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Das Unterhosen-Gate

Vom „Blockbuster“ und „Gulfik-Gate“ (dt. Unterhosen-Gate) schreiben unabhängige russische Medien, nachdem der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny am Montag, 21. Dezember, seinen jüngsten Coup gelandet hat: Ich rief meinen Mörder an. Er hat gestanden lautet der Titel seines aktuellen Videos. Darin ist zu sehen, wie Nawalny mehrere der acht FSB-Agenten anruft, die mutmaßlich hinter dem Anschlag auf ihn stehen. Zunächst legen einige von ihnen wieder auf, bis sich Konstantin Kudrjawzew, ein Chemiker im Dienst des FSB, schließlich tatsächlich auf das Gespräch einlässt. Nawalny gibt sich dabei als Mitarbeiter von Nikolaj Patruschew aus, dem Chef des Russischen Sicherheitsrats
In dem rund 49-minütigen Telefonat sagt Kudrjawzew unter anderem, dass das Gift an der Innenseite von Nawalnys Unterhose angebracht worden sei, und auch, dass der Oppositionspolitiker wohl nur überlebt habe, weil das Flugzeug zwischengelandet und sofort ein Krankenwagen vor Ort gewesen sei.
Das Gespräch, bei dem unter anderem auch Bellingcat-Chefredakteur Christo Grozew dabei war, war bereits Mitte Dezember aufgezeichnet worden – als die Recherchen zu den acht FSB-Mitarbeitern von The Insider, Bellingcat und Der Spiegel veröffentlicht wurden. Online ging das Video jedoch erst am 21. Dezember.
Auf seiner Jahrespressekonferenz vergangene Woche hatte Präsident Putin noch jede Beteiligung des FSB an dem Mordversuch abgestritten: „Wenn man das gewollt hätte, dann hätte man es auch zu Ende geführt.“ Der FSB beeilte sich nun, das Video als „Fälschung“ und Provokation westlicher Geheimdienste darzustellen. Unterdessen ließen im RUnet Spott und Häme nicht lange auf sich warten, unter anderem gingen zahlreiche Unterhosen-Memes viral. Im US-Kongress soll sich womöglich ein Unterausschuss mit dem Fall befassen, ein US-Abgeordneter kündigte eine Anhörung an.

In einem viel beachteten Facebook-Post beschreibt der Politologe und Journalist Kirill Rogow, was das Nawalny-Video für den „Mythos Geheimdienst“ bedeutet – und damit für den „Mythos Putin“.

Источник Social Media

Der Mythos vom KGB/FSB hat sowohl die Kommunistische Partei als auch die Sowjetunion überlebt. Geschaffen hat ihn Juri Andropow: Als selbst das gutgläubige Sowjetvolk nicht mehr an den Kommunismus glaubt und die Gerontokratie der Partei verachtet, wächst hinter der verfallenden Fassade der Schatten einer Struktur, die von dem allgemeinen Zerfall verschont bleibt, die wachsam den großen Staat vor den Attacken innerer und äußerer Feinde schützt. Eine Struktur, die weiß, was andere nicht wissen, und über Qualitäten verfügt, die keine andere Struktur hierzulande hat: Effektivität und innere Ordnung.

Dieser Mythos hat im Laufe der Geschichte empfindliche Kratzer abbekommen. Etwa beim Augustputsch 1991, als anstelle der unfehlbaren, mächtigen Maschinerie eine gewaltige Leere klaffte. Einige Jahre später waren die Bürger Russlands müde von der Korruption und dem Chaos, das ihnen die junge Demokratie brachte (und das jungen Demokratien insgesamt innewohnt). Da erinnerten sich die Menschen daran, dass da doch irgendwo diese geheime Organisation existiert, die auf wundersame Weise erhalten blieb zwischen Enteignungen und Privatisierungen und nach wie vor über jene Qualitäten verfügt, die keine andere ihnen bekannte nicht-geheime Struktur hierzulande hat: Uneigennützigkeit, Effektivität, innere Ordnung, Gerechtigkeit und Informiertheit.

