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Seine Welt auf den Kopf gestellt

Als der bekannte Blogger und Aktivist Sergej Tichanowski am 21. Juni dieses Jahres überraschend aus der Haft entlassen und nach Litauen deportiert wurde, fragten sich viele: Versucht das Lukaschenko-Regime auf diesem Weg, die Stellung von Swetlana Tichanowskaja als Anführerin der Opposition zu untergraben und Unruhe innerhalb der Demokratiebewegung zu stiften? Unruhe gab es danach tatsächlich, aber vor allem rund um Tichanowski selbst, der sich nach einer qualvollen Haftzeit in zahlreiche Aktivitäten warf, die Diskussionen auslösten und viele Fragen aufwarfen.  

Das Onlineportal Meduza erzählt in diesem Beitrag Tichanowskis Lebensweg vom Unternehmer zum Blogger und Aktivisten hin zum – nach fünf Haftjahren entlassenen und abgeschobenen – politischen Gefangenen. Dabei kommen auch belarussische Intellektuelle zu Wort, die seinen Weg nach der Freilassung einzuordnen versuchen.    

Источник Meduza

Swetlana Tichanowskaja mit ihrem Mann Sergej bei einer Kundgebung am 28. Juni 2025 in Vilnius / Foto © Darius Mataitis/ Imago 

Sergej Tichanowski ist 47 Jahre alt. Er wuchs in Homel auf, einer Großstadt im Südosten von Belarus, und war viele Jahre lang Unternehmer. Nebenbei hatte er ein Faible für Musik, war in seiner Jugend DJ und organisierte Konzerte. Später eröffnete er einige Nachtclubs in Homel und Masyr. In einem von ihnen lernte er Anfang der 2000er Jahre Swetlana kennen. Sie heirateten bald und bekamen Kinder, ihren Sohn Kornej und ihre Tochter Agnija. 

Später gehörten Tichanowski mehrere Handyläden und ein Produktionsstudio. In einem Interview sagte er mal, er habe die halbe Welt bereist, um Werbefilme und -fotos für seine Kunden zu machen, und räumte ein: „Werbung ist aber reiner Schwindel. Irgendwann hatte ich es satt. Spätestens, als nach 2015 die Märkte schwächelten und ich zum orthodoxen Christentum kam.“ Auch seine Frau Swetlana bestätigte, dass der Glaube für ihren Mann eine große Bedeutung habe. 

2017 erwarb Tichanowski in dem Dorf Aharodnja Homelskaja, direkt an der russisch-belarussischen Grenze, ein Anwesen aus dem 19. Jahrhundert, das er zu einem Hotel-Restaurant ausbauen wollte. Doch die Renovierung gestaltete sich der Bürokratie wegen sehr schwierig. 2019 ging auf YouTube sein Kanal Ein Land zum Leben an den Start. Einer der ersten Clips thematisierte eben jene Auseinandersetzung mit den Behörden wegen des Anwesens in Aharodnja Homelskaja. 

Für Sergej übernimmt Swetlana  

Ursprünglich ging es bei Ein Land zum Leben um die Förderung kleiner Unternehmen in den belarussischen Regionen. „Manchmal liegt das Geld auf der Straße, aber die Bürokraten wollen oder können es nicht erkennen“, erklärte Tichanowski seinen Abonnenten. Er reiste im Land umher, sprach mit den Menschen in der Provinz, kritisierte Beamte und stieg immer mehr in die Politik ein. Ende 2019, kaum ein Jahr nach der Gründung seines Kanals, übertrug er im Livestream Aktionen der belarussischen Opposition. 

Ein Land zum Leben wurde schnell populär. Nach den Dreharbeiten hätten die Leute eine halbe Stunde für ein Selfie angestanden, sagte Tichanowski selbst. Die Menschen posteten die Fotos in ihren Stories, wodurch ihre Bekannten ebenfalls von dem Videoblogger erfuhren. Als Tichanowski Anfang 2020 für 15 Tage inhaftiert wurde, gingen die Menschen für ihn auf die Straße, und die Zahl der Abonnenten seines YouTube-Kanals stieg innerhalb weniger Wochen von 140.000 auf 195.000. 

