Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Philippe de Poulpiquet
Lilia fährt gemeinsam mit ihren Kumpels in den Schacht eines Kohlebergwerks in der Oblast Dnipropetrowsk ein. / Foto © Philippe de Poulpiquet
dekoder: Wie kommt eine junge Frau dazu, unter lauter Bergmännern in einer Kohlegrube zu arbeiten?
Philippe des Poulpiquet: Eigentlich verbietet das Gesetz in der Ukraine den Frauen die Arbeit in gesundheitsschädlichen Umgebungen, insbesondere unter Tage. Aber im März 2022 hat Präsident Wolodymyr Selensky dieses Verbot für die Zeit des Kriegsrechts per Dekret aufgehoben. Wenn die Männer in der Armee sind, muss jemand ihre Arbeit machen. Lilia hatte in einem Nagelstudio gearbeitet, bis sie auf Facebook eine Anzeige sah: „Frauen in die Bergwerke!“ Der Betreiber hat für Interessentinnen einen Besuch im Stollen organisiert, danach hat Lilia sich beworben.
Was hat sie dazu motiviert? War es Patriotismus?
Sie sagt, diese Arbeit sei ihr Beitrag im Kampf für ihre Heimat. Nicht nur, weil sie für einen Mann eingesprungen ist, der an der Front kämpft. Mit der Kohle, die dieses Bergwerk fördert, wird Wärme und Strom für die Menschen in der Ukraine erzeugt. Das sind wichtige Ressourcen in einer Zeit, in der Russland die Energieinfrastruktur des Landes zerstören will.
Wie gehen ihre männlichen Kollegen mit ihr um?
Sie war nicht die erste Frau in diesem Stollen. Außer ihr arbeitet noch etwa ein Dutzend Frauen dort. Sie baut auch selbst keine Kohle ab, sondern bedient eine Maschine. Trotzdem hätten viele Kumpel zunächst nicht verstanden, warum sie dort arbeitet, sagte sie mir.
Die ukrainische Gesellschaft ist immer noch sehr patriarchalisch geprägt. Nach der Vorstellung vieler ist der Platz einer Frau im Haushalt oder eben in einem Nagelstudio. Inzwischen hat Lilia sich mit einigen Bergleuten angefreundet. Manchmal ziehen sie sie auf, aber auf freundliche Weise.
Bringt der Krieg also mehr Gleichberechtigung?
In gewisser Weise schon. Anfangs hatte sich Lilia gemeldet, um etwas für ihr Land zu tun. Inzwischen schätzt sie die Vorzüge einer gut bezahlten Arbeitsstelle mit sozialer Absicherung. Die hatte sie vorher nicht. Lilia hat angefangen, an der Universität in Dnipro Bergbau zu studieren. Sie arbeitet jetzt Teilzeit im Bergwerk und studiert berufsbegleitend.
Was bedeutet ihr dieser Job?
Lilia legt immer noch Wert auf schön gemachte Nägel. Warum auch nicht? Aber die Arbeit ist wirklich hart und gefährlich. Gerade rücken die Russen auf Pokrowsk vor und nähern sich damit von Osten der Oblast Dnipropetrowsk. Sollte die Stadt fallen, müsste das Bergwerk aufgegeben werden. Es wäre zu gefährlich, 300 Meter unter der Erde zu arbeiten, wenn oben Bomben fallen und die Arbeiter:innen verschüttet werden könnten.
Letztlich bedrohen zwei Szenarien ihren Arbeitsplatz: dass sie vor den Russen fliehen muss. Oder dass nach einem Ende des Krieges das Dekret aufgehoben wird und Frauen nicht mehr länger im Bergbau arbeiten dürfen.
Philippe de Poulpiqet (geb. 1972) wurde für seine Reportagen aus Konfliktgebieten wie Afghanistan, Irak, Libyen und der Ukraine mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Grand Prix des quoitidiens nationaux (2011) und der Award of Excellence bei Pictures oft the Year International (2012). Seine Bilder wurden unter anderem beim internationalen Fotojournalismus-Festival Visa pour l’Image in Perpignan ausgestellt. Neben seiner Tätigkeit als Fotograf arbeitet er als Kameramann für Dokumentarfilme und hat mehrere Bücher veröffentlicht / Foto © Philippe de Poulpiquet
Foto: Philippe de Poulpiquet, 2024
Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
Interview: Julian Hans
Veröffentlicht am 01.07.2025