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Winter is coming – Fest des Sommers

Die Republik Sacha gilt als kälteste Region Russlands. Das Klima ist gekennzeichnet von kalten, langen Wintern und einem kurzen, heißen Sommer. Der wichtigste Feiertag ist das Fest des Sommers, Ysyach – das tradtionelle Neujahrsfest der Jakuten. Im vergangenen Jahr sind Jekaterina Karpuchina (Text) und Alexej Wassiljew (Fotos) für Zapovednik hingefahren und haben mitgefeiert.

Quelle dekoder

Im Busbahnhof Jakutsk kämpfen ältere Herrschaften mit kleinen Kindern in Nationaltracht um ein Busticket. „Was ist denn hier los? Das darf doch nicht wahr sein, soll das Fest etwa ohne mich stattfinden?“ Eine ältere Dame in einem schönen weißen Kleid ist richtig sauer. „Ich war schließlich auf praktisch jedem Ysyach Oloncho bislang. Was soll das?!“

Das jakutische Ysyach ist der Tag des Sommeranfangs, die Einwohner nennen ihn auch einfach Neujahr. Für sie ist er der wichtigste nationale Feiertag. 

Jedes Dorf, jedes Nasleg (territoriales Teilstück innerhalb der jakutischen Kommunen – Red. Zapovednik), jedes Ulus (Rajon) und jede Stadt feiern das Fest an einem anderen Tag. Also kann man im Sommer gleich auf mehreren Ysyach tanzen. Das wichtigste Ysyach in ganz Jakutien ist jedoch das republikübergreifende Ysyach Oloncho. Es findet jedes Jahr in einem anderen Ulus statt, das von den regionalen Behörden vorab bestimmt wird. 2019 wurde dem Namski Ulus die große Ehre zuteil. Weil es ganz in der Nähe der Stadt Jakutsk ist, wollten sehr viele dorthin, und es gab nicht genügend Transportmöglichkeiten für alle.

„Uns Einwohnern haben sie gleich ganz verboten, mit dem Auto hinzufahren“, erzählt ein Mann. „Sie haben gesagt: Geht zu Fuß, um den Gästen nicht den Weg zu versperren, oder bleibt zu Hause. Keiner will hier Scherereien, ist schließlich ein Festtag.“ 

Das Eingangstor – die holzverkleidete Stahlkonstruktionen ist mit jakutischen Schnitzereien verziert / Foto © Alexej WassiljewDas erste, was die Besucher auf dem Ysyach sehen, ist das Eingangstor Kiirija. Dahinter sind eine Reihe von Serge aufgebaut (Serge ist jakutisch für einen Pflock, an dem ein Pferd angebunden wird). Vom Tor aus führt eine lange Allee bis zur Hauptbühne, wo auch die Eröffnungszeremonie abgehalten wird. Seit dem frühen Morgen begrüßen Frauen in Nationaltracht die Besucher mit Oladji, kleinen Pfannkuchen, als Symbol der Gastfreundschaft. Klar, sie reichen nicht für alle und bis zum Mittagessen ist alles weg – bis auf die rituellen Säulen.

Früher wurden an den rituellen Säulen die Pferde angebunden, heute lassen die Besucher ihre Autos auf dem Parkplatz stehen / Foto © Alexej WassiljewEs gibt kein Ysyach Oloncho ohne den heiligen Baum Aal Luuk Mas. In der jakutischen Mythologie existieren drei Welten: Eine Unterwelt, in der die bösen Geister leben, eine Oberwelt, in der die höchsten Gottheiten leben, und eine Mittelwelt, in der die Menschen leben. Aal Luuk Mas symbolisiert die Verbindung dieser drei Welten. In der jakutischen Mythologie leben in den Zweigen des Baums die guten Geister, die Ajyy, und in seinen Wurzeln verstecken sich die bösen Geister, die Abassy.

Die Ulus konkurrieren sogar untereinander, wer den besten Aal Luuk Mas hat: höher, schöner, teurer. Im Durchschnitt geben die Rajons jedes Jahr 14 Millionen Rubel [rund 177.300 Euro – dek] aus – für einen einzigen Baum. Der teuerste Aal Luuk Mas in der gesamten Geschichte des Ysyach wurde 2015 im Tschuraptschinski Rajon aufgestellt, für 20 Millionen Rubel [etwa 253.300 Euro – dek]. 2019 haben die Namzy etwa 13 Millionen [rund 165.000 Euro – dek] ausgegeben.