Zu diesem Zeitpunkt hatte Tichanowski bereits verkündet, dass er beabsichtige, bei den Präsidentschaftswahlen im August 2020 zu kandidieren. Doch die Registrierung als Kandidat wurde ihm verweigert. Stattdessen kandidierte seine Frau Swetlana: Ohne es vorher mit ihrem Mann abzusprechen, der währenddessen seine Haftstrafe absaß, reichte sie bei der Zentralen Wahlkommission die Unterlagen ein. „Ich habe das für ihn getan”, erklärte sie später. „Ich war überzeugt, dass sie mich sowieso nicht registrieren würden, aber ich hätte wenigstens Solidarität mit meinem Mann bewiesen, hätte gezeigt, dass ich nicht tatenlos bin“, sagt sie. 

Abermalige Festnahme 

Nach seiner Entlassung aus der Haft übernahm Sergej die Leitung ihrer Unterstützergruppe. Er reiste durch die Städte und sammelte Unterschriften für Swetlana. Die Menschen standen Schlange, um für sie zu unterschreiben. In der Kreisstadt Sluzk befragte ein Journalist des belarussischen Dienstes von Radio Svaboda die Leute, warum sie für die Tichanowskis unterschreiben. Die häufigste Antwort war: „Sie sind die Einzigen, die zu uns kommen, wir kennen niemand anderen.“ 

„Ich würde mir wünschen, dass unsere Oppositionellen mit den Menschen arbeiten, mit ihnen reden, ihnen Mut machen. Aber irgendwie machen nur die Blogger ihnen Mut“, kommentierte Tichanowski. Er sympathisiere nach eigenen Angaben nur mit Pawel Sewerinez und Nikolai Statkewitsch, die gewissermaßen als Alt-Oppositionelle bereits seit den 1990er Jahren gegen Lukaschenka aufgetreten waren und dafür im Gefängnis gesessen hatten. Auch Tichanowski blieb nicht lange in Freiheit. Am 20. Mai 2020 war er aus dem Administrativarrest entlassen und bereits am 29. Mai wegen eines Strafverfahrens festgenommen worden. Das Strafverfahren richtete sich auch gegen Nikolai Statkewitsch. 

Nach Sergejs Festnahme wurde Swetlana zum eigentlichen Gesicht des Wahlkampfes. Sie war die einzige Oppositionskandidatin bei den Präsidentschaftswahlen. Ihre Wahlkampfveranstaltung in Minsk im Juli 2020 war die bis dato größte Veranstaltung dieser Art in der belarussischen Geschichte. An den Demonstrationen nach den Wahlen vom 9. August nahmen noch mehr Menschen teil, doch Swetlana konnte schon nicht mehr dabei sein. Sie wurde am 10. August praktisch aus dem Land geworfen, nachdem man sie zuvor gezwungen hatte, einen Aufruf zu unterschreiben, die Proteste zu stoppen. Aus dem Exil in Litauen erklärte sie jedoch, dass sie bereit sei, „die Anführerin der Nation zu werden“. 

Sergej befand sich die ganze Zeit über in Untersuchungshaft. Am 10. Oktober wurde ihm erstmals seit seiner Festnahme erlaubt, mit seiner Frau zu telefonieren. Er rief sie auf, „härter aufzutreten“.

24. Mai 2020: Sergej Tichanowski spricht bei einer Kundgebung am Komarowski-Markt in Minsk zu seinen Anhängern / Foto © Natalia Fedosenko/Itar-Tass/Imago 

Deportation in eine neue Realität 

2021 wurde Sergej Tichanowski zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Swetlana Tichanowskaja, die zu diesem Zeitpunkt zur international anerkannten Anführerin der demokratischen belarussischen Kräfte geworden war, nannte die Freilassung aller politischen Gefangenen als eines ihrer vorrangigen Ziele. Gleichzeitig äußerte sie die Vermutung, dass ihr Mann als einer der Letzten freikommen würde, da er zu Lukaschenkos erbittertsten Feinden gehöre. 