Kratzer im Mythos

Wladimir Putin wurde zum Hauptprofiteur dieses wiederbelebten Mythos, dieses Traums. Genauer gesagt wurde er zu dessen schauspielerisch talentiertem Restaurator. Denn ein unvoreingenommener Blick auf seine Karriere offenbart gleich etwas Banales: Sie war nicht sonderlich erfolgreich. Sowohl die Arbeit im Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft als auch die Tätigkeit als KGB-Mann in der Rolle des Prorektors der Leningrader Universität – das sind ziemlich magere Randposten innerhalb des weltbekannten allmächtigen Dienstes der Ordnung und Wahrheit. 
Obwohl er diesem Verein gleich nach dem Ende der UdSSR leichtfertig den Rücken kehrte, verstand es Wladimir Putin meisterhaft, den Mythos dieser geheimen Macht plastisch und feinfühlig zu vermitteln – den „Mythos KGB“, eines effektiven, uneigennützigen, informierten und dem Staat verpflichteten Dienstes, eine Struktur, die so anders ist als alle anderen hierzulande. Genau deswegen hegte das russische Volk so lange eine solch erstaunliche Ergebenheit für Putin. Wenn das Volk auf ihn schaute, dachte es: „Was, wenn eine solche Struktur tatsächlich irgendwo hierzulande existiert? Natürlich ganz geheim, denn die nicht-geheimen kennen wir nur allzu gut, aber die geheime … vielleicht gibt es die wirklich?“ 

Kleinkriminelle Witzfiguren

Dieser kurze Exkurs in die Geschichte des russischen Durchschnittswählers und seine Erwartungen an die Institutionen macht deutlich, welch einen Schlag der nicht-zu-Ende-ermordete Nawalny dem putinschen Hauptmythos verpasst. Alles Geheime wird konkret, und nun zeigt sich dieser bewunderte Dienst in Person irgendwelcher Knechte aus der Platte von nebenan. Kleinkriminelle Witzfiguren, die losgezogen sind, um den Eingriff von Nawalnys Unterhose mit Nowitschok einzureiben und es später dann wieder aus dem Eingriff von Nawalnys Unterhose auszuwaschen. Und es stellt sich heraus, dass sie weder das eine noch das andere richtig gemacht haben, was grob gesagt bedeutet, dass dieser krasse Geheimdienst nicht nur das Zentrum stupider und sinnloser Grausamkeiten ist, sondern auch das Zentrum von monströser Ineffektivität, Ungerechtigkeit und Unordnung.

Ein Geschmäckle bleibt

All das wird unser Durchschnittswähler natürlich nicht glauben: „Wenn sie ihn hätten töten wollen, dann hätten sie ihn getötet“, Nawalny hätte das alles nicht ohne Tipps von [ausländischen] Geheimdiensten wissen können, und so weiter. Und dennoch bleibt ein recht starkes Geschmäckle. Denn gleich neben dem Glauben an die geheime Superorganisation, die den Durchschnittswähler so lange an Putin glauben ließ, lebt in seiner Seele auch die Ahnung von der totalen Niedertracht der Behörden, von der Ineffektivität und mafiösen Korruption, von all dem, worüber Nawalny in seinen brillanten Ermittlungen so überzeugend berichtet.

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FSB

Im Dezember 2018 holte den russischen Präsidenten Wladimir Putin seine Vergangenheit ein: Der Mann, der in Russland seit nunmehr fast 20 Jahren die Fäden zieht, begann seine Karriere 1985 in Dresden, beim sowjetischen Geheimdienst KGB (Komitet gossurdarstwennoi besopasnosti, dt. Komitee für Staatssicherheit). Und nun tauchte der Ausweis auf, mit dem KGB-Major Putin Zugang zu allen Dienststellen seiner ostdeutschen Kollegen hatte.1

Als 1989 aufgebrachte DDR-Bürger das KGB-Büro in der Dresdner Angelikastraße belagerten, gab sich Putin als Dolmetscher aus. Dabei war er zu der Zeit wohl mindestens stellvertretender Abteilungsleiter und unter anderem Verbindungsglied des KGB zur DDR-Staatssicherheit.

Der Karriere des jungen Silowik tat diese Episode keinen Abbruch, im postsozialistischen Russland stieg Putin über Stationen als Hochschulrektor, stellvertretender Bürgermeister, stellvertretender Chef der Präsidialverwaltung 1998 zum Chef des damals schon umbenannten Inlandsgeheimdienstes FSB (Federalnaja slushba besopasnosti, dt. Föderaler Sicherheitsdienst) auf. Das war nur ein Jahr bevor ihn der scheidende Präsident Boris Jelzin zum Ministerpräsidenten und Ende 1999 zum Interimspräsidenten machte.

Unauflöslich ist der Name Putin mit den gefürchteten russischen Geheimdiensten verbunden. Besonders seine alten Kollegen vom FSB – so die landläufige Meinung – hätten dabei nicht nur Putins Hausmacht gebildet, sondern seien auch seine besonderen Günstlinge. Doch diese Annahme ist nicht haltbar, wenn man sich die Geschichte des FSB nach 1990 genauer anschaut.

