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Ein Donbass für Syrien?

In der vergangenen Woche standen Russland und die Türkei am Rande eines Krieges: 36 türkische Soldaten wurden in Nordsyrien Opfer einer großangelegten Offensive der von Moskau unterstützten Assad-Truppen. Die Türkei reagierte zunächst mit Gegenangriffen, eine Eskalation konnte jedoch vermieden werden.

Am kommenden Donnerstag, dem 5. März 2020, treffen sich nun Putin und Erdoğan in Moskau, um die Situation in der Region Idlib zu besprechen. Der türkische Präsident sagte, dass er sich von den Gesprächen eine Waffenruhe oder andere Lösungen erhoffe. Laut Militärexperten könne bei dem Treffen ein neues Abkommen geschlossen werden, dass das Sotschi-Memorandum vom September 2018 ersetzt. Dieses sah eine Stabilisierung der Region vor: Die Türkei verpflichtete sich darin unter anderem, die islamistischen Milizen von den gemäßigten Anti-Assad-Kräften abzuspalten. Die Assad-Regierung saß nicht mit am Tisch, sondern wurde über das Ergebnis und die Aufteilung der Einflusssphären zwischen Russland und der Türkei lediglich informiert.

Einen Vormarsch syrischer Truppen auf das von der Türkei beanspruchte Idlib sah das Sotschi-Memorandum dabei aber genauso wenig vor wie das zuvor beschlossene Astana-Abkommen. Da Russland die Truppen von Assad bei ihrem Vormarsch auf Idlib zumindest gewähren ließ und die Türkei es nicht schaffte, Anti-Assad-Kräfte aufzuspalten, betrachten manche Beobachter die bisherigen Abkommen zwischen den beiden Ländern als weitgehend wirkungslos.

Ein neuer Anlauf könnte darin bestehen, dass Russland der Türkei nun tatsächlich garantiert, dass die Region Idlib faktisch unter türkische Kontrolle kommt. In diesem Szenario des Politologen und Außenexperten Wladimir Frolow pfeift Russland Assad zurück und überlässt die Region weitgehend der Türkei. 
Warum sollte Russland seinen Verbündeten Assad aber im Stich lassen? Unter anderem, weil die Türkei in dem Konflikt sowieso am längeren Hebel sitzt und Russland sich kräftig verkalkuliert hat, meint Frolow auf Republic

Источник Republic

Die Türkei setzt derzeit bei ihrer Operation Frühlingsschild massenweise auf Kampfdrohnen, Kampfflieger, Boden-Boden-Systeme, Spezialeinsatzkräfte und ein begrenztes Bodenkontingent. Mit dem Beginn der Operation hat die Türkei ihre Entschlossenheit demonstriert, eigene existentielle Interessen in Idlib zu verteidigen. Innerhalb von drei Tagen hat sie der syrischen Armee und pro-iranischen Kräften erheblichen Schaden bei Kriegstechnik und Streitkräften zugefügt.

Assad kann, so hat sich gezeigt, die Region Idlib ohne massives militärisches Eingreifen Russlands und ohne Unterstützung des Iran nicht gänzlich unter seine Kontrolle bringen. Er muss dort stoppen, wo er gestoppt wurde. 

Die Türkei wiederum musste einsehen, dass sie allein durch Luftangriffe unter vorwiegendem Einsatz von Kampfdrohnen die syrischen Truppen nicht an die Linie des Sotschi-Memorandums von 2018 zurückdrängen kann. Die türkischen Verbündeten aus den Reihen der syrischen Opposition waren nicht schlagkräftiger als die syrische Armee. Für eine Vergrößerung des [türkisch] kontrollierten Gebiets hätte man mit einer ausreichend großen Einheit von Landstreitkräften einmarschieren müssen (aktuell sind dort etwa 4000 Personen) – dafür hätte Erdoğan jedoch weder innenpolitische noch internationale Unterstützung gehabt.

Damaskus war bestrebt, Idlib vollständig zu kontrollieren, um die Hoheit über das Gebiet wiederherzustellen, die Grenze [zur Türkei – dek] zu schließen und um die Bevölkerung, die dem syrischen Regime gegenüber nicht loyal ist, so weit wie möglich in die Türkei abzudrängen. Für Russland war es womöglich wichtig zu demonstrieren, dass es Damaskus darin unterstützt, die territoriale Souveränität im ganzen Land wiederzuerlangen. Außerdem bleibt die Aufgabe, die terroristischen Gruppierungen der HTS niederzuzwingen, um die eigenen Stützpunkte in Latakia endgültig vor terroristischen Drohnenangriffen abzusichern. Allerdings gab es auch Vermutungen, dass ein erheblicher Teil dieser Quadrokopter-Attacken Provokationen seitens alawitischer Pro-Assad-Gruppierungen waren, um Russland in die Operation in Idlib hineinzuziehen. Und Moskau in dieses Abenteuer hineinzuziehen – das ist Assad gelungen. 

