Als der bekannte Blogger und Aktivist Sergej Tichanowski am 21. Juni dieses Jahres überraschend aus der Haft entlassen und nach Litauen deportiert wurde, fragten sich viele: Versucht das Lukaschenko-Regime auf diesem Weg, die Stellung von Swetlana Tichanowskaja als Anführerin der Opposition zu untergraben und Unruhe innerhalb der Demokratiebewegung zu stiften? Unruhe gab es danach tatsächlich, aber vor allem rund um Tichanowski selbst, der sich nach einer qualvollen Haftzeit in zahlreiche Aktivitäten warf, die Diskussionen auslösten und viele Fragen aufwarfen.
Das Onlineportal Meduza erzählt in diesem Beitrag Tichanowskis Lebensweg vom Unternehmer zum Blogger und Aktivisten hin zum – nach fünf Haftjahren entlassenen und abgeschobenen – politischen Gefangenen. Dabei kommen auch belarussische Intellektuelle zu Wort, die seinen Weg nach der Freilassung einzuordnen versuchen.

Swetlana Tichanowskaja mit ihrem Mann Sergej bei einer Kundgebung am 28. Juni 2025 in Vilnius / Foto © Darius Mataitis/ Imago
Sergej Tichanowski ist 47 Jahre alt. Er wuchs in Homel auf, einer Großstadt im Südosten von Belarus, und war viele Jahre lang Unternehmer. Nebenbei hatte er ein Faible für Musik, war in seiner Jugend DJ und organisierte Konzerte. Später eröffnete er einige Nachtclubs in Homel und Masyr. In einem von ihnen lernte er Anfang der 2000er Jahre Swetlana kennen. Sie heirateten bald und bekamen Kinder, ihren Sohn Kornej und ihre Tochter Agnija.
Später gehörten Tichanowski mehrere Handyläden und ein Produktionsstudio. In einem Interview sagte er mal, er habe die halbe Welt bereist, um Werbefilme und -fotos für seine Kunden zu machen, und räumte ein: „Werbung ist aber reiner Schwindel. Irgendwann hatte ich es satt. Spätestens, als nach 2015 die Märkte schwächelten und ich zum orthodoxen Christentum kam.“ Auch seine Frau Swetlana bestätigte, dass der Glaube für ihren Mann eine große Bedeutung habe.
2017 erwarb Tichanowski in dem Dorf Aharodnja Homelskaja, direkt an der russisch-belarussischen Grenze, ein Anwesen aus dem 19. Jahrhundert, das er zu einem Hotel-Restaurant ausbauen wollte. Doch die Renovierung gestaltete sich der Bürokratie wegen sehr schwierig. 2019 ging auf YouTube sein Kanal Ein Land zum Leben an den Start. Einer der ersten Clips thematisierte eben jene Auseinandersetzung mit den Behörden wegen des Anwesens in Aharodnja Homelskaja.
Für Sergej übernimmt Swetlana
Ursprünglich ging es bei Ein Land zum Leben um die Förderung kleiner Unternehmen in den belarussischen Regionen. „Manchmal liegt das Geld auf der Straße, aber die Bürokraten wollen oder können es nicht erkennen“, erklärte Tichanowski seinen Abonnenten. Er reiste im Land umher, sprach mit den Menschen in der Provinz, kritisierte Beamte und stieg immer mehr in die Politik ein. Ende 2019, kaum ein Jahr nach der Gründung seines Kanals, übertrug er im Livestream Aktionen der belarussischen Opposition.
