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FAQ #3: Neutrale Ukraine – ein Ausweg aus dem Krieg?

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Inmitten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gab es bereits mehrere Verhandlungsrunden. Viel Hoffnung auf eine schnelle diplomatische Lösung besteht nicht. Und doch fällt immer wieder ein Stichwort: ein „neutraler“ Status für die Ukraine und die Verankerung eines solchen Status in der ukrainischen Verfassung. Aber was heißt das überhaupt? Geht das? Und: Könnte der Krieg dadurch wirklich (so einfach) beendet werden?

FAQ #2: Wie kann man diesen Krieg beenden?

FAQ #1: Wie hat Wladimir Putin den Krieg begonnen, und wie rechtfertigt er ihn?

Источник dekoder

Bild © AI für dekoder

1. Neutrale Ukraine – ist doch DIE Lösung, oder?

2. Was genau liegt überhaupt auf dem Verhandlungstisch?

3. War die Ukraine bislang nicht sowieso neutral? (Spoiler: Jein)

4. Was soll das überhaupt sein – ein „neutrales“ Land – wenn man es auf dem Reißbrett entwirft?

5. Was ist mit der Idee einer „Finnlandisierung“?

6. Schweden oder Österreich – sind das die passenderen Modelle?

 


1. Neutrale Ukraine – ist doch DIE Lösung, oder?

Die Idee klingt tatsächlich nach einer einfachen Lösung: Die russische Führung würde mit einem neutralen Puffer-Staat („cordon sanitaire“) bekommen, was sie verlangt, und der Krieg könnte schnell enden. 

So einfach ist es aber nicht und zwar aus drei zentralen Gründen:

Erstens: Die Ukraine ist kein Objekt von Verhandlungen, sondern ein souveräner Staat. Entscheidend ist also, was die ukrainische Regierung und die Menschen im Land als mögliche Lösung für den Krieg sehen ↓. Präsident Wolodymyr Selensky hat betont, dass Sicherheitsgarantien zum Schutz seines Landes zunächst am wichtigsten sind.

Zweitens: Egal, ob es am Ende um einen „neutralen“ Status geht oder um einen anderen Kompromiss – Sicherheitsgarantien sind dabei das Kernproblem, wie bisherige Forderungen der Ukraine ↓ zeigen. Alles dreht sich in dem, was dazu bislang bekannt ist, um die Frage, wer einer möglichen „neutralen“ Ukraine im Fall eines Angriffs militärisch beistehen würde, ohne Wenn und Aber. Andernfalls sähe sich die Ukraine als Nicht-NATO-Mitglied schutzlos einem Angreifer ausgeliefert. Entscheidend sind also Garanten, sprich: (Schutz-)Staaten (USA, Großbritannien etc.) oder internationale Organisationen, die rechtsverbindlich verpflichtet wären einzugreifen, notfalls militärisch. Allen voran müsste sich auch Russland darauf erst einmal einlassen. Und die Ukraine muss sich sicher sein können, dass die Garantien das Papier, auf dem sie stehen, auch wert sind.

Drittens: Die jüngere Geschichte der Ukraine mahnt zur größten Vorsicht, weil Russland mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 bereits ein Schutzabkommen gebrochen hat, nämlich das Budapester Memorandum von 1994. Über das Abkommen war der Ukraine territoriale Integrität, Souveränität und Schutz zugesichert worden – von Russland selbst, außerdem von den USA und Großbritannien. Im Gegenzug hat die Ukraine damals die auf ihrem Gebiet aus Sowjetzeiten „geerbten“ Atomwaffen abgegeben (aber keine „Neutralität“ versprochen ↓). Die Annexion hat gezeigt, dass das Budapester Memorandum keinen effektiven Schutz bot. Der Angriffskrieg seit dem 24. Februar 2022 unterstreicht das nur ein weiteres Mal. 

Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, ob sich die russische Seite mit einer „Neutralität“ allein wirklich zufrieden geben würde. In den TV-Ansprachen vor der Invasion hat Russlands Präsident Wladimir Putin die Existenz der Ukraine als Staat wiederholt und mit Nachdruck generell infrage gestellt.

Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)

Stefan Wolff
Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham

2. Was genau liegt überhaupt auf dem Verhandlungstisch?

Momentan fungiert das Stichwort „Neutralität“ vor allem als eine Art Türöffner für die ersten Verhandlungsrunden zwischen Russland und der Ukraine – wobei unklar ist, ob das irgendwo hinführen kann. 
Die zentralen Punkte, sowohl auf der russischen, als auch auf der ukrainischen Seite, zeigen, wie weit die Vorstellungen dabei auseinander liegen.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat drei zentrale Maximalforderungen genannt.
Erstens: Neutralität der Ukraine, verbunden mit einer Entmilitarisierung
Zweitens: Anerkennung der Krim als Teil Russlands 
Drittens: Anerkennung der Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken im Donbass 

Das Ziel eines Regimewechsels in Kiew, der im russischen Propaganda-Narrativ „Entnazifizierung“ impliziert war, ist im Zuge der eigentlichen Verhandlungen kaum noch betont worden. Damit wird nun der ursprünglich angestrebte Regimewechsel in Kiew nicht explizit angesprochen und der Weg für direkte Gespräche zwischen Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky offen gehalten. 

Selensky hat auf die russischen Verlautbarungen bisher deutlich ablehnend reagiert, insbesondere auf die Forderungen zwei und drei, die die territoriale Integrität der Ukraine infrage stellen. 

Auch eine mögliche Neutralität legt Selensky anders aus.
Erstens: Er verwendet eine enge Definition von Neutralität und meint damit den Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft, die mit noch zu definierenden Sicherheitsgarantien durch eine größere Anzahl von Garantstaaten (darunter die USA, Großbritannien, Frankreich, Russland, oder auch die Türkei, Polen, Israel) abgesichert werden soll. Diese Sicherheitsgarantien und die Frage, wie sie durchgesetzt werden können, sind der eigentliche Knackpunkt ↑.
Zweitens: Eine Entmilitarisierung wird von der Ukraine abgelehnt 
Drittens: Es besteht Selbstbestimmungsrecht in der politischen und wirtschaftlichen Westorientierung der Ukraine (EU-Integration) 

Die mehrheitliche gesellschaftliche Zustimmung in der Ukraine für die NATO-Mitgliedschaft ist seit 2019 gestiegen1 und bleibt auch jetzt im Krieg hoch. Daher ist unklar, ob ein möglicher Kompromiss seitens Selenskys überhaupt auf die nötige gesellschaftliche Akzeptanz stoßen würde. Der ukrainische Präsident hat ein Referendum über ein Abkommen angekündigt. Territoriale Fragen der Ukraine würden dabei voraussichtlich noch kontroverser in der Bevölkerung aufgenommen als ein Verzicht auf einen NATO-Beitritt. 

Gwendolyn Sasse
Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)

3. War die Ukraine bislang nicht sowieso neutral? (Spoiler: Jein)

Die Kurzversion: Ja, die Ukraine gehört weder der NATO noch der EU an. Für die Ukraine gab und gibt es mittelfristig auch keine Perspektive, in die NATO aufgenommen zu werden. Was die EU angeht, hat sich dagegen seit dem Assoziierungsabkommen von 2014 eine potentielle Beitrittsperspektive eröffnet, wobei der Weg zum offiziellen Status als Beitrittskandidat noch weit ist.

Die Beantwortung dieser Frage ist jedoch etwas komplizierter und hilft zu verstehen, dass es zu einfach ist, eine Art „neutrale“ Ukraine als schnelle Lösung für den derzeitigen Krieg anzusehen. Also von vorn: Die Ukraine war und ist bündnisfrei, besaß jedoch nie einen offiziell „neutralen“ Status (wie etwa Finnland). Zugleich hatte die Ukraine seit 1994 mit dem Budapester Memorandum ↑ einen gewissen Schutzstatus genossen.
Die Außen- und Sicherheitspolitik war seither davon geprägt, sowohl in Richtung EU und NATO also auch in Richtung Russland zu blicken – je nachdem, ob der prorussische Viktor Janukowitsch oder prowestliche Kräfte wie Viktor Juschtschenko in Regierungsämtern waren. Unter Juschtschenko erhielt die Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 eine grundsätzliche Beitrittsperspektive (neben Georgien). Hintergrund waren Ängste um die territoriale Integrität mit Russland als direktem Nachbarn und seinem Flottenstützpunkt auf der Krim, während ein Konflikt um die Lieferung russischen Gases schwelte. 
Der Fünf-Tage-Krieg zwischen Russland und Georgien nur kurze Zeit später bestätigte solche Ängste. Damit wurde jedoch die NATO zögerlich. Wegen Bedenken, Länder aufzunehmen, die eine mögliche Konfrontation mit Russland als Bündnisfall mit sich bringen könnten, rückte eine Mitgliedschaft auch für die Ukraine schlagartig in die Ferne. 
Mit Janukowitsch zurück im höchsten Staatsamt, ab 2011, erklärte sich die Ukraine sogar per Gesetz zu einem Staat ohne militärisches Bündnis. Als Janukowitsch auf Druck aus Moskau EU-Annäherungen stoppte, löste das im Winter 2013/14 die Maidan-Revolution gegen ihn aus. In der Folge annektierte Russland die Krim. Nur wenige Wochen später wurde der politische Kurs, in die NATO und die EU zu streben, von der neuen ukrainischen Regierung umso hartnäckiger wieder aufgenommen. Mit zunehmender Bedrohung wurden Allianzen verstärkt gesucht.

Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)

Stefan Wolff
Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham

4. Was soll das überhaupt sein – ein „neutrales“ Land – wenn man es auf dem Reißbrett entwirft?

Neutral kann ein Land in zwei Hinsichten sein: 
Zum einen, wenn ein Land sich nicht in geopolitische Rivalitäten von Großmächten einmischt – was in der Praxis einer Nicht-Paktgebundenheit entspricht. Oder zum anderen auch dann, wenn ein Land grundsätzlich im Kriegsfall seine Neutralität wahrt (abgesichert über einen entsprechenden „völkerrechtlichen Status“).
Neutralität bedeutet damit nicht zwangsläufig eine Entmilitarisierung: Es gibt auch eine sogenannte bewaffnete Neutralität. Sie räumt neutralen Staaten zumeist das Recht ein, eigene Streitkräfte zur Landesverteidigung zu unterhalten. Was dann sogar umso wichtiger ist, um sich gegen Angriffe selbst wehren zu können.
Traditionell war ein neutraler Status in zurückliegenden Jahrhunderten vor allem zum Schutz kleiner Staaten gedacht, insbesondere in Kriegszeiten. Daraus erklärt sich auch, dass in Bezug auf die Ukraine beim Stichwort „Entmilitarisierung“ und/oder „Neutralität“ viele, zum Teil sehr verschiedene Schlagworte wie „Finnlandisierung“ ↓ fallen, beziehungsweise von einem schwedischen oder von einem österreichischen Weg ↓ die Rede ist.

Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)

Stefan Wolff
Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham

5. Was ist mit der Idee einer „Finnlandisierung“ der Ukraine?

Der Begriff „Finnlandisierung“ bezieht sich auf den neutralen Status Finnlands, den das Land seit den 1940er Jahren inne hat. Der wurde zwar zu Sowjetzeiten anders mit Leben gefüllt als das seit Ende des Kalten Krieges geschieht. Entscheidend aber ist, dass er weder damals noch heute ein passendes Modell für die Ukraine liefert. 

Um das vor Augen zu führen, zunächst kurz zu den völkerrechtlich relevanten Prinzipien, auf denen das finnische Modell fußt: Es gibt eine gegenseitige Nichtangriffs-Garantie, eine gegenseitig zugesicherte Bündnisfreiheit und Begrenzungen der finnischen Streitkräfte, die in ihrer Größe und Ausrüstung lediglich Aufgaben der inneren Sicherheit und der Landesverteidigung entsprechen dürfen. Zugleich werden die Souveränität und territoriale Integrität Finnlands bekräftigt. Vertragspartner war einst die Sowjetunion, heute ist es der Rechtsnachfolger Russland.
Insofern bestehen die ursprünglich zu Sowjetzeiten geschlossenen Verträge fort. Doch die finnische Regierung hat sich Anfang der 1990er Jahre entschieden, das Land innerhalb des neutralen Status anders aufzustellen: So ist Finnland zwar nicht Mitglied der NATO, wohl aber Teil aller Partnerschaftsprogramme der NATO2 geworden und seit 1995 auch vollwertiges EU-Mitglied

Das Kernproblem bei der Idee einer neutralen Ukraine nach finnischem Vorbild: Die gegenwärtig bekannten russischen Forderungen gehen weit darüber hinaus. Russlands Vorstellung nach dürfte es keinerlei Armee geben, auch keinerlei Assoziierung mit Militärbündnissen wie der NATO. Damit wäre die Ukraine wehrlos. Russland würde sich de facto Einfluss auf den Nachbarn sichern, so wie es der Sowjetunion in Finnland bis zum Ende des Kalten Krieges schon gelang3 – weil die Bedrohung durch eine Atommacht ohne andere Schutzalternativen zu groß war.