Womit Moskau nicht gerechnet hatte

Womit Moskau nicht gerechnet hat, war die harte Reaktion der Türkei. Erdoğans Entscheidung, trotz der russischen Präsenz massiv militärische Gewalt gegen die syrische Armee einzusetzen, kam für Moskau unerwartet. Offenbar können wir sowohl über die ineffektive Arbeit unserer Agenten und des elektronischen Nachrichtendienstes in der Türkei sprechen, die die Absichten und die Entschlossenheit Ankaras nicht rechtzeitig erkannt haben, als auch über den übermäßigen Einfluss der syrischen Verbündeten auf die Einschätzungen des russischen Militärkommandos sowie die falsche Einschätzung der Situation durch die politische Führung des Landes. Auch wenn der Luftangriff vom 27. Februar, bei dem 36 türkische Soldaten getötet und mehr als 30 verwundet wurden, tatsächlich von syrischen Flugzeugen durchgeführt wurde (obwohl die Türken etwas anderes glauben und die syrische Luftwaffe bei Dunkelheit nicht fliegt), war es ein Signal an die Türkei, nicht die rote Linie zu überschreiten. Der Luftangriff hat das Ausmaß der militärischen Eskalation der Türkei nur noch verstärkt.

Und hier wird klar, dass die russische Operation in Syrien seit 2015 darauf ausgelegt ist, die syrische Opposition und die Terroristen zu bekämpfen, aber nicht einen großen Staat, geschweige denn ein NATO-Mitglied. 

Die Türkei hat mit dem Angriff auf die syrischen Truppen (unter gleichzeitiger Vermeidung eines Zusammenstoßes mit den russischen Luftstreitkräften) gezeigt, dass die russischen Streitkräfte in Syrien schlicht nicht ausreichen, um die Offensive einer mächtigen Armee und Luftwaffe zu verhindern. Die Türkei hat im syrischen Theater von Kriegshandlungen die absolute militärische Überlegenheit, und als Grenzland hat sie unbegrenzte Möglichkeiten zur Eskalationsdominanz.

Die russischen Kräfte in Syrien sind dagegen praktisch isoliert, die Hauptversorgungswege führen durch türkische Meerengen und Luftraum. Ankara hat gezeigt, dass der Sieg Russlands in Syrien und eine Nicht-Wiederholung von Afghanistan unter Mitwirkung der Türkei erreicht wurde, die sich weigerte, „ein zweites Pakistan“ zu werden, und sich stattdessen auf Moskaus Anerkennung ihrer begrenzten, aber grundlegenden Interessen in Nordsyrien verließ. Die Verpflichtung Moskaus, diese Interessen der Türkei zu respektieren, wurde durch die Operation in Idlib verletzt.
Eng abgesteckte Ziele in Syrien, die begrenzten Mittel für ihre Erreichung und die damit verbundenen Risiken sind seit 2015 die Schlüsselfaktoren für den russischen Erfolg. Oberstes Prinzip war es, Vorsicht walten zu lassen, wenn es darum ging, das Verhältnis zu Drittstaaten aufs Spiel zu setzen. 

Moskau war in den Konflikt eingetreten, um das Assad-Regime zu retten, um einen Präzedenzfall in der Bekämpfung von Farbrevolutionen zu schaffen, um terroristische Einheiten und die bewaffnete syrische Opposition maximal zu schwächen sowie um eine Basis für die Militärpräsenz in der Region zu schaffen. Diese Aufgaben hat es erfüllt.

Moskau hatte sich nie zur Aufgabe gemacht, die Kontrolle Assads über syrisches Territorium bis zum letzten Zentimeter wiederherzustellen – geschweige denn dazu, das syrische Regime in einem bewaffneten Konflikt mit einem anderen Staat und NATO-Mitglied zu verteidigen. So gesehen geht die aktive Beteiligung der russischen Streitkräfte an der Operation der syrischen Armee in Idlib „weit über die ursprünglich abgesteckten Ziele hinaus und übersteigt die ursprünglich eingegangenen Risiken“, wie der Kriegsberichterstatter Ilja Kramnik in seinem Telegram-Kanal schreibt.

Moskaus Dilemma

Moskaus Einlassen auf die syrische Operation in Idlib mit der starken militärischen Reaktion der Türkei, die die Kampffähigkeit der syrischen Streitkräfte untergrub, brachte Russland vor ein Dilemma: Es entweder selbst auf eine Eskalation der Kampfhandlungen anzulegen (was einer erheblichen Aufstockung der Truppen in Syrien bedurft hätte), indem man Flugzeuge und Luftabwehr auch gegen die türkische Armee einsetzt (man hätte türkische Drohnen abschießen und die kriegswichtige Infrastrukturen der Türken in Idlib und im syrischen Kurdistan bombardieren können – selbstverständlich ohne Schäden auf türkischem Territorium, was den Bündnisfall im Artikel 5 des Nordatlantikvertrags hätte auslösen können). Oder aber man hätte sich still und heimlich wegschleichen und die syrischen Verbündeten mit der Armee Erdoğans allein lassen können.