Ein Land zum Leben wurde schnell populär. Nach den Dreharbeiten hätten die Leute eine halbe Stunde für ein Selfie angestanden, sagte Tichanowski selbst. Die Menschen posteten die Fotos in ihren Stories, wodurch ihre Bekannten ebenfalls von dem Videoblogger erfuhren. Als Tichanowski Anfang 2020 für 15 Tage inhaftiert wurde, gingen die Menschen für ihn auf die Straße, und die Zahl der Abonnenten seines YouTube-Kanals stieg innerhalb weniger Wochen von 140.000 auf 195.000.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Tichanowski bereits verkündet, dass er beabsichtige, bei den Präsidentschaftswahlen im August 2020 zu kandidieren. Doch die Registrierung als Kandidat wurde ihm verweigert. Stattdessen kandidierte seine Frau Swetlana: Ohne es vorher mit ihrem Mann abzusprechen, der währenddessen seine Haftstrafe absaß, reichte sie bei der Zentralen Wahlkommission die Unterlagen ein. „Ich habe das für ihn getan”, erklärte sie später. „Ich war überzeugt, dass sie mich sowieso nicht registrieren würden, aber ich hätte wenigstens Solidarität mit meinem Mann bewiesen, hätte gezeigt, dass ich nicht tatenlos bin“, sagt sie.
Abermalige Festnahme
Nach seiner Entlassung aus der Haft übernahm Sergej die Leitung ihrer Unterstützergruppe. Er reiste durch die Städte und sammelte Unterschriften für Swetlana. Die Menschen standen Schlange, um für sie zu unterschreiben. In der Kreisstadt Sluzk befragte ein Journalist des belarussischen Dienstes von Radio Svaboda die Leute, warum sie für die Tichanowskis unterschreiben. Die häufigste Antwort war: „Sie sind die Einzigen, die zu uns kommen, wir kennen niemand anderen.“
„Ich würde mir wünschen, dass unsere Oppositionellen mit den Menschen arbeiten, mit ihnen reden, ihnen Mut machen. Aber irgendwie machen nur die Blogger ihnen Mut“, kommentierte Tichanowski. Er sympathisiere nach eigenen Angaben nur mit Pawel Sewerinez und Nikolai Statkewitsch, die gewissermaßen als Alt-Oppositionelle bereits seit den 1990er Jahren gegen Lukaschenka aufgetreten waren und dafür im Gefängnis gesessen hatten. Auch Tichanowski blieb nicht lange in Freiheit. Am 20. Mai 2020 war er aus dem Administrativarrest entlassen und bereits am 29. Mai wegen eines Strafverfahrens festgenommen worden. Das Strafverfahren richtete sich auch gegen Nikolai Statkewitsch.
Nach Sergejs Festnahme wurde Swetlana zum eigentlichen Gesicht des Wahlkampfes. Sie war die einzige Oppositionskandidatin bei den Präsidentschaftswahlen. Ihre Wahlkampfveranstaltung in Minsk im Juli 2020 war die bis dato größte Veranstaltung dieser Art in der belarussischen Geschichte. An den Demonstrationen nach den Wahlen vom 9. August nahmen noch mehr Menschen teil, doch Swetlana konnte schon nicht mehr dabei sein. Sie wurde am 10. August praktisch aus dem Land geworfen, nachdem man sie zuvor gezwungen hatte, einen Aufruf zu unterschreiben, die Proteste zu stoppen. Aus dem Exil in Litauen erklärte sie jedoch, dass sie bereit sei, „die Anführerin der Nation zu werden“.
Sergej befand sich die ganze Zeit über in Untersuchungshaft. Am 10. Oktober wurde ihm erstmals seit seiner Festnahme erlaubt, mit seiner Frau zu telefonieren. Er rief sie auf, „härter aufzutreten“.

24. Mai 2020: Sergej Tichanowski spricht bei einer Kundgebung am Komarowski-Markt in Minsk zu seinen Anhängern / Foto © Natalia Fedosenko/Itar-Tass/Imago
Deportation in eine neue Realität
2021 wurde Sergej Tichanowski zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Swetlana Tichanowskaja, die zu diesem Zeitpunkt zur international anerkannten Anführerin der demokratischen belarussischen Kräfte geworden war, nannte die Freilassung aller politischen Gefangenen als eines ihrer vorrangigen Ziele. Gleichzeitig äußerte sie die Vermutung, dass ihr Mann als einer der Letzten freikommen würde, da er zu Lukaschenkos erbittertsten Feinden gehöre.
