalität demonstrierte.

Die 2000er Jahre waren die Zeit der Führung Chen Quanguos in den Provinzen Henan und Hebei, ein Jahrzehnt des aktiven Kampfes gegen die Falun Gong Bewegung. Zu eben jener Zeit entstand in China die heutige Methodik der Bekämpfung Gläubiger, die mit Umerziehung durch Ausbildung betitelt wurde. Die ungeheuerliche Geschichte des Büros 610 ist sehr wichtig für das Verständnis dessen, was derzeit in Xinjiang passiert. Es lohnt sich, sie getrennt zu lesen.

Der Stern Chen Quanguos stieg auf im Jahr 2011 , als er zum ersten Sekretär der Partei in Tibet ernannt wurde. Chen nahm sich der Region sofort an, die China bereits sechzig Jahre lang Kopfschmerzen bereitet hatte. Die Tibeter wollten sich einfach nicht von ihrer Ergebenheit gegenüber dem Dalai Lama befreien lassen. 2008 fand in Lhasa der letzte Aufstand statt. Hier startete Chen auch das System der Netzwerkverwaltung. Die Polizeikräfte wurden um das Fünffache aufgestockt, Lhasa in Sektoren aufgeteilt mit Absperrungen alle fünfhundert Meter, Personenüberwachung, digitale Profile, Kameras in jeder Ecke, in jedem noch so abgelegenen Kloster. Eine vollständige informationelle Isolation wurde organisiert. Einhunderttausend Fangzhou wurden in tibetische Dörfer ausgesandt, und um in den 1700 Klöstern für Ordnung zu sorgen, beauftragte man 7000 Parteisoldaten. Ein Netzwerk aus geheimen tibetischen Informanten wurde errichtet. In den lokalen Beamtenständen, die einer heimlichen Sympathie für den Dalai Lama verdächtigt wurden, fanden brutale Säuberungen statt. Um 2016 erklärte Chen Quanguo, dass das tibetische Problem gelöst, die Region „aus dem Schatten ins Licht geführt“ worden sei. Der Minister für Öffentliche Sicherheit, Meng Jianzhu, nannte dies ein „würdiges Beispiel für das ganze Land“.

Aber Tibet war bloß ein Experiment. Richtig entfaltet hat sich Chen Quanguo erst nach seiner Versetzung nach Xinjiang, wo sieben Mal mehr Menschen leben. Dort konnte man mit dem „Kampf gegen den Terrorismus“ den Aufbau des Lagersystems rechtfertigen. 2017 wurde Chen Mitglied des Politbüros und eine der mächtigsten Personen des Landes. Xi Jinping plant bekanntermaßen, auf Lebenszeit zu regieren. Es war eben jener Chen Quanguo, der Xi erstmals „Kern der Nation“ nannte, noch einige Monate bevor diese Bezeichnung zu einem offiziellen Titel wurde. Nach Shenjas Erzählungen „drehen sich die Schrauben um ganz China immer weiter zu“, und Xinjiang wird dabei als Pilotprojekt angesehen.

Xinjiang, Dorf an der Grenze zu Kirgisien, ein Uigure zieht einem Hammel das Fell ab, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Aidana

Eine füllige junge Frau von etwa 23 Jahren. Modern, Mittelschicht. An ihrem Arm baumelt ein für sie charakteristisches Accessoire, sehr mädchenhaft. Sie bittet uns, nicht darüber zu schreiben, damit man sie daran nicht erkennt. In Kasachstan hat sie noch keinen Status. Wird sie deportiert, erwartet sie eine unabsehbare Zeit im Lager. Sagen wir, es ist ein rosafarbenes Pelztäschchen. Aidana hat in Petropawlowsk Zahnmedizin studiert. Nach ihrem Diplom wollte sie kurz vor Beginn der Repressionen für eine Weile ihre Eltern in China besuchen. Sie entschied sich zu der Reise. Daraus konstruierte man ihr eine Anklage. Sie wurde irgendwo in Zentralchina festgenommen und wie eine kasachische Spionin in ein Lager verfrachtet. Ihr neunmonatiger Aufenthalt begann mit einem 70-stündigen Verhör:

