„Ich zerstöre und transformiere, um zu retten.“ Die Lyrikerin und Übersetzerin Hanna Komar wurde 1989 in Baranawitschy geboren und ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen ihrer Generation in Belarus. In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geht sie der Frage nach, mit welchen sprachlichen Mitteln das Geschehen in ihrer Heimat seit Beginn der Proteste im Sommer 2020 beschrieben und adäquat eingefangen werden kann: durch Poesie oder Prosa? Ist es überhaupt möglich, den Schrecken, den Horror, das Unvorstellbare so zu vermitteln, dass der Grundstein für eine Zukunft gelegt werden kann? Eine zutiefst existenzielle und aktuelle Frage, die auch aus dem Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, wie ein Mahnmal herausragt.
Belarus 2020/2021 – als Dokumentarpoesie: Diese literarische Form ist vor langer Zeit entstanden und lebte ihr heimliches Leben, beachtet vor allem von Redakteuren bei Literaturzeitschriften und in Akademikerkreisen bekannt, vornehmlich im Westen; lange war sie eine Randerscheinung und nicht anerkannt, umrankt von endlosen Diskussionen über ihre Herkunft und Verortung. Die amerikanische Dokumentarpoesie wurde beispielsweise in den 1920er-/1930er Jahren politisch, engagierte sich sozial, entwickelte sich vom reinen Lyrismus zu hybriden Formen und wandte sich der Geschichte, Folklore und Reportage zu.1 In Belarus geschah das 2020.
Um ein neues Dokumentargedicht zu schaffen, müssen Ursprungstext und Ursprungstexte zunächst zerstört werden. Die Syntaktische Kompatibilität muss hinzugewonnen werden, der Sinn auf einer anderen Ebene konkretisiert.
„Die teilzerstörte poetische Sprache bleibt ein System, sie hält die Verbindungen zusammen, die Objekte und Konzepte, Signifikanten und Signifikante aneinanderbinden, und vereint figurative Systeme verschiedener Spektren, um eine künstlerische Aussage zu schaffen, die dem System der betreffenden Welt angemessen ist.“2
Ich zerstöre und transformiere, um zu retten.
Um in die Zukunft von Belarus zu schauen, brauche ich andere Texte Menschen, weil mich schon allein das Wort lähmt – „Zukunft“. Der Ungewissheit und der Angst begegnen, sie durchleben, durch das Sieb der Freiheit seihen, um das ruhige, besonnene, hoffnungsvolle Gefühl der Erdung zurückzuhalten. In diesem Zustand ist es viel leichter zu leben, sich zu verändern und sie zu erschaffen – die Zukunft ...
Montage, Rhythmisierung, Fragmentierung
„Bald werden wir siegen“, wiederholten wir bei jedem Treffen und planten das Leben für danach. Bücher herausgeben, Stücke inszenieren, tanzen gehen, die Arbeitsstelle wechseln, sich verlieben, ausschlafen ... erst werden wir siegen – und dann. Bis zum ersten Marsch, bis Neujahr, bis zum Frühling, bis zum Jahrestag der Proteste ...
Mit diesem „bald werden wir siegen“ haben wir wohl den Moment hinausgezögert, an dem wir eine Entscheidung treffen und endgültig und unwiderruflich Verantwortung übernehmen müssen: Das Land wird uns gehören, und was dann? Dann können wir uns nicht mehr davor verstecken, wie unterschiedlich wir alle sind, wie stark unsere Beziehungen von einer Kultur des Zwangs und der Gewalt durchsetzt und vergiftet sind. Was, wenn wir uns in Friedenszeiten nicht einig sind und unsere Solidarität zur süßen Erinnerung wird, fast zu einem Traum?
Seite an Seite marschierten Gläubige und Ungläubige, Menschen aus der LGBT-Community und Homophobe, Kinderlose und Abtreibungsgegner, Emigranten und Xenophobe, Feministinnen und Sexisten ... Wir wollten auf diesem High bleiben, auf dem reinsten, qualitativ hochwertigsten Zeug. Der Siegesruf erschien uns als der Zauberstab, der mit einem Schlag alle Probleme löst. Doch mir scheint, dass die Mehrheit von uns eigentlich zurück zu den „Bouletten“ wollte – was auch immer hinter diesem Euphemismus steht: Das Kümmern um die Familie, Bücher schreiben, ein Geschäft führen oder viele andere Varianten und Kombinationen. Ist das nicht der Grund, warum so viele über diesen Wunsch empört waren? Diesen Wunsch, der da laut von demjenigen geäußert wurde, auf den wir so viele unserer Projektionen gerichtet hatten?
Vertikale Zwischenräume
Das Gedächtnis ist die Fähigkeit des Gehirns, Informationen willkürlich festzuhalten und wiederzugeben. Mit anderen Worten also die Fähigkeit, die uns erlaubt, Ereignisse, Gedanken, Gefühle und Konzepte sowie die Verknüpfungen zwischen ihnen zu erinnern.
