Weihnachtswunder auf Abwegen

Maryja Kalesnikawa nach ihrer Freilassung aus belarussischer Haft auf der Pressekonferenz im ukrainischen Tschernihiw. 123 politische Gefangene hat Belarus am 13. Dezember 2025 freigelassen.  / Foto © Maksym Kishka/Anadolu Agency/Imago
Maryja Kalesnikawa nach ihrer Freilassung aus belarussischer Haft auf der Pressekonferenz im ukrainischen Tschernihiw / Foto © Maksym Kishka/Anadolu Agency/Imago

Am 13. Dezember 2025 hat das Lukaschenko-Regime 123 politische Gefangene freigelassen, darunter prominente Oppositionelle wie Maryja Kalesnikawa und Ales Bjaljazki. Warum dieser Schritt? Warum eine neue Abschieberoute? Was erhoffen sich die USA von ihrer Belarus-Politik? Eine Einordnung von dekoder-Redakteur Ingo Petz.  


Sie bereue nichts, sagt Maryja Kalesnikawa, als sie während der Pressekonferenz in Tschernihiw am Sonntag gefragt wird, ob sie ihre Entscheidung im Jahr 2020 anzweifle. Damals war sie als Wahlkampfleiterin für den potenziellen Präsidentschaftskandidaten Viktar Babaryka in den politischen Ring gesprungen, nachdem der bereits verhaftet worden war und nicht mehr als Präsidentschaftskandidat antreten konnte. Zusammen mit Veranika Zapkala unterstützte sie die Kandidatur von Swjatlana Zichanouskaja.

Der Rest ist Geschichte

Nun sitzt Kalesnikawa zusammen mit Babaryka, dem Menschenrechtler Uladsimir Labkowitsch und dem Intellektuellen Aljaksandr Fjaduta an diesem Tisch, der an eine Schulbank erinnert. Alle haben vier bis fünf Jahre Gefängnis, Zwangsarbeit und Straflager hinter sich, Erniedrigungen und zermarternde Isolationshaft.

Schatten über der Pressekonferenz

Wie schon bei der Freilassung von Sjarhej Zichanouski ist auch diese PK ein verstörendes Schauspiel: Einerseits versteht man die Verpflichtung, sich der Öffentlichkeit zu zeigen, die so lange gebangt und mitgefiebert hat. Andererseits ist sie eine Marter für die Beteiligten, die eigentlich Zeit brauchen, das Erlebte zu verarbeiten, sich zu orientieren, zu informieren, zu sich zu kommen.

Man kennt das strahlende Lächeln von Kalesnikawa, das sie als Waffe gegen das Grauen des Regimes in Belarus einzusetzen weiß, und ihren kämpferischen Optimismus. Aber während der PK hat man den Eindruck, dass dieses Lächeln ihr Unbehagen und ihre verständliche Orientierungslosigkeit überspielen soll. Neben ihr: Babaryka, dessen Sohn Eduard weiter in Haft ist. Labkowitsch sitzt mit aschfahlem Gesicht und dunklen Augenringen an einem Ende des Tisches. Fjaduta, der nach vier Jahren Haft kaum wiederzuerkennen und gesundheitlich offensichtlich schwer angeschlagen ist, am anderen Ende. Die Pressekonferenz konnte nicht live übertragen werden, da in Tschernihiw immer wieder Luftalarm war und die ukrainischen Behörden befürchteten, dass die russische Armee das Gebäude, in dem die Pressekonferenz stattfand, lokalisieren und angreifen könnte. 

„Nein, ich bereue nichts“, sagt also Maryja Kalesnikawa. „Ich glaube, dass es Zeiten gibt, in denen wir vor solche Fragen gestellt werden, schwierige Fragen, und wir müssen schwierige Entscheidungen treffen. Diese schwierige Entscheidung fiel mir leicht, weil ich überzeugt war und bin, dass ich die richtige Idee unterstützt habe.“ 

Warum in die Ukraine?

Am Tag zuvor waren die Vier zusammen mit weiteren 110 Menschen in der Ukraine angekommen, nachdem insgesamt 123 Gefangene (aus insgesamt acht Nationen) in Belarus freigelassen worden waren – im Zuge eines zweitägigen Minsk-Besuches des Belarus-Beauftragten John Coale, der schon im September für die Trump-Administration die Freilassung von 52 Gefangenen verhandelt hatte. Wie bei den vorangegangenen Freilassungen hatten die Menschen keine Wahl, im Land zu bleiben. Sie wurden abgeschoben, vielen ihre Habseligkeiten und Ausweisdokumente abgenommen.