„Sie nahmen mir mein Handy weg.“ Aidana zeigt ihr ebenfalls rosafarbenes, mit Strass beklebtes Telefon. „Sie haben Whatsapp gefunden und sagten, ich sei eine Wahhabitin. Sie setzten mich auf einen Stuhl, der weit vom Tisch entfernt steht, fast einen Meter. Die Beine bindet man dir an den Stuhl, die Arme an den Tisch. Du sitzt, langgestreckt, völlig hilflos, und sie stellen dir Fragen. Drei Tage lang kannst du dich weder entspannen noch einschlafen.“

Der Rest ihrer Aussage ist eine Kopie dessen, was wir schon gehört haben. Chinesisch pauken, Geschichte, Gesetze. Tagsüber sinnloses Herumsitzen oder -stehen in der Zelle. Der Schlaf wird nachts alle zwei Stunden durch Wachdienste unterbrochen. Kommunikation verboten, Strafen für jedes kasachische oder uigurische Wort.

„Vor dem Essen zwangen sie uns, Xi Jinping wie bei einem Gebet zu danken und ihm ein langes Leben zu wünschen. Jeden Tag wiederholten wir, dass China stark ist, dass es Land Nummer eins in der Welt ist, in der Wirtschaft, dass alle anderthalb Milliarden Menschen glücklich und reich leben.

Überall sind Kameras, vier Stück pro Zelle, in jeder Ecke. In der Toilette, den Gängen und so weiter. Aber tatsächlich fangen sie nicht alles ein, es gibt blinde Flecken. Die Aufpasser holen Mädchen und bringen sie an diese Stellen, ziehen sie aus und vergehen sich an ihnen. Mich haben sie auch dorthin gebracht.“

Obwohl Aidanas Erzählung die gleiche ist, wie die der anderen, hinterlässt sie einen mit einem ganz anderen Gefühl. Sie ist sehr emotional, spricht schnell und wach. Sie spricht mit Wut, wie sie mit den Aufpassern stritt, sie anschrie, dass sie unschuldig ist, wofür sie umgehend bestraft wurde. Sie ist die einzige, die nicht wirkt, als wäre sie gebrochen. Vielleicht ist es der Hass, der ihr das klare Urteilsvermögen bewahrt hat.
Aidana gibt uns eine Mappe mit ihren Zeichnungen. Nach dem Lager hat sie Alltagsszenen aus dem Gedächtnis gezeichnet.

Fotos © Konstantin Salomatin

Wie der Stahl gehärtet wurde

„Das offenherzigste Gespräch hatte ich ausgerechnet mit einem Polizisten“, erzählt Shenja Bunin. „Genauer gesagt, mit einem Wachmann. Er war auf dem Nachtmarkt stationiert. Es war eine kleine Teestube, die ich häufiger aufsuchte. Nach dem Mittagessen arbeitete er nicht, weil er, wie er sagte, gerade von einer medizinischen Untersuchung zurückgekehrt war. Er fragte mich: ‚Was denkst du über die Uiguren? Was sind wir für ein Volk? Ein gutes oder ein schlechtes?‘ Diese Frage stellte man mir im Laufe der Jahre in Xinjiang mehrmals. Mir hat sie nie gefallen, weil ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte. Es kam mir immer so vor, als hätte sie einen politischen Unterton. Ich sage: ‚Es gibt Gute und Schlechte, so wie in jedem anderen Volk auch.‘ Aber er hat nicht locker gelassen: ‚Du sagst nicht, was du wirklich denkst. Sei ehrlich. Schau dich um, du siehst doch selbst, was hier passiert. Wir sind ein vernichtetes Volk!‘ Ich bekam das ungute Gefühl, dass er mich auf die Probe stellt. Er war ja Polizist in Uniform. Wenn ich ihm zustimme, zeigt er mich an. Das Gespräch endete abrupt. Aber jetzt verstehe ich, dass das ein wahrer Schrei der Verzweiflung war. Einige Tage später verschwand er. Ich sah ihn nie wieder auf diesem Posten. Gut möglich, dass sie ihn ins Lager gebracht haben.