Oktober 2021. London, Innenstadt. Ich stehe vor der Universität und unterhalte mich mit einem Studenten aus Moldawien – über die Veränderungen in seinem Land nach 30 Jahren Kampf, über die erste Präsidentin, auf die man wirklich bauen kann, über Belarus. Ich erzähle sehr emotional – wie auf der Bühne, einem Podium – das ein Gewicht hat, das über einen längeren Zeitraum hinweg Stück für Stück in Richtung Abgrund verschoben wird, früher oder später hinunterfällt. Ich beende gerade den Gedanken und drehe mich in Richtung Fahrbahn, als gegenüber eine Reihe großer, dunkelgrau-grüner Autos halten. Mein Atem stockt. Ich weiß, dass hinter mir eine Tür ist und dass ich dorthin fliehen kann. Mir ist klar, dass das keine Gefangenentransporter sind und dass keine Spezialeinheiten herausstürzen werden. Sie sind nicht wegen mir da, sie wollen niemanden holen. „Atme, Liebes, atme, mach bloß kein Drama.“
Blackouts
Das kollektive Gedächtnis formt Identität und Handlungen einer Gemeinschaft und gibt ihr die Möglichkeit, in der Zukunft Fehler zu vermeiden.3
Wir sind so, wie es uns beigebracht wurde: „unglückliche Wichte, naiv, hilflos; unser Kreuz ist schwer und wir müssen es tragen, bis wir das Ende des Regenbogens finden ...“ Eine kurze Zusammenfassung des Lehrplans in belarussischer Literatur, einer zielgerichteten Politik zur Austreibung der Freiheit und der Lebenslust. So sind wir aufgewachsen, so lebten wir im Zustand der erlernten Hilflosigkeit, der Unsicherheit bezüglich unserer Fähigkeiten, unseres Rechts, Fragen zu stellen, Nein zu sagen, andere Lösungen zu suchen, etwas Besseres zu fordern. So funktionierte unser kollektives Gedächtnis.
Das, was wir jetzt schreiben, und das, was die neuen Menschen lesen werden, wird unser neues kollektives Gedächtnis ausmachen. In dieser neuen Etappe sind die Protagonist:innen reifer und lassen nicht zu, dass ihre Erfahrungen abgewertet werden. Sie haben die Sache zu Ende geführt und können es sich erlauben, den Ton zu diktieren. Diktiert – ich bin bereit, euch durch mich erzählen zu lassen, wie groß eure Angst war und wie ihr sie überwunden habt.
Übertragungen, Worttrennungen, Streichung
Die Zukunft ist ein Bedürfnis höherer Ordnung, das du nicht befriedigst, solange die Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind – zum Beispiel die Vergangenheit.
Am 17. September 2020 verließ ich nach 9 Tagen Haft das Gefängnis in Shodsina. Bei der Festnahme hatte ich keine Angst, die Angst kam später – die Angst, wieder ins Gefängnis zu kommen. Am 27. September saß ich eine Stunde lang in Minsk am Fenster und beobachtete durch die Bäume hindurch, was am Platz vor der Stele passiert, las die Nachrichten von den Gefangenentransportern und den Festnahmen auf dem Weg zum Protestmarsch und hatte Angst, aus dem Haus zu gehen. Dann zog ich dunkle Sachen an, eine alte Jacke, um die es nicht schade war, und ging hinaus. Wie eine warme Brise wehte er mir ins Gesicht, der Strom der Menschen, die zur Stele liefen: ruhig und ausgeglichen, selbstbewusst. Menschen, die (noch) wussten, warum sie aus dem Haus gegangen waren – um sich die Zukunft zurückzuholen.
Eine Zukunft gibt es nicht ohne die Vergangenheit. Die Vergangenheit ist wie dein Elternhaus, in dem noch die Tapeten aus deiner Kindheit an den Wänden kleben, wo dein einäugiger Plüschhase sitzt, wo du in den Schubladen deine alten Tagebücher findest, in denen du deine erste Liebe und den ersten Betrug beschrieben hast, in die du Zeitungsausschnitte mit deinen Lieblingsgedichten geklebt hast, und auch die Blütenblätter der ersten Rose, die du geschenkt bekommen hast. An diesen Ort kannst du kommen, ein Stück frisches Weißbrot in Himbeermarmelade tauchen, Kräuter in der alten Emailletasse aufbrühen und dich in den Schnee vor dem Fenster vertiefen, wie er wirbelt, fliegt und taut ... An diesem Ort ist es still und sicher. Dorthin kannst du zurückkehren, wenn du das Gefühl hast zu vergessen, wer du bist.
