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Dimitri Prigow

Dimitri Prigow (1940–2007) gilt neben Ilya Kabakov als einer der wichtigsten Vertreter der russischen Konzeptkunst. Angetrieben von intellektueller Rastlosigkeit und einem untrüglichen Sinn für das Absurde war er seiner Zeit voraus und allzeit bereit für ästhetische und politische Grenzüberschreitungen. Mit Fug und Recht konnte er von sich sagen: „… ich bin das multimediale Projekt Dimitri Alexandrowitsch Prigow.“

„Ich bin das multimediale Projekt Dimitri Alexandrowitsch Prigow.“ / Foto © Renate von Mangoldt

Prigows Alleinstellungsmerkmal besteht in der medien- und gattungsübergreifenden Breite de-konstruktivistisch ausgerichteter Werke. Literatur, bildende Kunst und darstellende Kunst stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander und sind zum Teil miteinander verschränkt. Das Spektrum seiner künstlerischen Äußerungen ist auch in transmedialen Zeiten erstaunlich – es umfasst Poesie, Romane, dramatische Werke, visuelle Poesie und Essayistik, Zeichnungen und Übermalungen, aber auch Objektkunst, Installationen, Performance und Videokunst. 

Sowjetisches Doppelleben

Bereits als Student der ideologisch besonders aufgeladenen Bildhauerkunst stellte Prigow die sowjetische Kunstdoktrin infrage. In der frühen Breshnew-Zeit zog ein solches Verhalten Konsequenzen nach sich: Mitte der 1960er Jahre wurde Prigow mit dem Vorwurf avantgardistischer Tendenzen zeitweise vom Studium am Moskauer Stroganow-Kunstinstitut ausgeschlossen. Diese Maßregelung stärkte seine Widerständigkeit und spornte ihn an, sich individuell in Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte weiterzubilden. Zu Referenzfiguren wurden für ihn mit Caspar David Friedrich, Joseph Beuys und Kasimir Malewitsch solche Künstler, für die das Absolute Teil ihres Kunstverständnisses war. Von nun an verstand sich Prigow als Konzeptkünstler und entwickelte subtile Praktiken im Unterlaufen des Kanons der sowjetischen Kunst: Als Absage an die obligatorischen positiven Helden zeichnete er etwa Figuren und Halbfiguren mit Dornenkrone, in denen man selbstbildnishafte Züge ausmachen kann. Im Kern ging es ihm darum, bestimmte Codes und deren ideologische Basis zu dekonstruieren. Sowjetische Losungen und Bilder wurden so lange wiederholt, perpetuiert, verdreht und verfremdet, bis ihre ganze Sinnfreiheit offen lag.

Wie viele der russischen Konzeptkünstler führte Prigow eine Art Doppelleben. Einerseits war er seit 1975 Mitglied im sowjetischen Künstlerverband und beteiligte sich freiberuflich für den Künstlerfonds, etwa bei der Gestaltung von öffentlichen Parks und Kinderspielplätzen. Andererseits engagierte sich Prigow seit Mitte der 1970er Jahre im inoffiziellen Kunst- und Literaturbetrieb der sowjetischen Hauptstadt in wechselnden Rollen. 

Mit der Figur des Milizionärs schuf sich Prigow ein janusköpfiges Alter ego. In dieser Gestalt trat er häufig in Ateliers befreundeter Künstler wie Igor Schelkowski oder Ilya Kabakov, unter anderem mit poetischen Lesungen auf. Einzigartig ist die von ihm entwickelte Art des Vortrages: Passagen mit sonorer Stimmführung wechseln sich ab mit solchen von leidenschaftlichem Einsatz der Stimme bei unterschiedlicher Lautstärke und Rhythmik. Prigow, der über eine beeindruckende Musikalität verfügte, bediente sich dabei ins Absurde gesteigerter und verfremdeter gesanglicher Praktiken in Anlehnung an weltliche und sakrale Gesänge – und nutzte ganz im Sinne von John Cage auch das Schweigen und die Stille. Seit 1984 arbeitete er dabei auch mit bekannten MusikerInnen wie Sergej Letow oder Tatjana Grindenko zusammen.

Wer Prigow live erleben durfte, erinnert sich an magische Momente seiner zwingenden Rezitationen, manchmal auch mit synchroner Übersetzung (etwa ins Deutsche von und mit Georg Witte), in denen er es vermochte, in dadaistischer Manier die (Un-)Tiefen der russischen Geschichte und Kultur aufscheinen zu lassen. Videoaufnahmen von Wadim Sacharow aus den 1980er und 1990er Jahren zeugen noch heute davon, genauso auch der im Jahr 2000 entstandene Film Das Evangelium nach Matthäus

Bürger! Wir sagen: Ja!