Mein Freund Karim ist im Mai 2017 verschwunden. Er war ein wunderbarer Gastronom. Sein Restaurant war ein warmer Ort, dort herrschte immer ein Gefühl des Beisammenseins. Karim konnte auf eine Weise mit seinen Besuchern umgehen, dass zwischen mehreren Tischen ein neugieriges, interessantes Gespräch entstand, und dabei oft noch über ein wichtiges Thema.“

Als Shenja nach Guangzhou zurückkehrte, sah er, dass das Restaurant geschlossen war. Er fuhr in ein anderes uigurisches Restaurant, dessen Besitzer sagte, dass man Karim in Handschellen abgeführt habe, weil er irgendwann mal in Ägypten und der Türkei gelebt hatte. Anschließend hatte ihm irgendwer gesteckt, dass Karim im Lager „verstorben“ war.

„Ich verließ das Lokal, und mir wurde klar, dass ich nicht länger in China bleiben konnte. Ich bekam Panikattacken. Du weißt nie, wann es losgeht. Sobald der Druck zunimmt, zittert der ganze Körper, im Herzen sticht es und der Kopf schmerzt. Es gab Tage, da konnte ich mich nicht einmal dazu durchringen, auf die Straße oder in ein Café zu gehen. 

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Früher gab es in Kaxgar einen geistig zurückgebliebenen Mann, der immer am selben Platz saß. Wenn ich die Straße runterlief, kam er auf mich zugerannt, mit aufgeknöpften Hosen und breit lächelnd. Einige Jahre zuvor haben sie in China eine Fernsehserie nach dem Buch Wie der Stahl gehärtet wurde produziert. Sie gefiel auch den Uiguren sehr. Er schüttelte mir immer die Hand und fragte: ‚Wie geht es Kortschagin? Lebt er noch?‘ Aber dann hat die Atmosphäre auch in ihm ihre Wirkung hinterlassen. Letzten Herbst sprang er schon nicht mehr auf, sondern hockte leise und regungslos vor einem Laden herum, wenn ich vorbeilief. Dann verschwand auch er.“

Einmal bekam Shenja einen Anruf von der örtlichen Polizei. Sie zitierten ihn auf die Wache: „Sie gehen einer journalistischen Tätigkeit nach.“
„Ich sagte: ‚Nein, ich schreibe nur ein Buch über die uigurische Sprache und Küche.‘ Sie sprachen drei Stunden mit mir. Danach wurden die Schikanen noch häufiger. Und dann, eines Tages, ist die Polizei einfach zu mir gekommen, in das Hostel meines alten Freundes. Sie sagten, dass das Brandschutzsystem nicht den Standards entspreche, haben das Hostel geschlossen und alle Touristen rausgeschmissen. Ich bin in ein anderes Hotel, aber dort haben sie gesagt, dass es keine freien Zimmer mehr gibt. Das war sehr merkwürdig, zumal nicht Saison war. Ich bin in ein drittes Hotel gegangen, und da war es das Gleiche. Aber sie haben mir zugeflüstert, dass sie eine schwarze Liste haben, wen sie nicht reinlassen dürfen. Und ich war drauf, oder besser gesagt, nur ich.“

Das war’s. Die Arbeit war noch nicht beendet, aber Shenja hatte verstanden, dass es an der Zeit war zu verschwinden. 

„Nachdem ich von Karims Tod erfahren hatte, hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Mir war grauenhaft zumute. Jedes Mal, wenn ich mit der Polizei zu tun hatte, wurde ich aggressiv. Ich hatte Angst, dass das jeden Moment in eine Schlägerei ausarten könnte, denn das wäre schlecht für mich ausgegangen.“

Kaxgar, Schule für uigurische Kinder, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Die Straße des Schweigens

Beim Versuch, das Geschehen in Xinjiang zu erklären, kommen Experten häufig auf die Neue Seidenstraße zu sprechen, das gigantische Megaprojekt der chinesischen Regierung. Das Projekt soll beinahe ganz Eurasien und Ostafrika abdecken. Kurz gesagt handelt es sich um eine den gesamten Kontinent umfassende Transport- und Handelsinfrastruktur – Autobahnen, Schienennetze, Häfen, Logistikzentren. Teils, damit chinesische Waren ungehindert in jeden Winkel gelangen können, hauptsächlich zu den engsten Partnern – Russland, Türkei und Pakistan – und andernteils, um den eigenen Einfluss auf dem Kontinent zu stärken. Das Projekt, das mehr als 1,3 Billionen Dollar kosten wird, wird als chinesischer Marshallplan bezeichnet. Seinen Beginn verlautbarte Xi Jinping im Jahr 2013 während eines Besuchs in Kasachstan. Der Hauptzweig der Neuen Seidenstraße soll ausgerechnet durch Xinjiang gehen und die Grenze bei Korgas kreuzen. Ich weiß nicht, ob das erklärt, weshalb Xinjiangs Einwohner in Lager geworfen werden. Aber es erklärt fraglos, weshalb Kasachstan und andere Länder schweigen. 