Auch Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki war nun unter den Freigelassenen. Er wurde in Vilnius an der US-Botschaft von dutzenden jubelnden Belarussen und Belarussinnen in Empfang genommen. Er sei um vier Uhr morgens geweckt worden, sagte der 63-Jährige Gründer der Menschenrechtsorganisation Wjasna in seinem ersten Interview. Man habe ihm die Augen verbunden, „dann fuhr man mich durch ganz Belarus: Ich war in einer Strafkolonie in Horki interniert, direkt an der russischen Grenze“.

Ales Bjaljazki nach seiner Freilassung in Vilnius / Foto © Nasha Niva

Zusammen mit Bjaljazki waren nur acht weitere ehemalige Gefangene in die litauische Hauptstad gebracht worden. Zichanouskaja, die Anführerin der Demokratiebewegung im Exil, ließ verlautbaren, dass alle Freigelassenen nach Vilnius hätten gebracht werden sollen. „Unsere Logistik war darauf vorbereitet“, so Zichanouskaja. Warum also wurde die Ukraine zum Ziel für 114 Freigelassene? Feststeht, dass die Route wohl kurzfristig geändert und die ukrainischen Behörden kurzfristig informiert wurden. Das haben Kyryllo Budanow, Direktor des Militärnachrichtendienstes, und auch Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigt. Budanow nahm am Samstag Kalesnikawa, Babaryka und die vielen anderen zusammen mit der Organisation Chotschu shit (dt. Ich will leben), die sich normalerweise um Fragen russischer Kriegsgefangener sowie in der Ukraine deren Angehörigen kümmert, in Empfang.  

Das Regime-Lukaschenko hängt sei Wochen im Clinch mit Litauen, wo der Betrieb des Vilniuser Flughafen mindestens achtmal wegen sogenannter Wetterballons aus Belarus eingestellt werden musste. Daraufhin ließ Litauen die Grenze zum Nachbarland vollständig schließen. Es ist also denkbar, dass das Regime der litauischen Führung eins auswischen und ihr die um die Welt gehenden Bilder mit prominenten Freigelassenen verwehren wollte.

Andererseits hatte Lukaschenko vor geraumer Zeit bereits 31 ukrainische Gefangene freigelassen. Möglicherweise versuchte er also – in der Hoffnung, dass der Krieg bald enden könnte – mit der Umlegung der Abschieberoute auch, seine Position zur ukrainischen Führung zu verbessern und neues Vertrauen aufzubauen. Letztlich ist auch denkbar, dass ein gewisser, dem Regime innewohnender Zynismus zu dieser Entscheidung geführt hat: Unruhe stiften, Ressourcen binden, Menschen und Strukturen das Leben schwerer machen, Menschen direkt aus einer albtraumhaften Haft in den Albtraum des Krieges abzuschieben – all das gehört zum Instrumentarium des Schreckens in solch einem Silowiki-Staat.

Das Büro von Zichanouskaja vermeldete, dass die freigelassenen Belarussen und Belarussinnen in den kommenden Tagen nach Litauen gebracht würden. Auch die Ukraine bestätigte, dass sie die Freigekommenen zeitnah in die EU bringen werde.

Freiheit per Abschiebung

Dass das Regime bei seiner Abschiebepraxis bleibt, zeigt deutlich, wie groß die Angst vor dem Widerstandswillen der eigenen Gesellschaft und der Entstehung einer neuen Protestbewegung weiterhin sein muss.

Erstaunlich ist auch: Mit dieser Freilassungsaktion hat Lukaschenko nahezu alle Oppositionellen, Menschenrechtler und Journalisten der ersten Reihe entlassen. Mit solch namhaften und kämpferischen Persönlichkeiten erhält die Demokratiebewegung im Exil, die schon geraume Zeit nach neuer Orientierung sucht, einen neuen Kraft- und Hoffnungsschub. Dass nahezu das komplette Babaryka-Führungsteam auf freien Fuß gesetzt wurde, könnte möglicherweise auch auf die Taktik des Regimes hinweisen, die Opposition in neue Grabenkämpfe verwickeln zu wollen und damit zu schwächen.