Doch am 21. Juni 2025 wurde Tichanowski unerwartet aus der Haft entlassen und nach Litauen deportiert. Sergej war derart stark abgemagert, dass ihn seine Tochter nicht wiedererkannte, wie er auf seiner ersten Pressekonferenz unter Tränen erzählte. Mit Tränen in den Augen sprach er auch darüber, wie er im Gefängnis gequält wurde: Man habe ihn hungern lassen, erniedrigt und eingeschüchtert. („Die Mitarbeiter sagten immer wieder: ‚Du wirst hier nicht nur die 20 Jahre stecken, die wir dir schon verpasst haben. Wir werden dich nochmal verurteilen.‘ Sie sagten: ‚Du wirst hier niemals rauskommen.‘ Immer wieder meinten sie: ‚Du wirst hier sterben.‘“). 

Nach den Gründen für seine Freilassung gefragt, erklärte Tichanowski, die belarussische Regierung hoffe wohl, dass er das Ruder an sich ziehen und damit das Büro von Swetlana Tichanowskaja unterminieren würde. Schließlich hatte immer Sergej die Führung innegehabt. Er versicherte allerdings, dass er die politische Autorität seiner Frau nicht in Frage stellen oder sich in die Arbeit ihres Teams einmischen wolle, sondern als eigenständiger Politiker neu anfangen werde. „Ich denke, dass ich nicht die Hauptrolle in der Familie spielen werde. Und wer die gewählte Präsidentin ist, das steht für uns außer Frage“, sagte Tichanowski. 

Seine Bereitschaft, die Führung abzugeben, wurde allerdings bald auf die Probe gestellt. Ende September trafen sich die Tichanowskis mit der belarussischen Diaspora in New York. Dabei kam es zwischen den Eheleuten zu einem Konflikt, den man live verfolgen konnte. Gegen Mitte der Veranstaltung wollte Swetlanas Team sie zu einem Interview bei CNN bringen, doch Sergej widersprach: „Das ist nicht der Kanal, den wir brauchen. Das ist nicht Fox News, das Donald Trump immer schaut. Dem würde es gefallen, Swetlana Georgijewna dort zu sehen und unsere Jungs zu befreien. Wenn er sie auf CNN sieht, hat das meiner Meinung nach den gegenteiligen Effekt. Außerdem war dieses Treffen hier seit Langem geplant, und ich finde, es wäre unschön und nicht korrekt, unsere Landsleute sitzenzulassen“, sagte Sergej Tichanowski an das Publikum gewandt. Letztendlich blieb Swetlana, und ihr Interview mit CNN wurde abgesagt. 

Schließlich wurde seine Welt auf den Kopf gestellt 

Diese Auseinandersetzung sorgte für großes Aufsehen. „Keine angenehme Situation”, gab auch Gleb Iwaschkewitsch zu, einer der Organisatoren des Treffens mit den Tichanowskis. Sergej Tichanowski sprach später von Meinungsverschiedenheiten mit dem Team seiner Frau („Ich war wütend, dass man versucht hat, mich als Maskottchen zu benutzen. Es wird weder über Ziele gesprochen noch über den Zeitplan der Treffen und Interviews. Man interessiert sich nicht für meine Meinung“). Anna Krassulina, Swetlanas Pressesprecherin, beschuldigte Sergej, er versuche „sein Ansehen dem Ansehen von Swetlana entgegenzustellen“, ohne die aktuellen politischen Realitäten zu verstehen („Er versucht, so zu handeln, wie er 2019, 2020 vorgegangen war, und denkt, dass ihm das Erfolg bringt.“). Swetlana Tichanowskaja verteidigte ihren Mann und erinnerte daran, dass Sergej fünf Jahre im Gefängnis gesessen hatte, zwei davon in völliger Isolation, und jetzt eine neue Rolle finden müsse („Schließlich wurde seine Welt auf den Kopf gestellt. Ich denke aber, er wird sich eingewöhnen“). 