Wenn du häufig umziehst, weil du kein eigenes Haus hast, bewahrst du keine Dinge auf: Tagebücher, Fotoalben oder Kleider deiner Mutter, Beweise dafür, dass du dir deine Kindheit und deine Erinnerungen nicht ausgedacht hast. Wenn du in deinem eigenen Haus wohnst, bewahrst du solche Dinge auf, stellst sie gut sichtbar auf, voll Stolz. Wer sich in seinem Heimatland als Hausherrin oder Hausherr fühlt, dem können die Geschichte und die Erinnerung nicht gestohlen werden. Aber ich wache auf mit dem Gedanken an die Liste mit hunderten Mitarbeiter:innen von Kultureinrichtungen, die entlassen werden sollen, und denke mit Schrecken: Wer wird dann im Maxim-Bahdanowitsch-Museum arbeiten? ... Was, wenn sie alle Archive vernichten? Alle, wirklich alle ... Haben die Museumsangestellten daran gedacht, haben sie alles gescannt ... alles, wirklich alles ...
Uns wird ständig die Vergangenheit gestohlen, deshalb können wir sie nicht loslassen. Wir binden uns mit Ketten an sie, wie Umweltschützer:innen – wenn ihr unseren Wald roden wollt, dann nur zusammen mit uns. Es ist nicht möglich, das loszulassen, was man nie zur Genüge hatte – du suchst es in anderen Sprachen, Landschaften, in der Sicherheit und den Möglichkeiten, aber die Vergangenheit wird dir immer einen Schritt voraus sein.
Lückenlosigkeit
Einer der Sonntagsmärsche; Menschen mit Flaggen, Musik, Plakaten und Sprechchören bewegen sich flott die zentrale Straße entlang. Ich beneide sie um die treffenden, witzigen und ironischen Plakate. Ihre Poesie, Pointiertheit, Prägnanz. Jemand stimmt einen Sprechchor an – ich stimme ein. Welch Erleichterung, dass man bei dieser Prüfung aus vorgegebenen Varianten wählen kann, anstatt eigene zu schreiben. Ich fühle mich wie ein kleiner, leuchtender Zombie.
Wofür bin ich auf die Straße gegangen? Zuerst habe ich nicht darüber nachgedacht, es musste einfach sein. Hingehen und sehen, wie es wirklich sein kann – mein Belarus. Einen Beitrag leisten, um ein ideales Projekt Wirklichkeit werden zu lassen. Seitdem sage ich immer zuerst „Belarus“, bevor ich meinen Namen nenne. Weil ich Angst habe, es zu verlieren. Und mich selbst?
Die Zukunft ist dort, wo ich einen eigenen Namen habe. Wo ich das Recht habe, zu sein. Wo die Welt einfach dadurch besser ist, dass ich mir selbst treu bleibe. Wo ich die Möglichkeit habe, das zu tun.
Ich konnte mir keine Zukunft vorstellen – aber ich ging auf die Straße für die Möglichkeit eine zu haben.
Der polyphone Zeuge
Ich verstumme. Ich habe viel geredet, aber nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich habe Angst, dass wir es nicht schaffen, das Begonnene zu Ende zu bringen … Das ist es, was ich auszusprechen fürchtete.
„Die Wahrheit ist immer ein realer Schritt zur Befreiung.“4 Die Wahrheit soll und darf nicht nur mir gehören, und ich bin nicht die Einzige, die etwas zu sagen hat. Die Zukunft ist ein Dokumentargedicht, das wir, die so unterschiedlich sind, gemeinsam geschrieben haben.
Ein Land ohne Rudimente
der menschenverachtenden Sowjetler!
Männer können händchenhaltend auf dem Prospekt spazieren gehen!
Alle sprechen Belarussisch! Katzen und Hunde werden nicht vernichtet!
Sozialstaat, Keine Ideologie!
Kein paternalistischer Abklatsch!
Keine Scheuklappen!
Entscheidungen treffen, die die Mehrheit interessieren!
Die belarussische Jugend eröffnet für sich die Zivilisation!
Ohne Massenbesäufnisse und Alkoholismus!
Das Alphabet kehrt zur lateinischen Schrift zurück und die unierte Kirche steht wieder auf!
Hofgemeinschaften!
Betriebe – Gemeinschaften der Arbeiter!
Ökologisches Handeln!
Die Literatur, die in dieser Zeit entstanden ist, wird zum Symbol und Vorbild in uns
unbekannten Sprachen für uns unbekannte Menschen !
Glückliche Omas und Opas!
Gesetz!
Singen, tanzen und umarmen auf allen Straßen und Plätzen!
Keine Xenophobie in den unabhängigen Medien!
Eine große sonnige Familie!
In Schulen und Universitäten – Vielfalt der Selbstverwaltung!
Eine gerechte Gesellschaft!
Du hast keine Angst vor Blicken, strengst dich nicht an, nicht gesehen oder bemerkt zu werden, an keinem Ort, von niemandem ...!
Soziale und kulturelle Inklusion!
Wir sind zusammen eine demokratische Familie!
Die Menschen auf der Straße wundern sich nicht über das freundliche Wort eines Fremden!
Alle Bereiche werden auf Grundlage der Menschenrechte reformiert und gegründet!
– Man darf es nicht aussprechen, es wird sonst nicht wahr.
– ?
– Das galaktische Imperium.
– ?
– Die Wahrheit, natürlich.
Die Autorin dankt allen, die ihre Träume und Vorstellungen von Belarus‘ Zukunft mit ihr geteilt haben.