Doch am 21. Juni 2025 wurde Tichanowski unerwartet aus der Haft entlassen und nach Litauen deportiert. Sergej war derart stark abgemagert, dass ihn seine Tochter nicht wiedererkannte, wie er auf seiner ersten Pressekonferenz unter Tränen erzählte. Mit Tränen in den Augen sprach er auch darüber, wie er im Gefängnis gequält wurde: Man habe ihn hungern lassen, erniedrigt und eingeschüchtert. („Die Mitarbeiter sagten immer wieder: ‚Du wirst hier nicht nur die 20 Jahre stecken, die wir dir schon verpasst haben. Wir werden dich nochmal verurteilen.‘ Sie sagten: ‚Du wirst hier niemals rauskommen.‘ Immer wieder meinten sie: ‚Du wirst hier sterben.‘“).
Nach den Gründen für seine Freilassung gefragt, erklärte Tichanowski, die belarussische Regierung hoffe wohl, dass er das Ruder an sich ziehen und damit das Büro von Swetlana Tichanowskaja unterminieren würde. Schließlich hatte immer Sergej die Führung innegehabt. Er versicherte allerdings, dass er die politische Autorität seiner Frau nicht in Frage stellen oder sich in die Arbeit ihres Teams einmischen wolle, sondern als eigenständiger Politiker neu anfangen werde. „Ich denke, dass ich nicht die Hauptrolle in der Familie spielen werde. Und wer die gewählte Präsidentin ist, das steht für uns außer Frage“, sagte Tichanowski.
Seine Bereitschaft, die Führung abzugeben, wurde allerdings bald auf die Probe gestellt. Ende September trafen sich die Tichanowskis mit der belarussischen Diaspora in New York. Dabei kam es zwischen den Eheleuten zu einem Konflikt, den man live verfolgen konnte. Gegen Mitte der Veranstaltung wollte Swetlanas Team sie zu einem Interview bei CNN bringen, doch Sergej widersprach: „Das ist nicht der Kanal, den wir brauchen. Das ist nicht Fox News, das Donald Trump immer schaut. Dem würde es gefallen, Swetlana Georgijewna dort zu sehen und unsere Jungs zu befreien. Wenn er sie auf CNN sieht, hat das meiner Meinung nach den gegenteiligen Effekt. Außerdem war dieses Treffen hier seit Langem geplant, und ich finde, es wäre unschön und nicht korrekt, unsere Landsleute sitzenzulassen“, sagte Sergej Tichanowski an das Publikum gewandt. Letztendlich blieb Swetlana, und ihr Interview mit CNN wurde abgesagt.
Schließlich wurde seine Welt auf den Kopf gestellt
Diese Auseinandersetzung sorgte für großes Aufsehen. „Keine angenehme Situation”, gab auch Gleb Iwaschkewitsch zu, einer der Organisatoren des Treffens mit den Tichanowskis. Sergej Tichanowski sprach später von Meinungsverschiedenheiten mit dem Team seiner Frau („Ich war wütend, dass man versucht hat, mich als Maskottchen zu benutzen. Es wird weder über Ziele gesprochen noch über den Zeitplan der Treffen und Interviews. Man interessiert sich nicht für meine Meinung“). Anna Krassulina, Swetlanas Pressesprecherin, beschuldigte Sergej, er versuche „sein Ansehen dem Ansehen von Swetlana entgegenzustellen“, ohne die aktuellen politischen Realitäten zu verstehen („Er versucht, so zu handeln, wie er 2019, 2020 vorgegangen war, und denkt, dass ihm das Erfolg bringt.“). Swetlana Tichanowskaja verteidigte ihren Mann und erinnerte daran, dass Sergej fünf Jahre im Gefängnis gesessen hatte, zwei davon in völliger Isolation, und jetzt eine neue Rolle finden müsse („Schließlich wurde seine Welt auf den Kopf gestellt. Ich denke aber, er wird sich eingewöhnen“).