Der Vorwurf, er würde agieren, als sei es 2020, war Tichanowski schon zuvor gemacht worden. Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit wurde er sofort wieder in der Öffentlichkeit aktiv und erklärte, er wolle Lukaschenkos Regime brechen. „Ich bin mein eigener Motor, mein eigener Treibstoff. Ich werde handeln!“, versprach Tichanowski und verkündete, er wolle innerhalb von drei Wochen 200.000 Euro für einen „mächtigen Schlag gegen den Lukaschismus” sammeln. Als die Aktion scheiterte, erklärte er, es sei „beschämend“ und „schmerzhaft“. „Der Feind des Regimes macht – ganz wie der Führer des Regimes – den einfachen Belarussen Vorwürfe“, kommentierte daraufhin der Experte Alexander Klaskowski die Reaktion Tichanowskis. Der musste sich rechtfertigen (und zwar nicht nur wegen dieser Äußerung). 

Glaubt man seinen Interviews, ist der Macher von Ein Land zum Leben voller Kampfeslust. Der Experte Artyom Shraibman meint jedoch, dass Tichanowski als Politiker im Exil nur einen „bescheidenen Platz“ einnehmen könne. Er sieht dabei drei mögliche Varianten: die Diplomatie (doch da ist bereits seine Frau aktiv), den Aufbau neuer Oppositionsstrukturen (allerdings war Tichanowski auf der politischen Bühne stets als Einzelkämpfer aufgetreten) oder die Wiederaufnahme seiner Aktivität als Blogger. In allen Fällen, meint Schraibman, warte auf Tichanowski, genau wie auf viele andere freigelassene politische Gefangene, die schmerzliche Begegnung mit einer neuen Realität. 

Dass Sergej nicht als gebrochener Mann, sondern sogar energiegeladen aus dem Gefängnis kam, ist ehrenwert 

Das Problem sei, dass sich Tichanowskis Erfahrungswelt der letzten fünf Jahre zu sehr von derjenigen der Gesellschaft unterscheide, an die er sich wendet, erklärt Soziologe Gennadi Korschunow gegenüber dem Portal Zerkalo. Die Belarussen haben die Niederschlagung der Proteste von 2020 erlebt, Strafverfahren wegen Beteiligung an diesen Protesten (und wegen der Unterstützung politischer Gefangenen oder Spenden für demokratische Initiativen), Emigration, den russischen Krieg gegen die Ukraine, Entzweiung von Familien und andere Schwierigkeiten. Tichanowskis Erfahrungen waren zwar nicht weniger dramatisch, aber sehr anders: das harte Regime im Gefängnis, das Informationsvakuum und ständige Kontrollen. 

„Dass Sergej nicht als gebrochener Mann, sondern sogar energiegeladen aus dem Gefängnis kam, ist ehrenwert, dafür gebührt ihm der größte Respekt”, meint Korschunow. „Doch geht er jetzt mit der Erfahrung ‚seines Jahres 2020‘ auf die Straße. Er hat jene Erfahrung in Reinform bewahrt, ohne zu berücksichtigen, was die belarussische Gesellschaft in den letzten fünf Jahren erlebt hat. Für Sergej gab es Gefängnis und Untersuchungshaft – die belarussische Gesellschaft erlebte mehrere Repressionswellen, den Beginn des Krieges, sie musste ihren Status und ihre Erfahrungen neu denken, war vielerorts ausgebrannt. Ihr fehlen die Ressourcen, es gibt immer weniger Möglichkeiten, etwas zu tun. Und hier liegt der riesige Unterschied, nämlich der zwischen Wunschdenken und Realität.“ 

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52 politsche Gefangene wurden in dieser Woche in Belarus freigelassen, darunter Mikola Statkewitsch. Allerdings weigerte er sich, nach Litauen deportiert zu werden. Wer ist dieser unerschrockene Oppositonspolitiker? Waleri Karbalewitsch über einen nationalbewussten Sozialdemokraten, der sich dem Kampf gegen die Diktatur verschrieben hat.