Vor einem Jahr wurde in Harvard eine Studie durchgeführt, die die Verschuldung verschiedener Staaten China gegenüber analysierten. Dort heißt es, dass 23 Länder ihre Schulden, aller Wahrscheinlichkeit nach, bereits nicht mehr zurückzahlen können, und sich somit in totaler Abhängigkeit befinden. Unter anderem sind dies die Mongolei, Tadschikistan und Kirgisistan. Im Austausch gegen den Erlass eines Teils der Schulden hat Tadschikistan bereits ein Stück seines Territoriums im Pamir-Gebirge an China abgetreten. 

Grenze zwischen Kasachstan und China, Sonderwirtschaftszone Chorgos, kasachischer Teil, November 2018 / Foto © Konstantin Salomatin

Ich lausche den Freiwilligen von Atashjurt. Sie sind herzensgute Menschen, getrieben von dem Wunsch zu helfen. Der Fahrer, selbst ein Flüchtling, fuhr uns kostenlos in seinem Honda umher. Er bat lediglich um Benzin. Siebenhundert Kilometer hin und zurück. Er will unbedingt helfen. Davon gibt es hier viele. Ich biete ihnen an, wenigstens ein paar Tausend dazulassen. 

Das einzige Problem ist, dass sie sich alle gegenseitig verdächtigen. Sie vertrauen nur Ausländern. Sie denken, dass alle Kasachen entweder für kasachische oder chinesische Geheimdienste arbeiten. Die Aktivisten werden regelmäßig von anderen Kasachen, die für Geheimdienste arbeiten, angerufen und bedroht: „Wir wissen, wo du wohnst. Wenn du noch einmal den Mund aufmachst, wird es mit dir ein böses Ende nehmen!“

Kasachstans Schulden bei seinem Nachbarn sind nicht sehr groß, aber in Korgas wird einem trotzdem alles klar. Es handelt sich um eine Freihandelszone, einen neutralen Streifen zwischen China und Kasachstan. Auf der kasachischen Seite gibt es Jurten und ein paar Wägelchen, auf der chinesischen Wolkenkratzer und mehrere gigantische, mehrstöckige Shoppingmalls, ein wahres Disneyland. Eine Packung mit hundert Socken für dreihundert Rubel. Plasmabildschirme und Reifen werden hin- und hergeschleppt. Man überquert die Grenze und bekommt einen Stempel. Bald wird hier im Rahmen der Neuen Seidenstraße ein riesiges Drehkreuz entstehen. Gegenüber davon auf der kasachischen Seite entsteht Nurkent. Derzeit leben hier 3000 Menschen. In fünf Jahren sollen es 300.000 sein. Es geht allem Anschein nach um Geldsummen, für die Astana zu allem bereit ist. 

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Abends, als wir im Hotel sitzen, kommt eine SMS von Serikshan Bilasch: „Irgendwelche Unbekannten sind ins Büro gekommen, sie suchen überall nach mir. Mein Leben ist in Gefahr.“ Sie haben sich für die Nacht irgendwohin abgesetzt, und ich habe mein Telefon ausgeschaltet. Morgens habe ich es gerade wieder eingeschaltet, als ein Anruf reinkommt: „Habt ihr Zeit zu reden? Ich bin der Bruder von Serikshan. Er ist gerade entführt worden, wir wissen nichts.“

Einen Tag später taucht Serikshan Bilasch wieder in Astana auf. Geheimdienstler haben ihn entführt, in ein Privathaus gebracht und sich dort mit ihm unterhalten. Einen weiteren Tag später geht ein Video durchs Netz, auf dem Bilasch sich von seinen Kampfgenossen lossagt und die Kasachen dazu aufruft, nicht auf Demonstrationen gegen China zu gehen. Er verpflichtet sich, im Weiteren keine Probleme mehr für die chinesischen Kasachen zu verursachen und lehnt einen Anwalt ab. Anschließend wird Bilasch offiziell verhaftet. Er wird beschuldigt, Zwietracht zwischen den Völkern gesät zu haben. Später, nachdem die Anwältin Aiman Umarowa ein Treffen mit Bilasch erreicht hat, erzählt er, dass die Geheimdienstler ihn dazu gezwungen haben, das Video aufzunehmen, leere Blätter und ein Schuldeingeständnis zu unterschreiben, all das unter der Androhung von zehn Jahren Haft.