Zudem bieten die (völkerrechtlichen) Grundlagen zur finnischen Neutralität so oder so nicht die notwendigen Sicherheitsgarantien ↑, die die Ukraine mit Blick auf die Erfahrungen aus Krim-Annexion und laufendem Angriffskrieg erwarten würde. Ob eine Aggression Russlands damit eingehegt werden kann, ist daher fraglich

Cindy Wittke
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)

Stefan Wolff
Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham

6. Schweden oder Österreich – sind vielleicht das die passenderen Modelle?

Die Modelle von Schweden und Österreich sind ebenfalls in die Diskussion eingebracht worden. Beide sind aber noch weniger als eine „Finnlandisierung“ ↑ dazu geeignet, um auf die Ukraine angewendet zu werden, weil keine vertraglich verbindlich festgehaltenen Sicherheitsgarantien existieren – die aber bräuchte es jetzt ↑.

Schwedens Neutralität war freiwillig, also ohne jegliche Vertragsbindung und geht in die Zeit der napoleonischen Kriege im frühen 19. Jahrhundert zurück. Daher war die Umsetzung auch relativ uneben und besonders im Zweiten Weltkrieg hat Schweden seine neutrale Position nicht gehalten: Die Regierung hat Nazideutschland sowohl wirtschaftlich unterstützt als auch den Transit deutscher Truppen an die Ostfront ermöglicht. Nach 1945 war Schweden zwar weiterhin formell neutral, hat sich aber immer stärker auch militärisch an den Westen angelehnt und ist analog zu Finnland seit 1995 EU-Mitglied, wenngleich in militärischer Hinsicht weiter bündnisfrei. 

Österreich ist ein weiterer Fall, der in der Diskussion um eine neutrale Ukraine eine Rolle spielt. Im Fokus stehen vor allem die zwischen Österreich und der damaligen Sowjetunion geschlossenen Abmachungen aus den frühen 1950er Jahren, mit denen Österreich seine Souveränität wiedererlangte. Die Neutralität des Landes ist in der Verfassung und in einem separaten Verfassungsgesetz verankert worden. Es gibt hier, wie im Falle von Schweden, keine Sicherheitsgarantien. 
Außerdem hat Österreich sich über die Jahrzehnte strikt vorbehalten, selbst zu entscheiden, was mit seiner Neutralität vereinbar ist. Das hat unter anderem dazu geführt, dass es 1995 zu einer Novellierung des Verfassungsgesetzes zur Neutralität kam, so dass der Weg in die Europäische Union geebnet werden konnte – einschließlich einer Beteiligung an der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union. 

Angesichts der russischen Forderungen ist es schon erstaunlich, dass diese Staaten überhaupt als Modelle einer vermeintlich einfachen Lösung herangezogen werden: Denn für sie sind eine EU-Mitgliedschaft und Kooperationen mit der NATO über die vergangenen Jahrzehnte zu einem wesentlichen Teil ihrer Außen- und Verteidigungspolitik geworden. Das zeigt sich auch im russischen Angriffskrieg selbst: Sowohl Finnland als auch Schweden haben Waffen an die Ukraine geliefert; Österreich hat der NATO erlaubt, seinen Luftraum für Überflüge zu nutzen.  

Gwendolyn Sasse
Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)

Stefan Wolff
Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham


Russland führt Krieg gegen die Ukraine. dekoder stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern geht es in diesem FAQ darum, fakten- und wissenschaftsbasiert zu erklären und einzuordnen, was man zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wissen muss.

Stellen Sie uns gern auch Ihre Fragen – per Email unter dekoder-lab@dekoder.org. Wir werden versuchen, mit Expertinnen und Experten aus europäischen Universitäten Antworten darauf zu finden.

Diese Reihe entsteht in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und wird von der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S. unterstützt.

