Медиа

November: Arnold Veber

Wenn Moskaus junge Szene feiert, ist der Fotograf Arnold Veber mit der Kamera dabei. Er selbst sieht in den nächtlichen Exzessen eine Reaktion auf Leere und Perspektivlosigkeit der russischen Gesellschaft – aber unterscheiden sie sich wirklich so sehr von dem, was nachts auf den Straßen von Neukölln oder Shoreditch geschieht? Aus Vebers Serie „Wtschera ja wsjo“ (ungefähr: Gestern hab ich's mir gegeben) von 2015 stammt auch unser Titelbild für den November.

Источник dekoder

„Schon ungefähr sechs Jahre fotografiere ich die Szene jetzt, aber früher sind die Leute nicht in diesem Maße ausgetickt“, sagt der junge Fotograf Arnold Veber (geb. 1991), der sich trotz seines deutsch klingenden Namens keiner deutschen Vorfahren bewusst ist, in einem Interview. „Einerseits ist diesen Leuten eigentlich alles völlig egal, aber andererseits bemühen sie sich, up-to-date zu sein, modisch, und bei allen gibt es so eine, sagen wir, Verlorenheit.“ 

In manchem erinnern Vebers Fotos an die Arbeiten des russischen Großmeisters der Dokumentarfotografie Igor Mukhin, der auch sein Lehrer an der renommierten Rodtschenko-Schule für Fotografie und Multimedia in Moskau war. Mukhin wurde bereits in den 90ern durch seine Arbeit mit Rockmusikern zu einem Chronisten des Moskauer Nachtlebens. Was hat sich seitdem verändert? Bei einigen Aufnahmen Vebers fragt man sich für einen Augenblick, in welchem Jahrzehnt, ja in welchem Jahrtausend man sich überhaupt befindet. Feiert die Jugend nicht immer und überall irgendwie gleich? 

Zumindest in fotografischer Hinsicht springt dann aber der Generationenunterschied zwischen den beiden Künstlern deutlich ins Auge. Veber fotografiert viel unmittelbarer, viel dreckiger, in seinen Arbeiten lässt sich deutlich der Einfluss von Autoren wie Wolfgang Tillmans entdecken, die ihre Sujets nicht nur von außen untersuchen, sondern selbst Teil der von ihnen eingefangenen Kultur sind.

Veber hat zunächst viel mit Video gearbeitet und sich auf diesem Weg erst nach und nach an das stillstehende Bild herangetastet. Dieses ist bei ihm oft so großartig komponiert, dass die Banalität der Szenerie vollkommen hinter der Macht von Grafik und Erzählung zurücktritt. So scheinen bei ihm drei einander nackt umarmende Mädchen unter ihrer Bettdecke wie in einer Wolke zu schweben, der Arm eines Pelzmantels schiebt sich molluskenhaft ins Bild, um am anderen Bildrand eine Flasche aus einer Manteltasche zu ziehen, eine skurrille Tanzbewegung von Beinen in reflektierenden Leggings gibt dem Einschenken eines Tequilashots eine unfreiwillige Komik, und vor der Kulisse eines winterlichen Stalin-Hochhauses wirken beiläufig gehaltene Zigaretten wie in die Oberfläche des Fotos eingeschnittene Riefen - bildbestimmend. Alles ist dabei durchtränkt von heftigem Gefühl, von Träumerei, von Sexualität (soll man es hier Begehren nennen?), und auch von Rohheit und  – unterschwelliger – Brutalität. Zärtlichkeit jedenfalls begegnet einem auf diesem Bildern nur in Momenten der Erschöpfung  – oder, vielleicht, der Trance.

Nur selten kann man in dieser Unmittelbarkeit und dieser künstlerischen Qualität Blicke in ein Leben werfen, das für den Rest der Menschen weitgehend im Verborgenen stattfindet. Dies müssen auch die Kuratoren des alljährlichen Künstleraustauschs zwischen Moskau und Düsseldorf bemerkt haben, als sie Veber gemeinsam mit der Foto-Künstlerin Vivian del Rio für einen zweimonatigen Arbeitsaufenthalt an den Rhein einluden, wo im Atelier am Eck bis zum 25. Oktober dieses Jahres ihre Doppelausstellung gezeigt wurde. 