Direkt nach Bilaschs Verhaftung schreiben chinesische Zeitungen, dass sie Kasachstans Antiterrorkampagne voll und ganz unterstützen. Dass Serikshan einen Haufen Schulden bei der chinesischen Regierung gemacht habe und deswegen geflohen sei. 

Kasachische Medien schweigen über Xinjiang, das Thema ist Tabu. Sofort nach seinem Rücktritt ist Nursultan Nasarbajew mit der höchsten Auszeichnung Chinas prämiert worden, dem Orden der Freundschaft. Neuer Präsident wurde der Diplomat und Spezialist für China Qassym-Schomart Toqajew.

Xinjiang, Dorf an der Grenze zu Kirgisien, in der Nähe des Grenzübergangs Irkeschtam. Uigurische Taxifahrer spielen Billard, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

Die Datenbank

„Als ich nach Almaty umzog“, gesteht Shenja, „hoffte ich noch, weiter an dem Buch arbeiten zu können. Aber dann kam ein Aktivist auf mich zu und sagte: ‚Es gibt Zeugen, ehemalige Gefangene. Könntest du helfen?‘ Ich hatte westliche Journalisten als Freunde, die ich dafür zu gewinnen versuchte. Schließlich habe ich selbst begonnen zu schreiben. Jedes Mal, wenn ich zu Atashjurt kam, waren dort zehn oder zwanzig Angehörige von Verschollenen, und sie wollten alle mit Journalisten sprechen. Aber du kannst nicht über jedes einzelne Opfer schreiben. Die ganze Zeit kommen neue Hinweise ans Licht, Verwandte nehmen Videobotschaften auf, schreiben auf Facebook, aber all das gerät nach und nach in Vergessenheit. Ich verstand, dass es einen weiteren Schritt braucht, dass es wichtig war, all das zu dokumentieren und zu strukturieren. Im September letzten Jahres habe ich angefangen eine Datenbank mit Daten aller Gefangenen aufzubauen: shahit.biz. Mittlerweile gibt es dort 4027 Zeugenaussagen, und jeden Tag kommen ungefähr zwanzig neue hinzu.“

Und so schuf der Linguist Shenja Bunin ein Schlüsselloch, durch das hindurch die Welt das Geschehen in Xinjiang sehen konnte.

„Bis November versuchte ich noch, mit der Linguistik weiterzumachen, aber dann wurde mir klar, dass das jetzt wichtiger für mich ist. Du kannst nicht über jeden Menschen schreiben. Aber du kannst ihn zur Datenbank hinzufügen, Zeugenaussagen aufschreiben, die Geschichte weiterverfolgen. Und dann kannst du sie Journalisten anbieten. Nehmen wir an, irgendwer will über Kinder schreiben. Er arbeitet sich in die Datenbank ein und findet hunderte Hinweise über verschwundene Kinder. Irgendwo findet sich ein Video, indem man einen realen Menschen darüber reden hört. Und das ist weitaus eindrücklicher, als nur zu sagen, dass es ein paar hundert Fälle gibt. Anhand der Datenbank kann man auch analysieren, was dort passiert, also die Suche am Zeitpunkt der Festnahme, Polizeiwachen, Gefängnissen, Lagern, Geschlecht, Alter, Nationalität und so weiter orientieren.“

Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

„Wie hoch sind die Haftstrafen?“

„Im Gefängnis minimal drei Jahre, aber in der Regel 10, 15, 20 Jahre. Diese Urteile werden nirgendwo veröffentlicht und niemandem in die Hand gegeben. Ins Lager stecken sie einen von einem halben bis zu zwei Jahren, dort gibt es kein offizielles Strafmaß. Offenbar sitzen doppelt so viele Leute in Lagern als in den Gefängnissen.“