„Die denken wohl, wenn sie für ein Wahnsinnsgeld einen Aal Luuk Mas aufstellen, dann wird der gleich automatisch heilig“, höre ich die unzufriedene Stimme eines jungen Mannes in Nationaltracht hinter mir. Es hat sich schon eine lange Schlange gebildet, um vor dem heiligen Baum ein Foto zu machen.

Damit ein Wunsch in Erfüllung geht, muss man den Stamm von Aal Luk Mas berühren und um ihn herumgehen / Foto © Alexej Wassiljew

Die Besucher des Ysyach Oloncho warten auf den Beginn des Festes / Foto © Alexej WassiljewWegen der vielen Zuschauer kann man kaum sehen, was auf der Bühne vor sich geht. Außerdem ist die ganze Vorstellung auf Jakutisch. Mir kommt Sergej zu Hilfe. Er ist nach Namzy gekommen, um seiner Freundin auf der Bühne zuzuschauen, daher ist er mit dem Programm vertraut. „Wir sehen gleich einen Ausschnitt aus dem jakutischen Nationalepos Oloncho. Es geht um den Fürsten Mymach (Fürst der Namzy im 17. Jahrhundert, der eine entscheidende Rolle spielte bei der Eingliederung Jakutiens ins Russische Reich – Red. Zapovednik). Es geht um ihn, um die Verbindung des Menschen zur Natur, und – das ist das Wichtigste – um die Völkerfreundschaft.“

Die Ballerinas auf dem Ysyach stellen Schwäne dar – das Symbol der Namzy / Foto © Alexej WassiljewMehr als 300 Teilnehmer kamen allein aus Jakutsk auf das Ysyach Oloncho / Foto © Alexej Wassiljew

Vorbereitungen für den Auftritt / Foto © Alexej Wassiljew

Oloncho ist ein Epos über die Verbindung von Natur und Mensch. Diese Tänzerinnen stellen den Lauf des Flusses Lena dar / Foto © Alexej WassiljewDie Vorstellung geht mehr als zwei Stunden und findet ihren Höhepunkt im Algys. Das jakutische Wort bedeutet so viel wie „Segen, Gnade, Lobpreisung, Verheißung, Weihe“. Das Volk der Sacha sagt, dass man es nicht allein als „Segen“ übersetzen kann, da es im Jakutischen eine viel tiefere Bedeutung hat.

Das Algys wird von einem Mann gehalten, der zu den jakutischen Gottheiten beten kann und, das ist das Wichtigste, der weiß, wie man zu den Geistern spricht.

Der Algystschit besprenkelt Feuer und Erde mit Kumis [vergorene Stutenmilch], das hier als das irdische Bild des himmlischen Milchsees gilt / Foto © Alexej Wassiljew

Während die Gäste den Ossuochai tanzen, vollziehen die Algystschiten das Reinigungsritual / Foto © Alexej Wassiljew

Insgesamt haben die Organisatoren des Ysyach rund 70 Veranstaltungen auf den einzelnen Tjusjulge eingeplant. So werden die kleinen Plätze zwischen den Serge und den Urassy (die traditionelle Sommerbehausung der Jakuten – Red. Zapovednik) genannt. Jedes Ulus, jedes Ministerium oder Großunternehmen muss ein Tjusjulge auf dem Ysyach haben – das ist sehr wichtig fürs Image. 

Allein am ersten Tag sind mehr als 10.000 Besucher zum wichtigsten Fest Jakutiens angereist. Der Wald rund um das Gelände ist voller Menschen und Zelte, viele bleiben über Nacht.

„An Ysyach kann man alle Verwandten treffen, wir wohnen ja in unterschiedlichen Ulus, da kann man sich nicht so einfach treffen. Und für uns ist das das jakutische Neujahr. Selbst unsere Oma ist dabei, sie ist 85 Jahre alt, Opa ist ein Jahr jünger. Sie wären niemals zu Hause geblieben, obwohl es so heiß ist.“

In den geäumigen Urassy können die Gäste während der Feierlichkeiten entspannen / Foto ©  Alexej Wassilew

Pferderennen gehören auf einem Ysyach immer dazu / Foto ©  Alexej Wassilew

Während des Ysyachs finden traditionelle Sportwettkämpfe statt - zum Beispiel das „Stockziehen“ / Foto © Alexej WasiljewFür die Damen ist Ysyach nicht nur ein Fest, sondern ein Schaulaufen. Extra für das Fest nähen sie sich die Nationaltracht Chaladaaj, ein trapezförmiges Kleid. Ein traditioneller Chaladaaj bedeckt den ganzen Körper der Frau, vom Hals bis zu den Zehen und Handrücken. Nicht nur, weil eine jakutische Dame keusch auszusehen hat, der Stoff schützt auch vor den Mücken, die hier in Schwärmen sind.