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Swetlana Tichanowskaja

„Serjoscha, ich liebe dich sehr. Ich mache das nur für dich und die Menschen, die an dich glauben.“ Das sagte Swetlana Tichanowskaja vor Reportern, als sie aus dem Minsker Büro der Zentralen Wahlkommission trat, in der sie wenige Minuten zuvor die Bestätigung ihrer Präsidentschaftskandidatur ausgehändigt bekam. Zu diesem Zeitpunkt saß ihr Mann Sergej Tichanowski bereits seit mehr als zwei Wochen in Haft – er ist bis heute nicht frei. Die belarussischen Behörden hatten dem bekannten Blogger und Gründer des Youtube-Kanals Ein Land zum Leben die Kandidatur zu den Wahlen verweigert. Daraufhin hatte seine seine Frau Swetlana beschlossen, an seine Stelle zu treten.

Zurückhaltend, naiv, unerfahren: Das dachten dann wohl die meisten Belarussen, als sie Swetlana Tichanowskaja 2020 zum ersten Mal sahen, nur drei Monate vor den Wahlen vom 9. August. Seitdem ist Tichanowskaja zu einer erfahrenen Politikerin geworden, die schon jetzt mehr Staatsmänner von Weltrang getroffen hat als Machthaber Alexander Lukaschenko in seiner ganzen Laufbahn.

Swetlana Tichanowskaja und das sie stützende Wahlbündnis trat mit dem Versprechen an, die politischen Gefangenen freizulassen und anschließend faire und freie Neuwahlen durchzuführen / Foto © Jindřich Nosek (NoJin) unter CC BY-SA 4.0

Alexander Lukaschenkos strategischer Fehler und der Beginn von Swetlana Tichanowskajas neuem Leben fielen auf den 14. Juli 2020: Tichanowskaja wurde als einzige von drei aussichtsreichen Oppositionskandidaten zum Wahlkampf zugelassen. Mit dieser Zulassung wollte das Regime den Eindruck fairer Wahlen erwecken. Damals behauptete Lukaschenko noch, dass die belarussische Gesellschaft sowieso nicht „reif“ genug sei, um eine Frau ins Präsidentenamt zu heben. Ein ehrlicher politischer Wettstreit gegen männliche Kandidaten wäre ihm höchstwahrscheinlich zu risikoreich gewesen. Daher hatten die Behörden Sergej Tichanowski und Viktor Babariko präventiv festgenommen, außerdem Waleri Zepkalo die Kandidatur verweigert. Wenig später sollte sich herausstellen, wie bereit die belarussische Gesellschaft war, einer Frau das Vertrauen zu schenken.

Drohungen, erzwungenes Video und Tausende Anhänger

Tichanowskaja verkündete zwei Tage nach ihrer Registrierung als Kandidatin, sich mit Babarikos Kampagnenleiterin und Zepkalos Ehefrau zusammenzuschließen. Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo wurden als die „drei Grazien“ bezeichnet, und große Teile der Gesellschaft begannen, sie als Leitfiguren für einen potentiellen Wandel  anzusehen. Von Tichanowskaja erfuhren die Belarussen im Zuge des Wahlkampfs die Geschichte einer Hausfrau und Mutter, die eine Projektionsfläche für viele belarussische Frauen bot: Sie wurde in der Kleinstadt Mikaschewitschi geboren und hatte an der Pädagogischen Universität von Mosyr Fremdsprachen studiert. Später arbeitete sie in Gomel als Übersetzerin für Englisch und heiratete im Jahr 2005. Sie und ihr Mann bekamen zwei Kinder. Weil ihr Sohn mit einer Hörbehinderung geboren wurde, gab sie ihre Arbeit auf, um für ihn da zu sein.  

Zu den Kundgebungen dieser unerfahrenen Newcomerin kamen  hunderttausende Menschen in ganz Belarus. Schon damals war zu erkennen, dass Tichanowskaja – einmal ihrem Mann zuliebe in die Welt der Politik eingetaucht und von seinen Wählern unterstützt – ihr Projekt nicht auf halbem Wege fallen lassen würde. Auch dann nicht, als sie im Zuge der erfolgreichen Wahlkampagne einen Anruf von einer unbekannten Nummer erhielt: Der Anrufer drohte ihr mit Verhaftung und damit, ihr die Kinder wegzunehmen. Also nahm die Großmutter die Kinder in Obhut und reiste mit ihnen nach Litauen aus. Sie selbst setzte ihren Wahlkampf fort. Das Wahlbündnis um Tichanowskaja trat dabei mit dem Versprechen an, die politischen Gefangenen freizulassen und anschließend faire und freie Neuwahlen durchzuführen.

Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse am 9. August 2020 kam es in Belarus noch am selben Abend zu Massenprotesten, Verhaftungen und Polizeigewalt: Der Unmut über das offensichtlich gefälschte Wahlergebnis hatte landesweite Proteste ausgelöst. Berechnungen zu den Stimmabgaben, die Aktivisten vorgenommen haben, legten nahe, dass das Wahlbündnis um Tichanowskaja ziemlich wahrscheinlich mindestens den zweiten Wahlgang erreicht hatte, was den offiziell verkündeten Zahlen von 9,9 Prozent diametral entgegenstand1. Die Zentrale Wahlkommission erklärte, mehr als 80 Prozent der Stimmen seien an Lukaschenko gegangen.

Für Tichanowskaja brachte der nächste Tag endgültige Ernüchterung. Als sie das Wahlergebnis bei der Zentralen Wahlkommission in Minsk anfechten wollte, kehrte sie von dort nicht wieder zurück. Nachdem litauische Behörden tags darauf angaben, dass sie sich in Litauen aufhalte, tauchten zwei Videos auf: Darin rief eine verängstigte Tichanowskaja die Belarussen dazu auf, nicht mehr auf die Straße zu gehen, und erklärte, das Land  verlassen zu haben. Sie begründete das mit der Sorge um die Sicherheit ihrer Kinder2. Später wurde bekannt, dass mindestens eines dieser Videos unter dem Druck des belarussischen Geheimdienstes KGB entstanden war3.
Zehn Tage später gab Tichanowskaja in Litauen ihre erste Pressekonferenz aus dem Exil.

Zu den Kundgebungen dieser unerfahrenen Newcomerin kamen hunderttausende Menschen in ganz Belarus / Foto © Nadia Buzhan

Ein Treffen mit Biden – „Mehr als ein Foto auf Twitter“

Ihr erster wichtiger politischer Schritt im Exil war es, dem Regime ein symbolisches Volksultimatum zu stellen: Sie forderte Lukaschenko auf zurückzutreten, zudem alle politischen Gefangenen freizulassen und die Gewalt gegen die Protestierenden zu beenden. Andernfalls drohe ein Generalstreik – zu dem es im Oktober 2020 tatsächlich kam: Studierende, Ärzte, Unternehmer, Angestellte und Arbeiter der mächtigen Staatsbetriebe schlossen sich dem an. Allerdings erreichte der Streik nicht die gewünschten Ausmaße. Auch weil es der Staatsmacht gelang, die Welle des Ungehorsams und den Protestwillen mit brutalen Festnahmen und Kündigungen zu brechen und einzuhegen. Daher war der Streik relativ schnell beendet, und weitere Versuche, solche Streiks zu organisieren, blieben auch später erfolglos.  

Tichanowskaja und ihr Team begannen vom Exil aus, international politische Aufmerksamkeit für die belarussische Demokratiebewegung zu schaffen, indem sie zahlreiche Staatsoberhäupter westlicher Länder traf, darunter Emmanuel Macron, Angela Merkel, Boris Johnson und Joe Biden. Sie wurde zu einer ernst zunehmenden Stimme für ihr Land. Der Politologe Artyom Shraibman bemerkte damals zu Tichanowskajas Treffen mit Biden: „Ein solches Symbol auf [Präsidenten]Ebene ist mehr als ein Foto auf Twitter. Für die amerikanischen Bürokraten ist das ein starkes Signal.“ Zum Vergleich: Lukaschenko hat in den vergangenen zwei Jahren nur Putin, staatliche Amtsträger aus Venezuela und Staatsführer aus der Einflusssphäre der OVKS getroffen.