„Wer ist in der Datenbank stärker vertreten – Kasachen oder Uiguren?“

„Hauptsächlich Kasachen, obwohl es in Xinjiang weitaus mehr Uiguren gibt. Informationen über sie gibt es aber zehnmal weniger als über die Kasachen. Kasachen, deren Verwandte Lärm machen, werden häufig freigelassen, denn sie haben einen eigenen Staat. Aber über die Uiguren gibt es nur wenig Informationen. Sie haben schreckliche Angst. Selbst wenn sie einen Weg gefunden haben, Kontakt mit ihren Verwandten aufzunehmen und wissen, wohin man sie gebracht hat. Sehr, sehr viele Menschen schweigen einfach. Sie denken: Wenn ich heute eine Aussage mache, werden morgen alle meine Verwandten eingesperrt.“

„Ist das nicht so?“

„Ich habe mir gedacht: Wenn nur ein Mensch aussagt, dann ist das gefährlich. Aber wenn hundert Menschen aussagen, dann ist es schon nicht mehr so schlimm, der 101. zu sein. Wieder ein anderer wird solange Angst haben, bis es nicht 1000 Aussagen sind. Andere werden erst bei 10.000 Aussagen mitmachen. Jeder hat seine Angstgrenze. Wenn schon eine Million Menschen ausgesagt haben werden, wirst du dich dann wirklich noch davor fürchten, deine Unterschrift dieser Million hinzuzufügen? Die Welt muss mit Aussagen überschwemmt werden. Damit Regierungen nicht so tun können, als hätten sie nichts gehört.“

Fotos © Konstantin Salomatin

„Wissen denn die Menschen in China grundsätzlich, was in Xinjiang passiert?“

„Der Großteil nicht. Es gibt keine unabhängigen Medien, das Internet steht unter Kontrolle, alles wird zurückverfolgt. Informationen kommen nur aus den chinesischen Medien: Dort ist alles gut, wir kämpfen gegen den Terrorismus, Touristen können dorthin fahren, niemand wird euch angreifen. Viele glauben, dass dort tatsächlich Chaos herrscht, dass man damit aufräumen muss und dass die Uiguren wirklich Extremisten sind, die man erziehen muss. Ich habe versucht über dieses Thema zu reden, sogar zu streiten, aber das ist schwierig. Sie sagen mir: ‚Was denn, glaubst du etwa, dass eine Million Menschen einfach nur so im Lager sitzen? Sie werden wohl schon irgendwas getan haben …‘ Es ist sehr schwer, sie umzustimmen. Wenn du die Regierung kritisierst, stimmen sie dir schon aus einem Instinkt heraus nicht zu. Einige mögen schon etwas verstehen, aber sie haben vor langer Zeit gelernt, dass man sich aus der Politik heraushalten sollte. Dann kannst du in Ruhe leben, Geld verdienen, sogar reisen, und alles ist in Ordnung. Empathie, Menschenrechte, sich für jemanden einsetzen – für die meisten ist das fremd. Diese Angst rührt noch von Mao her, aus jenen Zeiten. Aber auch Islamophobie existiert. Die Menschen verstehen, dass etwas Schreckliches vor sich geht, aber sie geben einen Dreck auf die Uiguren, die Muslime. Muslime, das sind schlechte Menschen, die man kontrollieren muss.“

Das russische Außenministerium unterstützt den Kampf Pekings gegen den Terrorismus natürlich vollumfänglich. Das Innenministerium und die Moskauer Regierung kaufen chinesische Gesichtserkennungssysteme. Muslimische Staaten, furchtlose Kämpfer gegen Mohammed-Karikaturen, wie Pakistan, Iran, Saudi-Arabien, schweigen beflissentlich. Auf dem internationalen Parkett haben lediglich Donald Trump und Recep Erdogan die Lager verurteilt. Aber Ankara macht keine Anstalten, auf die chinesischen Investitionen zu verzichten. Selbst Europa macht im Allgemeinen keinen Skandal daraus. 