Auf mich kommen vier elegante Damen um die 60 zu und bitten darum, sie zu fotografieren. Der goldene Chaladaaj einer der Damen schimmert in der Sonne: „Den Stoff habe ich in Katar gekauft, 100 Prozent Seide, extra angefertigt. Ich habe auch ein Accessoire“, sagt sie und zeigt ihr Täschchen über der Schulter.
 
„Und ich trage sehr ungewöhnlichen Schmuck“, nimmt die Dame im weißen Kleid das Gespräch auf und zeigt ein silbernes Kreuz an einer dicken Kette. „Das ist ein Ilin Kebiser (traditioneller jakutischer Brustschmuck – Red. Zapovednik), ein Familienstück. Schon meine Mutter und Großmutter haben ihn getragen, er ist von 1915. Und jetzt trage ich ihn an Ysyach.“

Heute werden solche Schmuckstücke nicht nur aus Silber, sondern auch aus Holz, Ton, Perlen und sogar aus Plastik hergestellt. Früher wog der Brautschmuck nicht weniger als 20 Kilogramm, heute wiegt er wegen des leichteren Materials selten mehr als 1,5 Kilo. Heute hängt auch der Preis vom Gewicht ab. Ein gewöhnlicher Chaladaaj aus dünner Baumwolle kostet ungefähr 20.000 Rubel [rund 250 Euro – dek] und Schmuck aus Nickel und Kupfer um die 3500 Rubel [rund 45 Euro – dek]. Wenn man ein Kleid aus Seide nähen lässt und Silberschmuck kauft, dann können es weit über 150.000 Rubel werden [rund 1900 Euro – dek] – es hängt alles vom Budget ab.
„Wenn man früher für Ysyach irgendwelche Kleider aus dünnem Baumwollstoff nähte, dann war das eine große Freude. Man zeigte sich damit, und es war nicht so heiß. Und heute! Was da nicht alles zur Schau getragen wird! Sofort ist klar, wer wieviel verdient“, fügt eine der Freundinnen hinzu. 
Die Damen bedanken sich fürs Foto und eilen weiter, ein Foto machen vor dem Aal Luuk Mas.

Frauen in einzigartigen Chaladaaj-Kleidern  / Foto © Jekaterina Karpuchina

Cafés mit traditioneller Küche gibt es auf dem Ysyach nur wenige. Statt Kumis trinken viele Cola / Foto © Alexej Wassiljew

Die winterliche Nationaltracht ist immer mit Pelz verziert / Foto © Alexej Wassiljew

Das Pferd ist für Jakuten ein Symbol für Wohlstand / Foto © Alexej WassiljewDer Höhepunkt des Ysyach ist das rituelle Treffen mit der Sonne. Am Himmel über Jakutien geht sie schon um 2.30 Uhr nachts auf. Schon den allerersten Sonnenstrahlen muss man die Hände entgegenstrecken, die Handflächen nach oben. Es ist eine sehr alte Tradition, deswegen ehren die Jakuten sie sehr, aber viele ziehen es vor, die Sonne zuhause zu begrüßen.

Am Ausgang treffe ich ein Pärchen. Die jungen Leute grüßen mich, dabei kennen wir uns nicht. „Wie gefällt euch das Fest?“, frage ich, weil man das so macht. Und bekomme eine untypische Antwort: „Wir sind gerade erst angekommen und haben noch gar nichts gesehen. Ganz ehrlich, wir sind sehr selten auf dem Ysyach, wir sind eine andere Generation, aber auch das Ysyach ist nicht mehr das, was es mal war. Heute ist es eher eine Show.“

Wir unterhalten uns noch kurz und verabschieden uns. Aber die Worte der jungen Frau gehen mir nicht aus dem Sinn und ich denke nach über den Sinn dessen, was da vor sich geht, und darüber, ob man Traditionen ganz ohne Veränderungen überhaupt bewahren kann. Aber irgendwann wird mir klar, dass das Wichtigste an dem Fest sich über die Jahre nicht geändert hat: die Atmosphäre der Freundschaft und des Wohlwollens. Sie ist es, nicht die Sonne, die wirklich positive Energie gibt. Schauen wir mal ob die reicht für den langen jakutischen Winter. Denn der Winter naht.