Diplomatische Erfolge im Exil

Nach den gefälschten Wahlen hatte die westliche Diplomatie Lukaschenko deutlich zu verstehen gegeben, dass Verhandlungen erst nach einem angemessenen Dialog mit der Opposition, Neuwahlen und der Freilassung politischer Gefangener möglich seien.

Unterdessen konnte Tichanowskaja nach nur wenigen Monaten in Litauen wichtige diplomatische Erfolge erzielen: Das EU-Parlament und der US-Kongress erkannten den auf ihre Initiative hin gegründeten Koordinationsrat als legitime Vertretung des belarussischen Volkes an. Im Sommer 2021 wurde ihrem Büro von der litauischen Regierung der Diplomatenstatus verliehen. Im Februar 2022 kündigte sie die Bildung einer Exilregierung an.
Dass Tichanowskaja durch die westliche Gemeinschaft so vielseitige Unterstützung erhielt, hat ihre Anerkennung erheblich gesteigert, auch bei den Belarussen im Inland.

Zum ersten Mal seit Langem hat auch die belarussische Diaspora eine angesehene moderne Führungspersönlichkeit. Swetlana Tichanowskaja und ihr Team kommunizieren regelmäßig mit Vertretern der belarussischen Diaspora in aller Welt, etwa in den von ihr eingerichteten Volksbotschaften, die als informelle Auslandsvertretungen der Belarussen fungieren. Sie persönlich nimmt an Demonstrationen von Belarussen im Ausland teil und unterstützt Familien von politischen Gefangenen.
Der letzte führende Politiker der Diaspora war Sjanon Pasnjak, ein ehemaliger Abgeordneter des belarussischen Obersten Sowjets, der seit mehr als 20 Jahren nicht mehr in Belarus lebt und Vorsitzender der ultrakonservativen christlichen Partei BNF ist. Für viele Belarussen, die schon lange im Ausland sind, ist er bis heute ein wichtiger Bezugspunkt. Der Großteil der belarussischen Diaspora, die seit 2020 weltweit noch einmal um mindestens 100.000 Menschen gewachsen ist, dürfte jedoch inzwischen Tichanowskaja anhängen, auch, weil sie für eine neue Generation steht.

Gleichzeitig droht den Exilpolitikern angesichts der harten politischen Repressionen ein Bedeutungsverlust bei den Menschen in Belarus selbst: Laut einer unabhängigen Umfrage unter Belarussen, die den Protest unterstützen, vertrauen zwar 85 Prozent der Befragten Tichanowskaja, im Februar 2022 hätten jedoch nur 19 Prozent für sie gestimmt. Der beliebteste Oppositionspolitiker ist nach wie vor Viktor Babariko, den 45 Prozent der Befragten wählen würden.

Wobei die Unterstützung für Tichanowskaja seit Beginn des Kriegs in der Ukraine wieder leicht angestiegen ist. Ihr Team leistet unter anderem humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und verfolgt die Bewegung von russischem Militärgerät auf dem Territorium von Belarus.
Dabei verfügt sie nachweislich über Wirkmacht: Als Tichanowskaja am 27. Februar, dem Tag des umstrittenen Verfassungsreferendums, dazu aufrief, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen, kam es in Belarus zu zahlreichen Protesten, bei denen mindestens 500 Menschen festgenommen wurden, die meisten in Minsk.

Kritiker in den oppositionellen Reihen

Innerhalb der belarussischen Opposition wurden immer wieder auch kritische Stimmen laut, die ihr mangelnde politische Kompetenz, eine unklare Position und umstrittene politische Entscheidungen vorwarfen, darunter übertriebenen Optimismus und eine viel zu konkrete Ankündigung eines Siegs über das Regime – was der bekannte Philosoph Wladimir Mazkewitsch mit den Worten quittierte: „Im Herbst haben Sie geschrien, das Regime würde bis Weihnachten oder Neujahr fallen. Es ist aber nicht gefallen, und die Menschen, die darauf gehofft haben, sind jetzt verzweifelt.“ Zu wenig strategisches Denken, um auch die Unentschlossenen anzusprechen, kritisierte Politologe Andrej Kasakewitsch und befand, es brauche mehr als mit politischen Statements in den sozialen Medien „viral“ zu gehen.
Eine der ersten öffentlichen Äußerungen, die Tichanowskajas Glaubwürdigkeit vorübergehend ernsthaft untergrub, war ein Interview mit dem russischen Wirtschaftsmedium RBK im September 2020, kurz nach ihrer Emigration. Darin bezeichnete sie Putin als „weisen Regenten“. Später rechtfertigte sie ihre Aussage mit mangelnder Erfahrung – der Zweck des Interviews sei gewesen, Putin dazu anzuhalten, Lukaschenko nicht länger zu unterstützen.