„Wisst ihr, warum ich in Almaty lebe?“, setzt Shenja Bunin an. „Ich bin für eine Konferenz nach Amerika geflogen. Nach einer Woche habe ich mich dabei ertappt, dass ich schon gar nicht mehr an Xinjiang dachte.“

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Arbeitsmigration in Russland

Trotz der anhaltenden Rezession bleibt Russland ein Magnet für ausländische Arbeitskräfte und reihte sich im vergangenen Jahrzehnt stets in die Top-Fünf der Rangliste von Ländern mit der größten Anzahl von Immigranten ein.1 Die Mehrheit dieser Einwanderer stammt aus den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens. Arbeitsmigranten aus Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan fanden in Zeiten des Gas- und Ölbooms der 2000er Jahre Anstellung im Baugewerbe, dem Straßenbetrieb und dem Dienstleistungssektor. Doch die anhaltende wirtschaftliche Flaute stellt viele dieser, mit dem deutschen Lehnwort als Gastarbaitery bezeichneten, Migranten vor eine schwierige Wahl.
Die schwache heimische Wirtschaft und die autokratischen Regime Zentralasiens geben wenig Anlass zur Rückkehr. Gleichzeitig lassen die komplexe Rechtslage, der anhaltend schwache Rubel und oftmals miserable Arbeitsbedingungen das Arbeiten in Russland immer weniger lohnend erscheinen.

Der Zerfall der Sowjetunion brachte nicht nur die Entstehung von 15 unabhängigen Nationalstaaten mit sich, sondern verwandelte die vormals bloß verwaltungstechnischen Abgrenzungen zwischen den Ex-Sowjetrepubliken in konkrete Staatsgrenzen. Das GUS-Abkommen ermöglichte ehemaligen Sowjetbürgern, diese neuen Grenzen zu überqueren und sich bis zu drei Monate ohne Visum in anderen GUS-Mitgliedsstaaten aufzuhalten. Die schnell voranschreitende Deindustrialisierung, in Verbindung mit rasantem Bevölkerungswachstum in der Peripherie des früheren Sowjetreichs, machte aus diesem Recht auf Freizügigkeit häufig sogar eine Notwendigkeit.

Eine neue Generation postsowjetischer Bürger, zum Großteil aus dem ökonomisch hart getroffenen Zentralasien, versuchte im wirtschaftlich boomenden Russland der 2000er Jahre als Wanderarbeiter ihr Glück. Groß angelegte Bauprojekte und der zunehmende Bedarf an Serviceleistungen der neuen russischen Mittelschicht, sorgten für eine hohe Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften, die Russlands schrumpfende Bevölkerung selbst nicht befriedigen konnte.

ABHÄNGIG VON RÜCKÜBERWEISUNGEN

Dabei lassen sich allerdings nur die wenigsten der geschätzten vier bis fünf Millionen Saisonarbeiter aus Zentralasien dauerhaft in Russland nieder. Während der Wintermonate kehren viele Migranten zu ihren Familien zurück, die oft wirtschaftlich völlig von dem Einkommen aus der Saisonarbeit abhängig sind. Dementsprechend hoch ist der Anteil von Geldsendungen am Bruttoinlandsprodukt Zentralasiens. Rücküberweisungen von Migranten entsprachen zu Zeiten des russischen Wirtschaftswunders der Hälfte des BIP im ökonomischen Schlusslicht der ehemaligen UdSSR: Tadschikistan. Ähnlich in Kirgistan – hier entsprachen die Heimatüberweisungen nahezu einem Drittel des BIP.2

Dementsprechend hart traf der wirtschaftliche Abschwung im Zuge fallender Ölpreise und westlicher Sanktionen gegen Russland die zentralasiatischen Volkswirtschaften. Ähnlich schnell wie der Rubelkurs fielen auch die Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten. In US-Dollar gemessene Geldsendungen nach Tadschikistan brachen 2016 auf weniger als 50 Prozent des Vorkrisenniveaus ein; für Usbekistan liegt dieser Wert bei 40 Prozent.3
Jüngste Reformen im russischen Arbeits- und Migrationsrecht haben zudem den Erwerb einer Arbeitserlaubnis erheblich verkompliziert und verteuert. Einwanderer müssen seit 2015 innerhalb eines Monats nach Ankunft einen russischen Geschichts- und Sprachtest ablegen, ein Gesundheitszertifikat erwerben und einen Nachweis über Krankenversicherung vorlegen, bevor sie sich um die gebührenpflichtige Arbeitserlaubnis bemühen können.4
Kirgistans Bürger allerdings profitieren seit dem Eintritt in die Eurasische Wirtschaftsunion im August 2015 von der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb des Staatenverbunds und sind von diesen Auflagen befreit. So wurde Kirgistan weniger hart von der Krise getroffen – was der Regierung des widerwilligen Beitrittskandidaten Tadschikistan sicherlich nicht entgangen ist.