Der Vorwurf, er würde agieren, als sei es 2020, war Tichanowski schon zuvor gemacht worden. Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit wurde er sofort wieder in der Öffentlichkeit aktiv und erklärte, er wolle Lukaschenkos Regime brechen. „Ich bin mein eigener Motor, mein eigener Treibstoff. Ich werde handeln!“, versprach Tichanowski und verkündete, er wolle innerhalb von drei Wochen 200.000 Euro für einen „mächtigen Schlag gegen den Lukaschismus” sammeln. Als die Aktion scheiterte, erklärte er, es sei „beschämend“ und „schmerzhaft“. „Der Feind des Regimes macht – ganz wie der Führer des Regimes – den einfachen Belarussen Vorwürfe“, kommentierte daraufhin der Experte Alexander Klaskowski die Reaktion Tichanowskis. Der musste sich rechtfertigen (und zwar nicht nur wegen dieser Äußerung).
Glaubt man seinen Interviews, ist der Macher von Ein Land zum Leben voller Kampfeslust. Der Experte Artyom Shraibman meint jedoch, dass Tichanowski als Politiker im Exil nur einen „bescheidenen Platz“ einnehmen könne. Er sieht dabei drei mögliche Varianten: die Diplomatie (doch da ist bereits seine Frau aktiv), den Aufbau neuer Oppositionsstrukturen (allerdings war Tichanowski auf der politischen Bühne stets als Einzelkämpfer aufgetreten) oder die Wiederaufnahme seiner Aktivität als Blogger. In allen Fällen, meint Schraibman, warte auf Tichanowski, genau wie auf viele andere freigelassene politische Gefangene, die schmerzliche Begegnung mit einer neuen Realität.
Dass Sergej nicht als gebrochener Mann, sondern sogar energiegeladen aus dem Gefängnis kam, ist ehrenwert
Das Problem sei, dass sich Tichanowskis Erfahrungswelt der letzten fünf Jahre zu sehr von derjenigen der Gesellschaft unterscheide, an die er sich wendet, erklärt Soziologe Gennadi Korschunow gegenüber dem Portal Zerkalo. Die Belarussen haben die Niederschlagung der Proteste von 2020 erlebt, Strafverfahren wegen Beteiligung an diesen Protesten (und wegen der Unterstützung politischer Gefangenen oder Spenden für demokratische Initiativen), Emigration, den russischen Krieg gegen die Ukraine, Entzweiung von Familien und andere Schwierigkeiten. Tichanowskis Erfahrungen waren zwar nicht weniger dramatisch, aber sehr anders: das harte Regime im Gefängnis, das Informationsvakuum und ständige Kontrollen.
„Dass Sergej nicht als gebrochener Mann, sondern sogar energiegeladen aus dem Gefängnis kam, ist ehrenwert, dafür gebührt ihm der größte Respekt”, meint Korschunow. „Doch geht er jetzt mit der Erfahrung ‚seines Jahres 2020‘ auf die Straße. Er hat jene Erfahrung in Reinform bewahrt, ohne zu berücksichtigen, was die belarussische Gesellschaft in den letzten fünf Jahren erlebt hat. Für Sergej gab es Gefängnis und Untersuchungshaft – die belarussische Gesellschaft erlebte mehrere Repressionswellen, den Beginn des Krieges, sie musste ihren Status und ihre Erfahrungen neu denken, war vielerorts ausgebrannt. Ihr fehlen die Ressourcen, es gibt immer weniger Möglichkeiten, etwas zu tun. Und hier liegt der riesige Unterschied, nämlich der zwischen Wunschdenken und Realität.“