Gründung, Erbe und Aufgaben des FSB

Eine der wesentlichen demokratischen Reformen im ehemaligen sowjetischen Machtbereich nach 1990 war die Zerschlagung der nahezu allmächtigen Staatssicherheitsapparate. Der sowjetische KGB war ein gigantischer Apparat mit über 700.000 Mitarbeitern.2 Diese enorme Anzahl erklärt sich durch die Akkumulation verschiedener Aufgabengebiete über die Jahrzehnte. Neben typischen Funktionen wie der Auslandsspionage, Spionageabwehr und der von der kommunistischen Partei auferlegten Bekämpfung jeglicher politischer und gesellschaftlicher „Feinde“, gehörten zum KGB auch verschiedene bewaffnete Truppen, die Grenztruppen der Sowjetunion sowie Personenschutz und Versorgung der Systemträger.

Mit dem Ende der Sowjetunion wurde dieser Machtapparat zerschlagen und seine Aufgaben wurden auf eigenständige Behörden übertragen: Der Auslandsgeheimdienst (Slushba wneschnei raswedki – SWR) wurde zu einer separaten Behörde, genauso wie der Personen- und Objektschutz, die Telekommunikationsüberwachung und zunächst auch die Grenztruppen. Damit sollte die enorme Machtkonzentration aufgelöst und ein System von Checks and Balances geschaffen werden.

Die Inlandsaufgaben, die vormals der KGB ausgeführt hatte, also Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung, aber auch organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität, waren von nun an das Arbeitsgebiet des FSB. Dieser wurde offiziell am 3. April 1995 gegründet, in den vier Jahren zuvor hatte er wechselnde Bezeichnungen getragen.

In gewisser Hinsicht erlosch das sowjetische Erbe tatsächlich nie, auch heute findet man klare Anklänge und Kontinuitäten zur sowjetischen Geheimpolizei: vor allem wenn es um politische Verfolgung geht. Genau wie zu Sowjetzeiten verläuft die Grenze zwischen typischen Sicherheitsfunktionen, die auch in liberalen Demokratien von Geheimdiensten ausgeführt werden, und Repressionen gegen Andersdenkende immer noch fließend. Zwar wurden viele KGB-Abteilungen in den 1990er Jahren aufgelöst und zahlreiches Personal entlassen, viele Traditionsmuster, Ausbildung, kulturelle und soziale Prägungen sowie die Mentalitäten der Mitarbeiter, blieben jedoch weitgehend erhalten. Seine Wurzeln sieht der FSB auch heute in der revolutionären Tscheka, der Geheimpolizei der Bolschewiki nach der russischen Revolution.

Der FSB im politischen System

Eine Konstante erhielt sich der FSB auch bei seinem Leitungspersonal. In den letzten 20 Jahren hatte die Behörde gerade einmal drei Direktoren: Auf Wladimir Putin folgte bis 2008 Nikolaj Patruschew, der dann als enger Vertrauter Putins Chef des Nationalen Sicherheitsrates wurde. Seitdem ist Alexander Bortnikow im Amt.

Allerdings gibt es heute einen großen Unterschied: Ganz anders als zu Sowjetzeiten ist der FSB heute in eine vielschichtige Sicherheitsarchitektur eingebunden. Er ist zwar der größte russische Geheimdienst, nichtsdestoweniger jedoch nur noch ein Akteur unter mehreren. Neben dem Militärgeheimdienst GRU und dem Auslandsgeheimdienst SWR gehören dazu auch das Innenministerium, das Verteidigungsministerium, die Nationalgarde, der Ermittlungsdienst des Generalstaatsanwalts und der Föderale Dienst für Bewachung FSO. Zusammengefasst sind alle Sicherheitsdienste und Ministerien im Nationalen Sicherheitsrat, wobei die drei klassischen Geheimdienste FSB, SWR und GRU sich zudem gegenüber der Präsidialadministration verantworten müssen. Beide – Sicherheitsrat und Präsidialadministration – fungieren damit als Gatekeeper: sowohl Hürde als auch Schnittstelle zwischen den Diensten und der Politik.