VERSCHÄRFTE GESETZE

Die Reformen im russischen Migrationsrecht waren ursprünglich dazu gedacht, Arbeitsmigranten, die oft unter prekären Bedingungen in einer rechtlichen Grauzone arbeiten, einen regulären Aufenthaltsstatus zu verschaffen. Doch es bestehen weiterhin Zweifel am Erfolg dieser Maßnahmen. So befinden sich mehrere hunderttausend Ausländer auf der sogenannten schwarzen Liste der russischen Migrationsbehörde. Ihnen wird aufgrund von Vergehen gegen das Aufenthaltsrecht oder anderer Gesetzesverstöße die erneute Einreise nach Russland für drei bis fünf Jahre untersagt. 

Migranten im Mediendiskurs

Nachdem der Ukraine-Konflikt lange Zeit das russische Fernsehen dominiert hatte, drohten 2017 wieder Migranten aus Zentralasien verstärkt zur Zielscheibe medialer Stigmatisierung zu werden. Nach dem tragischen Anschlag in der Sankt Petersburger U-Bahn, dessen mutmaßlicher Täter aus Kirgistan stammte, mehrten sich Stimmen, die ein „Russland für Russen“ fordern. Obwohl die fremdenfeindlichen Stimmungen in der russischen Gesellschaft seit 2016 rückgängig sind, sind sie immer noch auf einem sehr hohem Niveau.5 Auch vonseiten der russischen Regierung ist mit verschärften Kontrollen und größerer Überwachung zu rechnen, da nach Einschätzung des FSB Arbeitsmigranten aus GUS-Staaten zu den Hauptdrahtziehern der in Russland aktiven Terrororganisationen gehören.6

Die fremdenfeindliche Atmosphäre schreckt jedoch nur wenige ab, auch der krisenbedingte Rückgang der Zuwanderungszahlen war nur von kurzer Dauer. Von 2016 bis 2019 stiegen diese mitsamt der Heimatüberweisungen in die zentralasiatischen Länder auf neue Rekordhöhen7. 2019 betrug die Gesamtsumme der Rücküberweisungen von Migranten aus Russland laut Weltbank8 22,2 Milliarden US-Dollar – rund 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Russlands. 
Das Corona-Jahr 2020 stoppte diese Entwicklung weitgehend: Verglichen mit dem Vorjahr reisten von Januar bis November  nur halb so viele Ausländer nach Russland ein9, in Moskau lebten offiziellen Angaben zufolge rund 40 Prozent weniger Gastarbaitery als 2019. Viele von ihnen wurden arbeitslos10, ihre ohnehin schwierige Lebenslage in Russland wurde noch prekärer11
Zu Hause erwartet die zentralasiatischen Gastarbeiter aber eine kaum bessere Situation. Das insbesondere in Usbekistan und Tadschikistan von Repressionen geprägte politische Klima und die trüben wirtschaftlichen Aussichten werden trotz der schwächelnden russischen Wirtschaft und Corona wohl dafür sorgen, dass das Phänomen von Gastarbaitery in Russland auf absehbare Zeit bestehen bleibt.

aktualisiert am 19.01.2021


1.migrationpolicy.org: Russia: A Migration System with Soviet Roots 
2.The World Bank: Personal remittances, received (% of GDP) 
3.Cbr.ru: Statistika 
4.Aljazeera America: Ruble ripple: New Russian laws make Life difficult for migrant workers​ 
5. levada.ru: Ksenofobija v 2017 godu 
6.Echo.msk.ru: Direktor FSB A.Bortnikow: Trudovyje migranty načinajut sostavljat osnovnoj kostjak terrorističeskich grupp v Rossii 
7.oxussociety.org: Introducing the Central Asia Migration Tracker 
8.The World Bank: Migration and Remittances Data 
9.Ministerstvo vnutrennich del Possijskoj Federazii: Svodka osnovnych pokazatelej dejatel'nosti po migrazionnoj situazii v Rossijskoj Federazii za janvar' – nojab' 2020 goda 
10.RBK: Gastarbajtery podveli perevozku i dostavku 
11.Human Rights Watch: As Russia Faces an Economic Downturn, Migrant Workers are Paying the Price 

 

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