Nicht alle Gäste begrüßen die Sonne, nachts leert sich das Tal der Namzy / Foto © Alexej WassiljewAutorin: Jekaterina Karpuchina
Fotografie: Alexej Wassiljew, Jekaterina Karpuchina
Übersetzung: dekoder-Redaktion
veröffentlicht am 10.07.2020

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Gnose

Pionierlager Artek

Das Pionierlager Artek auf der Krim war der Inbegriff der glücklichen sowjetischen Kindheit. 1925 erst als Sanatorium für Tuberkulosevorsorge eröffnet, bestand das Lager nur aus einigen Zelten am Strand, einer Fahnenstange und einem Appellplatz. Bereits in den 30er Jahren wurde es ausgebaut und ist zum Traumland und Wunschziel vieler Generationen von Pionieren geworden. Nach dem Zerfall der UdSSR wurde Artek zum heiligen Gral der Sowjetnostalgie.

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Datscha

„Ganz Petersburg stand eines Morgens auf und fuhr auf die Datscha“, so die Klage des in der Hauptstadt zurückgebliebenen Helden aus Dostojewskis Erzählung Weiße Nächte.1 Die Datscha, das suburbane Sommerhaus der Russen, steht seit jeher für die kleine Flucht aus Stadt und Alltag. Ursprünglich eine „Landgabe“ des Zaren an den Adel, wird sie über die Jahrhunderte zu einem die Schichten übergreifenden Sehnsuchtsort. Erholung und Gartenbau gehen hier eine erfrischende Symbiose ein. Trotz oder gerade wegen ihrer Randlage steht die Datscha oft im Zentrum der großen Politik: Der sowjetische Diktator Stalin starb auf seiner Staats-Datscha; der von eben diesem Regime verfolgte Nobelpreisträger Boris Pasternak lebte im Moskauer Datschen-Vorort Peredelkino im inneren Exil.

Die Datscha steht seit jeher für die kleine Flucht aus Stadt und Alltag / Foto © Kommersant ArchivMit dem anbrechenden Sommer leeren sich die russischen Metropolen – das Stadtvolk verlässt seine Wohnungen und zieht für die nächsten Monate auf die Datscha, wie die typisch russischen Garten- oder Sommerfrische-Häuser heißen. Wer in der staubigen Stadt zurückbleiben muss, ist ein bemitleidenswerter Außenseiter, wie schon Dostojewskis Held bereits im 19. Jahrhundert feststellte.

Datscha als Modernisierungsprojekt

Die Datscha, ein Sommerhaus im Umfeld der großen Städte, ist eine ‚Erfindung‘ Peters des Großen. Der Zar-Reformer importierte sie, wie viele andere europäische Moden und Modernisierungsprojekte, aus dem europäischen Westen.

Der Begriff Datscha geht auf das russische Verb dawat (dt. geben) zurück und bezeichnet ursprünglich eine Landgabe des Zaren an den Adel. Peter der Große hatte bei seinen Reisen durch Europa die prächtigen adeligen Sommersitze sehen und schätzen gelernt. Nach diesem Vorbild wollte er im Umfeld der von ihm 1703 neu gegründeten Hauptstadt St. Petersburg vornehme Villen-Viertel schaffen, um auch während der Ferien des Hofs Zugang zu seinen Beratern zu haben und das Umfeld der aus dem Sumpfboden gestampften Metropole zu urbanisieren. 
Per Dekret verfügte er um das Jahr 1710 die Vergabe von gleich abgemessenen Grundstücken an den Adel, unter der Maßgabe dort auf eigene Kosten Sommerresidenzen zu errichten. 

Innerhalb weniger Jahre entstand so entlang der Magistrale, welche die Hauptstadt Petersburg mit der Sommerresidenz des Zaren in Peterhof verband, die erste Datschen-Siedlung der russischen Geschichte, die sogenannte Petershofer Perspektive.2

Im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden viele Datschen im Jugendstil oder in historisierenden Stilen / Foto © Muore ann/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

Nach diesem politisch-höfischen Gründungsakt erfuhren die Institution und die Bauform der Datscha im 19. Jahrhundert einen ersten Demokratisierungsschub. Neben dem Adel konnten sich nun die entstehenden Bürger- und Beamtenschichten einen Sommer auf der Datsche leisten, oftmals nicht in Eigenbesitz, sondern zur Miete. 