Alleine deshalb wird die heutige Stellung des FSB in der russischen Sicherheitsarchitektur nicht selten überschätzt. Neben den bewusst geschürten Reminiszenzen an die Allmacht des sowjetischen KGB kommen diese Fehleinschätzungen nicht von ungefähr: Tatsächlich stammt Putin aus dem KGB-/FSB-Apparat. Tatsächlich tritt der FSB aggressiv auf, sowohl in der Öffentlichkeit als auch hinter den Kulissen: Dies reicht von martialischer Rhetorik bis hin zu oftmals dem FSB zugeschriebenen Auftragsmorden, wie jener am ehemaligen FSB-Offizier Alexander Litwinenko. Hinzu kommt tatsächlich auch, dass der FSB in den letzten 15 Jahren systematisch seine Aufgabengebiete auf Kosten anderer Stellen erweiterte. So unterstehen ihm auch heute wieder die Grenztruppen, auch Kommunikationsüberwachung und Anti-Drogen-Kampf kamen im Laufe der Zeit dazu. Inklusive der Grenztruppen hat die Mitarbeiterstärke dadurch wieder enorme Ausmaße angenommen: Der bundesdeutsche Verfassungsschutz geht von mindestens 350.000 FSB-Mitarbeitern aus.3

Systemische Schwächen

Doch aus diesen äußeren Umständen darf man nicht die falschen Schlüsse ziehen: So beruht die Ausweitung der Aufgaben nicht auf einer vermeintlichen Machtposition des FSB, sondern ist vor allem eine Folge der ständigen Konkurrenzkämpfe zwischen den Sicherheitsbehörden. Geschickt spielen der Präsident und seine Administration die Silowiki gegeneinander aus und halten einen ständigen Wettbewerb um die Gunst des Präsidenten und die staatlichen Pfründe am Leben. Nicht umsonst werden die Geheimdienstmitarbeiter als „Russlands neuer Adel“ bezeichnet.4

Ab und an verschiebt sich das Pendel der Präsidentengunst zwischen den einzelnen Diensten. Dies führt regelmäßig zu Aufgabenüberschneidungen zwischen FSB, SWR und GRU und damit auch zu Kompetenzgerangel. Putin und die Präsidialverwaltung scheinen diesen Wettbewerb gezielt zu fördern – auch, um sich daraus immer wieder die Legitimität für die eigene Schiedsrichterrolle zu verschaffen.5 Außerdem erhofft man sich vom Wettbewerb offensichtlich auch eine Belebung des geheimdienstlichen Geschäfts und somit wirksamere Mittel zur Politikgestaltung.

Zwar hat Präsident Putin im Laufe seiner Amtszeiten immer wieder führende Geheimdienstler aus dem FSB in staatliche Führungspositionen gehoben. Die Informationen des FSB selbst hingegen haben es nicht immer einfach, den Präsidenten zu erreichen.6 Keineswegs übt also der FSB einen besonders hohen Einfluss auf das System Putin aus. Genauso wenig konnte sich Putins Herrschaft aber auch vom FSB loslösen. Dasselbe gilt auch für die Neigung, die Kreml-Politik durch ein Prisma von Verschwörungen und Freund-Feind-Unterteilungen zu erklären. Denn beides, so zahlreiche Beobachter, entspricht der Einstellung sowohl des Präsidenten als auch des FSB. Ob der Präsident dabei seine alte KGB- und FSB-Denkschule auslebt oder aber der FSB Putin nach dem Munde redet, ist letztlich kaum aufzulösen.7


1.Spiegel Online: Russischer Präsident: Putins Stasi-Ausweis in Dresdner Archiv gefunden 
2.Hilger, Andreas (2009): Sowjetunion (1945-1991), in: Kaminski, Lukasz /Persak, Krysztof /Gieske, Jens (Hrsg.): Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944-1991, Göttingen, S. 81 
3.BfV-Themenreihe (2008): Spionage gegen Deutschland: Aktuelle Entwicklungen, S. 5f 
4.vgl. Soldatov, Andrei/Borogan, Irina (2010): The new nobility: The restoration of Russia's security state and the enduring legacy of the KGB, New York; Walter, Ulf (2014): Russlands „neuer Adel“: Die Macht des Geheimdienstes von Gorbatschow bis Putin, Berlin 
5.vgl. Kryschtanowskaja, Olga (2005): Anatomie der russischen Elite, Köln 
6.Galeotti, Mark (2016): Putin’s Hydra: Inside Russia’s Intelligence Services, in: CFR Policy Brief Nr. 169, European Council on Foreign Relations 
7.vgl. Rochlitz, Michael (2018): Die Macht der Silowiki: Kontrollieren Russlands Sicherheitsdienste Putin, oder kontrolliert er sie?, in: Russland-Analysen Nr. 363, S. 2-8 
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