Zu ihren Zukunftsplänen haben sich Babaryka und Kalesnikawa nur vage geäußert. Bjaljazki betonte indes: „Es ist wichtig, die Freilassung aller zu erreichen, damit es in Belarus keinen einzigen politischen Gefangenen mehr gibt.“  

Euphorische Hilfe vs. brutale Machtspiele

In der belarussischen Exil-Community wurden die Freilassungen vom Samstag mit großer Freude und Erleichterung aufgenommen. „Es ist ein Weihnachtswunder“, schrieb die Musiklegende Lavon Volski auf Facebook. Wie bei den vorangegangenen Freilassungen hat die Organisation Bysol wieder eine Spendenaktion für die ehemaligen Gefangenen ins Leben gerufen. Innerhalb von drei Tagen kamen über 240.000 Euro zusammen, was den immensen Zusammenhalt der Belarussen eindrucksvoll verdeutlicht. 

Trotz aller Freude darf nichts darüber hinwegtäuschen, wie perfide und menschenverachtend das Spiel ist, dass das Regime (nicht erst seit 2020) betreibt, indem es politische Gefangene als Geiseln nimmt und sie wie Handelsgüter für die eigenen Machtinteressen einsetzt. Anscheinend steht Lukaschenko das Wasser selbst bis zum Hals: Die Abhängigkeit zu Russland, in die er sich selbst manövriert hat, drückt ihm außenpolitisch und wirtschaftlich die Luft ab. Er sucht mit aller Macht nach neuen Handlungsspielräumen und will sich für den Fall, dass der Krieg endet, in eine günstigere Position bringen. Nur so lässt sich erklären, dass er bereit war, diese große Anzahl an prominenten Oppositionellen zu entlassen. Denn das ist für ihn und sein System nicht ohne Risiko.

Natürlich ist auch die Aussetzung der US-Sanktionen ein wichtiges Ziel für seinen Machtapparat. Dass Belaruskali, das vor den Sanktionen 20 Prozent der weltweiten Kaliversorgung übernahm, nun wieder exportieren darf, ist zumindest eine gute Aussicht für eine Wirtschaft, die eigentlich nicht viel zu bieten hat, unter den EU-Sanktionen ächzt und sich an Russlands Kriegswirtschaft gekettet hat. Die Handelswege in und über die EU bleiben zwar weiterhin verschlossen, aber die USA könnten durchaus groß in den Kauf von Kali aus Belarus einsteigen.   

Aber Lukaschenko hofft vor allem, dass er im Windschatten der USA, die sie sich nun derart prominent in Belarus einbringt, von neuen geopolitischen Dynamiken profitiert. Dafür wird er womöglich bereit sein, weitere politische Gefangene freizulassen. Ob es den USA in den Verhandlungen mit Belarus (die übrigens bereits unter Joe Biden begonnen hatten) gelingt, auch den harten Kern des Regimes davon zu überzeugen, die Repressionen abzumildern oder gar ganz auszusetzen, ist eine weitere wichtige Frage.

Aktuell betreibt Lukaschenko seinen Repressionsapparat jedenfalls ungebremst weiter: Nach Angaben von Wjasna befinden sich noch 1100 politische Gefangene in Haft, die Organisation BelPol spricht gar von 5000. Weiterhin werden Menschen festgenommen und verurteilt.

Dass ausgerechnet die Trump-Administration in diesem Moment derart Gutes für Belarus bewirkt, ist auf den ersten Blick erstaunlich. Die Europäer und die EU sollen dabei möglichst schlecht aussehen. Auch das ist Teil von Trumps Belarus-Politik. Dabei hat die EU zwar keine Gefangenen freibekommen, aber sie hat mit ihren scharfen Sanktionen den Boden bereitet, auf dem Trump nun agieren kann. Menschlichkeit oder Unterstützung der belarussischen Demokratiebewegung sind dabei aber sicher keine Motivationsfaktoren, sondern lediglich – um es im Slang der MAGAisten zu sagen – „Kollateralschäden“.

Es geht ums Geschäft und um Macht. Wie für Trump so auch für Lukaschenko.