Klugerweise wurde die zweite Entscheidung getroffen (genauer gesagt, ein paar Tage lang wurde überhaupt nichts entschieden). Moskau hat sich bis zum Montag nicht in den Kriegsverlauf in Idlib eingemischt und so der türkischen Luftwaffe und Artillerie die Möglichkeit eingeräumt, der syrischen Armee, den Hisbollah-Einheiten und der militärischen Infrastruktur (einer Munitionsfabrik, ein paar Flugplätzen) erheblich zu schaden. Doch sich noch weiter zurückzuziehen und eine absolute Niederlage und Erniedrigung des syrischen Verbündeten zuzulassen, hätte dem Image und Status Russlands in der Region und in der Weltpolitik inakzeptablen Schaden zufügen können. Daher stimmte Putin einem Treffen mit Erdoğan in Moskau und einem neuen Abkommen über die Aufteilung Idlibs zu.

Die Schlüsselfrage über die Zukunft Idlibs bleibt aber weiterhin ungeklärt. Die Interessen Moskaus an guten Beziehungen zur Türkei (sowohl, was den wirtschaftlichen, als auch, was den militärstrategischen Bereich angeht) sind weit größer als alle Interessen Russlands an Syrien (diese sind eher bescheiden). In diesem Sinne ist es für Moskau sinnvoller, die türkischen Begehrlichkeiten zu stillen in Bezug auf die Sicherheitszone in Idlib. Die Verantwortung für einen weiteren Kampf gegen HTS/al-Nusra kann man Ankara überlassen.

Idlib muss nicht unbedingt komplett wieder unter die Kontrolle Assads kommen. Schließlich hat Assad einen Bürgerkrieg im eigenen Land entfesselt, dem mehr als 550.000 Menschen zum Opfer fielen und der weitere sechs Millionen Menschen zu Flüchtlingen machte. Dafür muss er aufkommen. Denjenigen Bevölkerungsteil, der gegenüber seinem Regime am stärksten oppositionell eingestellt ist, gewaltsam unter seine Macht und seine Repressionen zu zwingen, ist kontraproduktiv.

Idllib als syrisches Donbass?

Moskau hat einen starken diplomatischen Trumpf in petto – den in Russland erstellten Entwurf einer neuen syrischen Verfassung: Er sieht eine dezentrale Macht und die Autonomie mancher Regionen in Syrien vor. 2017 hat Assad so getan, als würde er die Vorschläge Moskaus nicht wahrnehmen. Nun ist der Moment gekommen, da seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden sollte.

Denn wenn das „Volk des Donbass” das Recht auf einen „Sonderstatus” innerhalb der Ukraine hat, warum kann das „Volk Idlibs” dann nicht Anspruch auf genau so einen Sonderstatus erheben, wo es doch weitaus mehr Grund hat, eine Zentralregierung zu fürchten (als alawitisch-schiitische religiöse Minderheit, die die sunnitische Mehrheit unterdrückt)? Warum ist die gewaltsame Wiederherstellung der Kontrolle über das Territorium und die Grenzen mit militärischen Mitteln schlecht für die Ukraine, aber gut für Syrien? Warum sollte man auf die Situation in Idlib und auch im syrischen Kurdistan nicht Arbeitsergebnisse nutzen, die im Rahmen der Minsker Abkommen für den Donbass erzielt wurden? Dort finden sich alle nötigen Regulierungs-Komponenten.
Der russischen Diplomatie würde es nicht schaden, größere Konsequenz bei der Anwendung von Schlüsselprinzipien des internationalen Rechts zu demonstrieren. Im Gegenteil, es würde Moskaus Verhandlungsposition sowohl im Donbass als auch in Syrien stärken.

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Zum ersten Mal treffen sich Wladimir Putin und sein ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selensky heute persönlich in Paris. Thema ist der Krieg im Osten der Ukraine, der trotz internationaler Friedensbemühungen seit April 2014 anhält. Er kostete bereits rund 13.000 Menschen das Leben. Steffen Halling zeichnet die Ereignisse nach.

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zweites Pakistan

Das militärische Eingreifen der Sowjetunion in Afghanistan dauerte von 1979 bis 1989 an und gilt für viele Beobachter als ergebnislos: Der Abzug hinterließ Afghanistan politisch und militärisch weitgehend ohne die angestrebte Ordnung. Im Afghanistankrieg stand Pakistan auf Seiten der USA und unterstützte damit indirekt die Mudschahedin, die gegen die sowjetischen Truppen kämpften.

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Grüne Männchen

Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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