Legendär sind Prigows illegale Klebeaktionen an Moskauer Bushaltestellen mit auf der Schreibmaschine getippten irrationalen, aberwitzigen Aufrufen. Ein Beispiel dafür: „Bürger! Wir sagen: Ja! – und strecken der Zukunft unsere Hand aus! Dmitri Aleksanytsch“. Eine darauf basierende Performance mit dem Titel Note an die Bürger brachte ihm 1986, schon in der Zeit der von Glasnost und Perestroika, als eigentlich vieles möglich wurde, für kurze Zeit die Einweisung in eine psychiatrische Klinik ein. Dies war ein probates Mittel der Sowjetmacht, unliebsame Kritiker mundtot zu machen. Proteste im In- und Ausland führten jedoch bald zu seiner Freilassung, die die unaufhaltsame Brüchigkeit des Systems zutage treten ließ. 

Samisdat und Tamisdat, darunter die Zeitung Russkaja mysl (dt. Russischer Gedanke) und die Zeitschrift A – Ja (dt. A – Z) sorgten bereits seit den 1970er Jahren dafür, dass Prigow auch international bekannt wurde. Seit seiner Teilnahme 1987 an der documenta 8 in Kassel gehört er zu den viel ausgestellten russischen Künstlern seiner Generation. Einem DAAD-Aufenthalt in Berlin 1990/1991 folgten bis zu seinem Tod zahlreiche Einladungen für Ausstellungen, Lesungen und Performances in Europa, den USA und Japan. 

Macht von Schrift, Alphabet und Text

Immer wieder widmete sich Prigow einerseits der ordnungs- und kulturstiftenden Macht von Schrift, Alphabet und Text, andererseits aber auch ihrer subversiven Möglichkeiten. In Künstlerbüchern mit Titeln wie Buch der Dekrete, Das große chinesische Buch vom Glück, Gewerkschaftsbüchlein oder Erzählung von der ewigen Liebe knüpfte er an die persiflierende Ästhetik der kleinformatigen russischen futuristischen Buchkunst an, jedoch nicht ohne sie zu modernisieren und süffisant mit einem sowjetischen Touch auszustatten. Neben der Verwendung einfachen oder zerknüllten Papiers setzte er zum einen auf die standardisierende und Bürokratie signalisierende Wirkung der Schreibmaschinenschrift. Zum anderen ermächtigte er sich mit seiner Signatur mal zu einem Entscheidungsträger, mal formte er daraus graphische Strukturen wie in Buch der Unterschriften für und gegen
Ebenso wie zahlreiche Einzelblätter besitzen manche seiner Bücher durch die Verwendung von Collageelementen und ausgeschnittenen Seiten und Formen Objektcharakter, darunter Entfernung und Anwachsen oder Chinesische Blätter russischer Poesie. Objektfolgen mit beklebten Konservenbüchsen, die ebenfalls um das Thema Wort, Schrift, Botschaft et cetera kreisen, muten wie eine minimalistische und ironische Antwort Prigows auf die US-amerikanische Pop Art an. 

Prigows Metaphysik 

Als bildender Künstler setzte Prigow auf die Arbeit mit und auf Papier. In den frühen 1970er Jahren entstanden zahlreiche Folgen farbiger Zeichnungen in Mischtechnik unter Verwendung von Aquarell und Gouache. Sie werden einerseits von technoiden und andererseits von expressiven Formen beherrscht, die sich in kosmischen Räumen und damit abseits von der realen sowjetischen Welt bewegen. In der Folge Öffnungen taucht wiederholt die Rückenfigur eines Betrachters auf, dessen Blick aus einem engen Raum heraus in die Weite des leeren Alls gerichtet ist – zu deuten als Bilder einer herbeigesehnten, aber (damals) unmöglichen Flucht. 

Später bearbeitete Prigow in filigraner Technik mit Kugelschreiber oder Feder und Tinte kleine und große Formate. Neben weißem Papier nutzte er auch andere Medien wie Reproduktionen und Fotos als Bildträger. Über Jahre beschränkte er sich, anknüpfend an die russische Avantgarde, auf die Farben Weiß, Schwarz und Rot und lotete elementare Begriffe und Formen aus, wie etwa in den Folgen Kompositionen mit Tafeln (1990er Jahre) und Eier (2000er Jahre). Darin, und besonders in der Folge Säulenheilige (1990) tritt Prigows Affinität zum Metaphysischen zutage, dem in der russischen Denktradition ein hoher Stellenwert zukommt. Häufig diente ihm die zentrale Partei-Zeitung Prawda als Ausgangsmaterial. Deren ideologisierte Botschaften verfremdete und relativierte er mit Motiven wie dem alles sehenden Auge, einem Zeichen und Symbol, das aus der Ikonenmalerei stammt und im Œuvre von Prigow häufig begegnet. Interessanterweise ist es in der Gestaltungsweise des Künstlers als linkes Auge erkennbar, das mit Bezug auf den Kult des ägyptischen Horos für Passivität und Vergangenheit steht. Prigow fügt ihm häufig noch eine rote Träne hinzu, zu verstehen als Zeichen der Rührung, aber auch des Leidens, womit die politische Dimension der Bildfindungen deutlich wird. 