Veröffentlicht am 1. April 2022


1.Das zeigen Vergleichsdaten in den Umfragen des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS): Lagen Zustimmungswerte für einen NATO-Beitritt im Jahr 2014 noch bei 40 bis 45 Prozent, lagen diese im Dezember 2021 bei knapp 60 Prozent, vgl. Umfrage des KIIS aus 12/2021, vgl. Umfrage des KIIS aus 08/2019
2.In Finnland ist seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine auch erstmals die Idee einer NATO-Vollmitgliedschaft kein Tabu mehr, vgl. Deutschlandfunk: Der lange Abschied von der Neutralität. Trotzdem kann Finnland eine Vollmitgliedschaft in der NATO nicht so einfach anstreben, wie es manchmal in der öffentlichen Debatte den Anschein hat. Zwar kann Finnland in Fünfjahresabständen den Freundschaftsvertrag mit Russland als Rechtsnachfolger der UdSSR kündigen. Doch das Neutralitätsgebot (keinem Militärbündnis beizutreten) aus den Friedensverträgen von 1940, 1947 und dem Waffenstillstandsabkommen von 1944 verschwindet damit nicht. 
3.In Finnland herrschte zur Zeit des Kalten Krieges eine außenpolitische Linie, die sich den Interessen der Sowjetunion unterordnete. Auch innenpolitisch wurde Kritik am großen Nachbarn nicht geübt, was massive Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit, auf Kunst und Kultur hatte. In dieser Hinsicht gibt es auch Stimmen aus Finnland, die vor dem Pfad einer „Finnlandisierung“ als Modell für die Ukraine warnen, vgl. Deutschlandfunk: Interview mit Kai Sauer, Staatssekretär finnisches Außenministerium, zu: Ukraine (Ende März 2022). 
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Krim

Es war kein Zufall, dass die russische Präsidentschaftswahl 2018 am 18. März stattfand. Dieses Datum verbindet sich mit dem Schlüsselereignis der dritten Amtsperiode von Wladimir Putin: der Annexion der Krim. An diesem Tag formalisierte Putin den Anschluss der Krim an die Russische Föderation, der die Besetzung der Halbinsel durch russische Sondertruppen und ein sogenanntes Referendum unter russischer Kontrolle vorangegangen waren. Auf der Krim setzte Putin einen im Detail vorbereiteten Plan um, für den sich im Kontext des ukrainischen Euromaidan – Massendemonstrationen, die zu einem Machtwechsel in Kiew führten und die Westorientierung der Ukraine bestärkten – die Gelegenheit ergab. 

Die militärische Aktion und Russlands Verletzung des Völkerrechts, das von der Souveränität und territorialen Integrität eines Staates ausgeht, überraschten nicht nur die westliche Politik, sondern auch die Bevölkerung der Krim und Russlands. Die USA und die EU reagierten mit Sanktionen. Dieses Sanktionsregime ist im Zuge des Krieges in der Ostukraine noch verstärkt worden. 

Dieser Krieg, in dem Russland lokale Separatisten im Donbass unterstützt, hat die Krimthematik zunehmend überschattet. Auch wenn die offizielle Politik westlicher Staaten weiterhin auf der Nichtanerkennung der Annexion der Krim beruht, so geht dies einher mit der Einschätzung, dass sich am derzeitigen Status quo in nächster Zeit wenig ändern wird. Diese Haltung lässt das Thema somit nicht zur Priorität werden. 

Dieser politische Kontext ist ein wichtiger Teil der Erklärung dafür, warum im Rückblick die Konturen der Ereignisse von 2014 verschwimmen und auch in der deutschen Berichterstattung und Öffentlichkeit bedenkliche Schlussfolgerungen möglich sind. Die Krim-Annexion war, anders als mitunter behauptet, nicht das Resultat einer Mobilisierung der Krim-Bevölkerung für einen Anschluss an Russland, und die Krim war auch nicht „schon immer Teil Russlands“, was der Annexion den Anschein einer historischen Berechtigung verleiht.

Zugehörigkeit der Krim

In der ersten Hälfte der 1990er Jahre gab es auf der Krim politische Gruppierungen, die für die Unabhängigkeit der Krim beziehungsweise einen Anschluss an Russland eine Mehrheit der regionalen Bevölkerung mobilisieren konnten. Diese Bewegung scheiterte an inneren Spaltungen und an ihrer Unfähigkeit, auf die realen sozioökonomischen Probleme der Region einzugehen. Dazu kam noch die bewusste Entscheidung des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin, die Zugehörigkeit der Krim zum postsowjetischen ukrainischen Staat nicht in Frage zu stellen – das Interesse an einem guten Verhältnis zum Westen war wesentlich höher.1 Die regionale Mobilisierung auf der Krim mündete letztendlich in einen schwachen, durch seine sichtbare Institutionalisierung in der ukrainischen Verfassung jedoch symbolisch bedeutsamen Autonomiestatus der Krim. 