 

Fotos: Arnold Veber
Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, einführender Text: Martin Krohs
Veröffentlicht am 03.11.2015

Пожертвовать

читайте также

Гнозы
en

Die 1990er

Die 1990er Jahre waren in Russland ein Jahrzehnt des radikalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Demokratischer Aufbruch einerseits und wirtschaftlicher Niedergang andererseits prägten die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Politisch befand sich Russland zu Beginn der 1990er Jahre im Spannungsfeld zwischen demokratischen und reaktionären Kräften. Die Zerissenheit der politischen Eliten zeigte sich im August 1991 in einem Putschversuch kommunistischer Hardliner gegen Gorbatschow, der zwar nach drei Tagen scheiterte, die Sowjetunion aber weiter destabilisierte, sodass diese sich schließlich am 21. Dezember 1991 auflöste.

Ab 1992 trieben Präsident Boris Jelzin und Regierungschef Jegor Gaidar eine tiefgreifende Transformation zu parlamentarischer Demokratie und Marktwirtschaft voran. Der Widerstand mehrerer Parteien gegen die liberale Wirtschaftspolitik gipfelte 1993 in einem Machtkampf zwischen Präsident und Parlament, den Jelzin mithilfe der Armee für sich entschied. Die bis heute gültige Verfassung von 1993, die die politische Vormachtstellung des Präsidenten festigte, ist eine Konsequenz der damaligen Verfassungskrise.

Durch die Machtkämpfe und die politische Öffnung verlor der Zentralstaat an Kontrolle über die Regionen. Unabhängigkeitsbestrebungen einiger ethnischer Republiken beantwortete der Staat teils mit Autonomiezugeständnissen, teils mit Gewalt (1. Tschetschenienkrieg 1994 – 1996).

Außenpolitisch verlor Russland mit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Pakts an Einfluss. In den folgenden Jahren näherte man sich dem einstigen Feind, der NATO, an: Die im Jahr 1997 unterzeichnete Nato-Russland-Grundakte sollte die Kooperation in der internationalen Sicherheitspolitik fördern.

Ein weiterer radikaler Umbruch war der Wandel von der sozialistischen Planwirtschaft hin zur kapitalistischen Marktwirtschaft. Eine Riege radikaler Jungreformer unter Wirtschaftsminister Jegor Gaidar war für die Systemtransformation verantwortlich. Mit einer Preisliberalisierung und Privatisierungen der Staatsbetriebe verpassten sie dem Land eine „Schocktherapie“. Von 1992 bis 1994 wurden im Rahmen der sogenannten Voucher-Privatisierung Gutscheine an die Bevölkerung ausgegeben, die diese zu Aktienanteilen ihrer Betriebe umwandeln konnten. Viele verkauften ihre Voucher jedoch an die Betriebsleitungen, sodass letzlich nicht wie gedacht die Bevölkerung profitierte, sondern die Manager der ehemaligen Staatsbetriebe.

Als der Staat 1995/96 kurz vor dem Bankrott stand, wurden auch die letzten großen Staatsbetriebe privatisiert, um frisches Geld in die Staatskassen zu spülen. Allerdings wurden die Auktionen des Aktien-für-Kredite genannten Programms mehrheitlich von den aus dem Bankensektor aufstrebenden Oligarchen manipuliert, die die Betriebe weit unter Wert erwarben. Für diese illegalen Pivatisierungen bürgerte sich der negativ konnotierte Begriff Prichwatisazija ein, eine Zusammensetzung aus dem Wort für Privatisierung und dem Wort prichwatit (wörtl. abstauben).

Durch den Niedergang der ineffektiven sowjetischen Schwerindustrie und die sinkenden Ölpreise ging die Wirtschaftsleistung trotz des Aufblühens des Klein(st)unternehmertums drastisch zurück; zwischen 1990 und 1996 sank das russische BIP um mehr als 50 %. Die marode Wirtschaft und die Hyperinflation (1992: 1526 %, 1993: 875 %) stürzten große Teile der Bevölkerung in Armut. 1998 führte die Wirtschaftskrise in den asiatischen „Tigerstaaten“ zu Erschütterungen auf den Finanzmärkten, die auf Russland übergrifffen und den wirtschaftlichen Niedergang beschleunigten, was zur Zahlungsunfähigkeit Russlands führte (Default). Erst mit dem Anstieg der Ölpreise zum Ende des Jahrzehnts sollte sich die rohstoffabhängige russische Wirtschaft wieder stabilisieren.