Von Mischwesen zur jüngeren Geschichte

Während die von geheimnisvollen Mischwesen (als fiktive Porträts bekannter Persönlichkeiten) bevölkerte Serie Bestiarium (1970er–2000er Jahre) um das Ambivalente und Monströse im Menschen an sich und um dessen Befangenheit kreist, widmen sich andere Arbeiten unter Nutzung der Fotografie der jüngeren Geschichte. 

In der Folge Deutschland (1994) setzt sich Prigow mit Schlüsselereignissen und Stereotypen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinander, vielleicht auch durch seine eigenen deutschen Wurzeln motiviert. In den Folgen Zeichnungen auf Reproduktionen (1994) und Zeichnungen mit Tesafilm (1999-2002) wiederum visualisiert er die russische Geschichte als Abfolge blutigen Geschehens: in den prunkvollen Räumen des frisch restaurierten Großen Kremlpalastes, beziehungsweise als Bilder von Schmerz, Zerstörung und tragischer Zerrissenheit im Vor- und Umfeld der Revolutionen von 1905 und 1917. Auch und gerade bezüglich der sowjetischen Geschichte hatte Prigow keine Illusionen. In der Folge Stalin-Albträume reicht der lange Schatten der Vergangenheit in Gestalt schwarzer Flecken und Wolken und roter Tropfen in die Gegenwart hinein, wobei sich auf einem der Blätter auch der Name des Künstlers findet.     

Phantom-Installationen

Prigows Entwürfe für Installationen, die er selbst realisiert hat, können an verschiedenen Orten immer wieder neu erstellt und somit aktualisiert werden. Jene Entwürfe, die er als Phantom-Installationen bezeichnet hat, sind von ihm selbst hingegen nie realisiert worden. Frühe Berühmtheit erlangten aus teilweise mehreren Hundert Blättern bestehende Installationen wie Russischer Schnee und der Zyklus über die Putzfrau. In letzterer sind wie in seiner Poesie das Niedrige und Alltägliche und das Himmlische und Ewige auf unerwartete Weise in einem Raum gegenwärtig. Der Autor selbst sprach von einem „Mysterium, das sich in den konzentrierten meditativen Anstrengungen der Putzfrau vollzieht“. Andere Installationen bezogen auch szenische Komponenten und mitunter die Präsenz des Künstlers selbst mit ein. 

Nach dem viel zu frühen Tod von Prigow (2007) sind seine Person und die von ihm erschaffenen Kunstwelten und Figuren in Russland weiterhin präsent. So nannten die Aktivistinnen von Pussy Riot ihre Aktion beim Finale der Fußballweltmeisterschaft in Moskau 2018 Der Milizionär kommt ins Spiel – in Uniformen gekleidet, stürmten sie auf den Rasen. Dies war auch als Hommage an den elften Todestag des Künstlers am 16. Juli gemeint. 

Insgesamt kann man die Persönlichkeit Dimitri Prigow und das von ihm hinterlassene Œuvre am besten mit einem Begriff bezeichnen, den Richard Wagner prägte, den der Künstler sehr schätzte: als Gesamtkunstwerk.  


Zum Weiterlesen
Balabanova, Irina (2001): Govorit Dmitrij Aleksandrovič Prigov, Moskva 
Degot‘, Ekaterina (Hrsg.) (2008): Dmitrij Prigov: Graždane! Ne zabyvajtes‘, požalujsta! Moskva (Ausst.-Kat.)    
Dobrenko, Evgenij/Lipoveckij, Mark/Kukulin, Il’ja/Majofis, Marija, (Hrsg.) (2010): Nekanoničeskij klassik: Dmitrij Aleksandrovič Prigov (1940-2007), Moskva
Obermayr, Brigitte (Hrsg.) (2013): Jenseits der Parodie: Dmitrij A. Prigovs Werk als neues poetisches Paradigma, Wien/München/Berlin
Galieva, Žana (Hrsg.) (2014): Prigov i konceptualizm, Moskva
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