Auch wenn russische Politiker wie zum Beispiel der ehemaliger Moskauer Bürgermeister Juri Lushkow, seitdem mitunter versuchten, mit Blick auf ihre Wählerschaft in Russland die Krimthematik politisch zu instrumentalisieren, gab es bis 2014 keine breitere Mobilisierung auf der Krim. Die wirtschaftliche Entwicklung der Region stagnierte, der kleine, durch die Krimverfassung definierte Spielraum der Autonomie blieb ungenutzt. Die Integration der seit dem Ende der Sowjetunion zurückgekehrten Krimtataren, die von Stalin nach Zentralasien und Sibirien deportiert worden waren, wurde nicht zur Priorität Kiews, aber am politischen Wahlverhalten gemessen, war die Region fest in den Südosten der Ukraine integriert.

Chruschtschows Geschenk

Die inzwischen weit verbreitete, zu wenig hinterfragte These des historischen Anspruchs Russlands auf die Krim ist das Resultat einer höchst selektiven Interpretation der Geschichte. Das russische Narrativ der „russischen Krim“ leitet sich ab aus der Zeit von 1783, der Eroberung der Krim durch Zarin Katharina der Großen, bis 1954, dem vermeintlichen Geschenk Chruschtschows an die ukrainische Sowjetrepublik. Die Tatsache, dass die Krim vor 1783 jahrhundertelang unter krimtatarischer und osmanischer Herrschaft war, wird in der russischen Geschichtsschreibung ausgeblendet und ist im Westen einfach zu wenig bekannt. Darüber hinaus hält sich das stark simplifizierende Bild des Transfers der Krim als Chrutschtschows persönliches Geschenk an die Ukraine im Rahmen der 1954 gefeierten „brüderlichen“ russisch-ukrainischen Beziehungen (eine sowjetische Interpretation des Perejaslaw-Vertrags von 1654, in dem sich die Kosaken unter Hetman Bohdan Chmelnyzky durch einen Treueeid den Schutz des russischen Zaren Alexej I. sicherten). Archivdokumente zeigen, dass Chruschtschow zwar eine zentrale Rolle beim territorialen Transfer der Ukraine zukommt, dass er jedoch nicht in einer politisch derart gefestigten Position war, die eine alleinige Entscheidung erlaubt hätte, und dass wirtschaftliche Gründe eine wichtige Rolle bei der Entscheidung spielten. Der Symbolgehalt von 300 Jahren Perejaslav wurde hingegen erst im letzten Moment hinzu addiert.2

Narrativ der „russischen Krim“

Das russische Narrativ des Krimnasch („Die Krim gehört uns“), das Kontinuität auf die facettenreiche Geschichte der multiethnischen Krim projiziert, speist sich aus einer selektiven Geschichtsschreibung. Die Region spielt dabei vornehmlich eine Symbolfunktion, die bereits in der Zarenzeit geprägt, in der Sowjetunion umgewidmet und in der postsowjetischen Zeit wiederbelebt wurde. Die Grenzen zwischen Mythen und Fakten sind hierbei fließend. Die Krim ist die Region mit einem subtropischen Klima an der Südküste, die viele an die südeuropäischen Länder, vor allem an Italien und Griechenland erinnert, und in der die russische Zarenfamilie und Aristokratie (nicht nur aus Russland) Urlaub machte. Die Region ist fest in der russischen Literatur und Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verankert. Puschkin, Tolstoi und Tschechow gehören zu den prominentesten Autoren, die die Krim in ihren Gedichten und Erzählungen verewigten. Die Krim wurde schließlich zum sowjetischen Urlaubsparadies der Arbeiterklasse, Pioniere und Parteinomenklatura umdefiniert.

Um die Krim ranken sich zahlreiche, von verschiedenen Völkern geprägte Legenden und Mythen. Viele Küsten- und Bergformationen tragen bildhafte krimtatarische Namen. Diese haben die Zeit der krimtatarischen Deportation überlebt und sind (wie beispielsweise der Berg Ai-Petri, ein beliebtes Touristenziel in der Nähe von Jalta) bis heute ein fester Bestandteil der regionalen Identität.