Die enormen gesellschaftlichen Spannungen führten dazu, dass die Epoche auch als die „wilden 90er“ bezeichnet wurde, und zwar im guten wie im schlechten Sinne: Einerseits boten sich gewaltige Chancen für Neuanfänge; andererseits führten Deregulierung und Kriminalität (Stichwort: russische Mafia) zu Gefühlen ständiger Unsicherheit und Bedrohung bei weiten Teilen der Bevölkerung. Die spezifische Befindlichkeit des Jahrzehnts hat sich in zahlreichen literarischen Werken, so in Pelewins Generation P oder Swetlana Alexijewitschs Secondhand-Zeit, aber auch filmischen Werken, wie in Alexej Balabanows Der Bruder, verewigt.

Пожертвовать
читайте также
Gnose

Higher School of Economics

Die Higher School of Economics zählt zu den wichtigsten russischen Hochschulen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die Reformuniversität wurde Anfang der 1990er gegründet, um Wirtschaftsexperten für den Aufbau der Marktwirtschaft auszubilden. Heute zählt die Hochschule zu den führenden Forschungsuniversitäten in Russland und nimmt auch politisch eine wichtige Rolle ein.

Gnose

Jewgeni Jasin

Jewgeni Jasin (1934–2023) war ein liberaler russischer Ökonom, der zunächst als Berater von Boris Jelzin und von 1994 bis 1997 dann als Wirtschaftsminister die Wirtschaftsreformen der Jelzinzeit entscheidend mitprägte. Auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik war er weiterhin gesellschaftspolitisch aktiv: Jasin war Forschungsdirektor der Higher School of Economics, leitete die Stiftung Liberale Mission und war Kolumnist beim unabhängigen Radiosender Echo Moskwy. Als Vertreter der wirtschaftsliberalen Elite kritisierte er die zunehmende Autokratisierung in Putins Regime und forderte mehr Rechtsstaatlichkeit ein.

Gnose

Zentralbank

Die Russische Zentralbank ist die Hüterin der Währungsstabilität. War die vorrangige Aufgabe der Zentralbank in den 1990ern, die Inflation des Rubels zu begrenzen,so konnte sie im letzten Jahrzehnt dank steigender Rohstoffexporte große Währungsreserven anhäufen. Ende 2014 musste die Zentralbank einen Teil der Reserven jedoch verkaufen, um den drastischen Kursverfall des Rubels zu verhindern.

Gnose

Andrej Swjaginzew

Er war ein Laie, dessen erster Film 2003 mit dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig ausgezeichnet wurde. Heute zählt er zu den wichtigsten Regisseuren Russlands. Sein Werk Neljubow (Loveless) war für den Oscar nominiert. Eva Binder über den ungewöhnlichen Filmemacher Andrej Swjaginzew.

Gnose

Sergej Gandlewski

Sergej Gandlewski (geb. 1952) ist ein bekannter russischer Schriftsteller, Dichter und Übersetzer.

Seit seiner Jugend schreibt er Gedichte, die allerdings bis zum Ende der 1980er Jahre nur im Ausland erscheinen konnten. Er war während der Sowjetzeit gemeinsam mit anderen Schriftstellern wie Lew Rubinschtein in sowjetischen literarischen Untergrundzirkeln aktiv und veröffentlichte in dieser Zeit im Samisdat. Für seine in mehrere Sprachen übersetzten Werke hat Gandlewski verschiedene Literaturpreise erhalten, darunter 2010 die wichtigste russische Auszeichnung für Dichter, den „Poet“.

Im September 2014 unterzeichnete Gandlewski zusammen mit 6.000 weiteren Intellektuellen eine Erklärung gegen die russische Aggression in der Ukraine.

Gnose

Die Entwicklung des russischen Parteiensystems

Die russische Parteienlandschaft wird seit Mitte der 2000er von der Regierungspartei Einiges Russland dominiert. Dabei wurde durch restriktive Gesetze das Angebot an Parteien dezimiert, die übrigen verloren an Bedeutung. Diese autoritäre Umstrukturierung wurde allerdings dadurch erleichtert, dass die politischen Institutionen die Entwicklung starker Parteien seit den 1990ern gehemmt hatten und Parteien kaum in der Gesellschaft verankert waren.

показать еще
Motherland, © Таццяна Ткачова (All rights reserved)