Der ersehnte Umzug in die Sommerfrische erwies sich dabei als durchaus beschwerlich, wurden die Häuser doch unmöbliert vermietet und musste der gesamte Hausstand per Kutsche oder – in Petersburg – per Schiff aufs Land gebracht werden.3 Erst der Anschluss der Sommerfrische-Vororte an die Eisenbahn brachte Transport-Erleichterung und eine „unglaubliche Vermehrung des Datschavolks“.4

Ort der geselligen Muße

Charakteristisch für die „Gattung“ ist diese Nähe zur Stadt, die es den Datschniki früher und heute erlaubt, falls nötig, zwischen Sommerfrische und Arbeit in der Stadt hin- und her zu pendeln. Im Unterschied zur „großen“ Urlaubsreise, beispielsweise in die beliebten Kurorte im Kaukasus oder auf der Krim, bewirkte dieser Halb-Abstand die spezifische Form der lockeren Geselligkeit im Austausch mit Freunden und Bekannten. Gerade als Kontakt-Zone zwischen Stadt und Land wird die Datscha ein Ort der geselligen Muße, des Lebens in der Natur (verbunden auch mit der didaktischen Vorstellung einer physischen Gesundung und moralischen Läuterung), des entstehenden Sports (insbesondere Krocket war beliebt) und der (Laien-)Kultur. 

Bestimmend für die Datscha ist auch ihre charakteristische Architektur, zumeist als ein- bis zweistöckiges Holzhaus mit geschnitzten Verzierungen, im ausgehenden 19. Jahrhundert oft im Jugendstil oder in historisierenden Stilen, mit verglasten Veranden, auf denen der Tee gereicht wurde, und Pavillons für romantische Rendezvous in den Gärten. Auf eine Heizung wurde hingegen fast immer verzichtet, war die Datscha doch ein auf die Sommerzeit begrenztes Asyl.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickeln sich auch die bis heute typischen Datschen-Vororte, die sich durch eine charakteristische Infrastruktur mit Bahnhof, Parks mit Tanzflächen, Vergnügungsstätten oder Badestellen auszeichnen. Zahlreiche Wissenschaftler, Künstler und Literaten suchten auf der Datscha nicht nur einen Rückzugs- und Inspirationsort, sondern machten die Datschen-Kolonien auch zu Treffpunkten der künstlerischen Bohème und Intelligenzija.

Belohnungssystem für politisches Wohlverhalten

Die Datscha als bereits etablierte Institution der russischen Kultur überlebte, wenn auch in modifizierter Form, den Epocheneinschnitt der Revolution. Vergleichbar mit anderen bürgerlich-zaristischen Einrichtungen des alten Regimes wurde sie an die Ideologie und Erfordernisse der neuen Ordnung angepasst. 

Per Dekret werden im Jahr 1922 Luxus-Datschen enteignet und als Erholungsheime, Sanatorien, Kinderheime oder angesichts der Wohnungsnot ganz einfach als Wohnhäuser genutzt. In eng definierten Grenzen blieb die Datscha als privater Ort und Privateigentum jedoch bestehen. Im Verlauf der sowjetischen Epoche wird sie aber immer stärker an staatliche Institutionen angebunden, auch als Teil des Belohnungssystems für politisches Wohlverhalten. Gewerkschaften, Fabriken und Kombinate oder Organisationen wie der Schriftstellerverband bauen eigene Datschen-Siedlungen, in denen ihre Mitglieder Häuser unentgeltlich oder zu einem geringen Mietpreis zur Verfügung gestellt bekommen.5

Die Datscha von Boris Pasternak. Hier lebte der in der Sowjetunion verfolgte Schriftsteller im inneren Exil / Foto © my-sedovo.narod.ru

Gleichzeitig wurde das scheinbar private Sommerhaus zu einem bevorzugten Aufenthaltsort der Nomenklatur und politischen Führung. Von Stalin über Chruschtschow bis Gorbatschow lebte und regierte die Polit-Prominenz in ihren Staatsdatschen (kasjonnyje Datschi). Für in Ungnade gefallene Politiker wie Chruschtschow wurde die Datscha zum unfreiwilligen Luxusgefängnis.6 Und Michail Gorbatschow sollte, so die Legende, während des August-Putsches 1991 auf seiner Staatsdatsche auf der Krim kaltgestellt werden.