Am Beispiel der Krim gelang sowohl dem zaristischen Russland als auch dem sowjetischen Regime die Umdeutung verlustreicher Schlachten – während des Krimkriegs Mitte des 19. Jahrhunderts und während des Zweiten Weltkriegs – in russische beziehungsweise russisch-sowjetische Heldentaten. Die Präsenz der Schwarzmeerflotte vor der Küste Sewastopols, die nach 1991 zum Streitpunkt zwischen Russland und der Ukraine wurde und nach langen Verhandlungen Ende der 1990er Jahre unter Verrechnung ukrainischer Schulden für Energielieferungen aus Russland aufgeteilt wurde, symbolisiert diesen Teil der Geschichte. 
Die Stadt Chersones in der Nähe von Sewastopol gilt als die Wiege der russisch-orthodoxen Zivilisation – seit 2014 ist die mutmaßliche Taufe von Großfürst Wladimir in Chersones Ende des 10. Jahrhunderts erneut zu einem wichtigen Bezugspunkt geworden.

Terra incognita 

Seit der Annexion der Krim durch Russland ist die Krim für westliche Beobachter und UkrainerInnen ohne familiären Bezug zur Krim weitgehend zur terra incognita geworden. Der ukrainische Staat erlaubt den Zugang zur Region nur in einem streng definierten gesetzlichen Rahmen, und die Einreise in die Region über Russland stellt einen Verstoß gegen ukrainisches Gesetz dar. Aus den Berichten derer, die die Krim seit 2014 verlassen haben – Schätzungen zufolge etwa 40.000 bis 60.000 Menschen, darunter mindestens zur Hälfte Krimtataren3 – und aus den Berichten krimtatarischer und Menschenrechtsorganisationen sowie einiger weniger westlicher JournalistInnen, lässt sich das Ausmaß der in erster Linie gegen die krimtatarische Bevölkerung gerichteten Repressionen ablesen. Außerdem ist ein Wandel von einer von Russland geschürten Hochstimmung 2014 in eine eher abwartende Haltung erkennbar. 

Einer repräsentativen Umfrage4 zufolge, die das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) von März bis Mai 2017 mit Hilfe eines internationalen Dienstleisters und ausgebildeten lokalen Interviewern durchführte, ist unter der Krim-Bevölkerung eine Orientierung nach innen festzustellen. Die Kontakte der Krim-Bevölkerung zum Rest der Ukraine sind fast vollständig unterbrochen. Eine schon immer stark ausgeprägte regionale Identität (krymchanin = „Krim-Bewohner“) wurde durch die Ereignisse von 2014 noch gestärkt. Die ZOiS-Umfrage zeigt in diesem Zusammenhang, dass nur sechs beziehungsweise ein Prozent der Befragten Russland beziehungsweise die Ukraine als ihr Zuhause begreifen.  Zugleich haben die Menschen auf der Krim ein sehr geringes Vertrauen in die lokalen und regionalen politischen Institutionen. Die Umfrage veranschaulicht darüber hinaus das Ausmaß sozialer und wirtschaftlicher Nöte der Bevölkerung. 

Nach der Präsidentschaftswahl am 18. März 2018 hat der Kreml die Wahlbeteiligung und die Zustimmung für Putin auf der Krim als eine Art zweites Referendum über die Zugehörigkeit der Krim zu Russland dargestellt. Damit schrieb er eine neue Seite in die mythenumwobene Geschichte der Halbinsel.


1.Sasse, Gwendolyn (2007): The Crimea Question: Identity, Transition, and Conflict, Cambridge
2.ebd.
3.Freedom House: Crimea
4.Sasse, Gwendolyn (2017): Terra Incognita: The Public Mood in Crimea, ZOiS Report 3/2017. Die Umfrage hatte zum Ziel, einen Einblick in die Stimmung und das Alltagsleben auf der Krim zu bekommen. Die derzeitige Lage auf der Krim entspricht nicht den soziologischen Idealbedingungen für eine Umfrage. Dennoch kann die Schlußfolgerung  nicht sein, lieber gar nicht zu versuchen, die Stimmen der betroffenen Menschen hörbar zu machen. Die Umfrage versteht sich als ein Beitrag dazu, die Situation auf der Krim im öffentlichen Diskurs präsenter zu machen.
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