Tichanowskaja drohen bis zu 59 Jahre Haft, wenn nicht die Todesstrafe

Entgegen Lukaschenkos Behauptung, die belarussische Gesellschaft sei für eine Frau an der Spitze nicht reif, haben die Belarussen mit Swetlana Tichanowskaja nicht nur eine wenig bekannte Frau groß gemacht, sondern sehen in ihr auch die Verkörperung einer Ära der Freiheit, die allerdings alles andere als nahe scheint. Tichanowskaja wurde zum Symbol dieses Kampfes, was trotz aller Kritik nur wenige bestreiten. Oder, wie es Ales Santozki in einer Analyse für Nascha Niwa ausdrückte: „Dass wir jetzt das Büro von Tichanowskaja und andere organisierte Strukturen mit stabilen Kontakten zu den politischen Eliten westlicher Länder haben, ist tatsächlich ein großer Vorteil für uns. Denn das verleiht Belarus abseits von Lukaschenko politische Subjekthaftigkeit. Und wenn die Zeit der Entscheidung über die Zukunft der gesamten Region kommt, kann das einen großen Unterschied machen.“

Am 14. Dezember 2021 war Tichanowskajas Ehemann Sergej Tichanowski zu 18 Jahren Haft verurteilt worden. Sie habe keine Hoffnungen gehegt, dass er vor einem Machtwechsel in Belarus freikommen würde, kommentierte sie das Urteil am Rande einer Sitzung mit Parlamentsabgeordneten, zu der sie an diesem Tag in Schweden war4. Für sie selbst ist eine Rückkehr in ihr Heimatland unter diesen Bedingungen unwahrscheinlich. Aktuell laufen offiziell mindestens sechs Strafverfahren gegen sie (unter anderem wegen „Gründung einer extremistischen Vereinigung“, „Aufruf zum Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung“, „Vorbereitung von Massenunruhen“ und „Vorbereitung eines terroristischen Akts“). Am 6. März 2023 wurde sie in Abwesenheit von einem Minsker Gericht zu 15 Jahren Straflager verurteilt. 


1.Die Aktivisten haben die Wahllokale zugrunde gelegt, in denen Swetlana Tichanowskaja offiziell gewonnen hatte. Demnach erreichte sie in knapp 200 der Wahllokale eine Stimmenmehrheit von rund 57 Prozent, während ihr laut dieser offiziellen Zahlen zugleich in fast 4500 Wahllokalen angeblich nur 3 Prozent der Stimmen zugekommen sein sollen. Diesereklatante Widerspruch deutet auf massive Wahlfälschung hin, vgl. Itogowy ottschet o wyborach Presidenta Respubliki Belarus (Po dannym platform «Golos», «Subr» i soobschtschestwa «Tschestnyje ljudi»)
2.vgl.: currenttime.tv: Tichanovskaja zapisala dva videoobraščenija. V odnom ona govorit o detjach, vo vtorom prosit ne vychodit' na ulicy 
3.vgl.: mediazona.by: Belarus' posle vyborov. Den' tretij  
4.Die Autorin nahm an dieser Sitzung als Vertreterin der belarussischen Diaspora aus Schweden teil. 
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Alexander Lukaschenko

Vor 30 Jahren trat Alexander Lukaschenko nach gewonnener Wahl sein Amt als Präsident der Republik Belarus an. Er schaffte demokratische Freiheiten ab und errichtete ein autokratisches System. Waleri Karbalewitsch über Lukaschenkos Machtwillen und Gründe für die Beständigkeit der Diktatur.  

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