Ressource für die Selbstversorgung versus Edel-Sommerfrische

Auf die politischen Reformen der Perestroika folgt in den 1990er Jahren die ökonomische Krise der Transformationszeit. Die Datscha wird von einem Ort der Erholung zu einer Ressource für die Selbstversorgung mit Lebensmitteln, ein Prozess, der bereits mit den Versorgungsengpässen der späten Breshnew-Zeit eingesetzt hatte.7 

Diese neue Funktion der Datscha wurde in Datschniki, einem der bekanntesten Lieder Sergej Schnurows, bespöttelt: Der in der Stadt lebende Arbeiter „klotzt bis zum Verrecken“, dann lässt er sich „volllaufen bis zum Erbrechen“ und träumt vom Sommer, wenn er wieder auf seine Datscha fahren und sich dort mit seiner Schaufel austoben kann8.

Mit dem beginnenden oligarchischen Wohlstand und der Glamour-Kultur der Putin-Jahre setzt in den Datscha-Vororten ein neuer Bau-Boom ein. An die Stelle der bescheidenen, wenn auch oftmals architektonisch liebevoll gestalteten Holzhäuser treten protzige Sommerpaläste aus Stein und Marmor, die sich hinter hohen Zäunen und privaten Wachen verschanzen. Diese postmodernen Prunk- und Glamour-Datschen schließen damit, so die Datscha-Chronistin Mariana Rumjanzewa, auf paradoxe Art an die ersten Luxus-Datschen unter Peter dem Großen an. Vergleichbar der Petershofer Perspektive als Macht-Horizontale formiert sich heuer an der Moskauer Ausfallsstraße Rubljowka eine neue Edel-Sommerfrische (bisweilen ganzjährig).9

Zwischen Schrebergarten und suburbia

Die Datscha ist, so ihr Erforscher und Historiker Stephen Lovell, gewissermaßen die russische Antwort auf den Prozess der Urbanisierung, zwischen deutschem Schrebergarten und amerikanischer suburbia

Über alle Epochen und Stufen ihrer Entwicklung hinweg ist sie dabei eines geblieben – der kleine Sehnsuchts- und Zufluchtsort in Stadtnähe, der informelle Kommunikation erlaubt und dabei anders als die berühmten „Moskauer Küchen“ nicht primär dem politischen Gespräch, sondern der Geselligkeit dient. Als solcher hat das russische Sommerhaus vielfach Eingang in die russische Literatur und Kultur, vom Theater bis zum Kino, gefunden. Marina Rumjanzewa stellt in ihrem Lesebuch zentrale Texte zum Thema vor: von Tschechows Kirschgarten, der einer Datschen-Siedlung Platz machen sollte, bis zu Majakowskis revolutionärem Rendezvous mit der Sonne auf einer Datschen-Veranda. Ideale Sommerlektüre für die in den Metropolen verwaisten Städter.


1.Dostoevskij, Fedor M.(1969): Weisse Nächte: Ein empfindsamer Roman: Aus den Erinnerungen eines Träumers, Stuttgart
2.Lovell, Stephen (2003): Summerfolk: A History of the Dacha, 1710–2000, Ithaca
3.Rumjanzewa, Marina (Hrsg.) (2009): Auf der Datscha: eine kleine Kulturgeschichte und ein Lesebuch, Zürich
4.Čechov, Anton (1985): Der Kirschgarten, in: Anton Tschechows Stücke, Frankfurt am Main
5.Fitzpatrick, Sheila (1999): Everyday Stalinism: Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, Oxford
6.Komsomolskaja Prawda: Sem’ let‘ dačnogo režima’ dlja Chruščeva 
7.Seit den 1960 Jahren verteilten der Staat und Großunternehmen unentgeltlich kleine Landstücke (400 bis 600 Quadratmeter), auf denen Sowjetbürger kleine Sommerhäuschen mit Gemüsegärten bauen konnten. Ende der 2000er Jahre besaßen circa 14 Millionen Familien, die in der Stadt wohnten, eine kleine Datscha. Vgl.: Nefedova, Tatjana (2012): Gorožane i dača
8.im Original chujačit': vulgär für „hart arbeiten/sich den Arsch aufreißen“
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